Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 234.

Dienstag, den 3 Dezember.

22 Die Brüder Zemganno.

1907

zusammengekrümmten Finger seiner Hand auf einer vom ( Rachorud verboten.) Licht eines Seitenganges erhellten Wand tanzen ließ, zu feinem anderen Zweck, als um sich selbst, der allein dabei zugegen war, damit zu vergnügen, und dies geraume Zeit und in einer Weise, als gehorche er dabei nicht feinem bewußten Willen, sondern dem Zuge eines geheimen magnetischen Stromes, der Triebkraft einer wunderlichen Laune der

Bon Edmond de Goncourt .

Es gab und es gibt reizvolle und wunderliche Lichtspiele auf diesen raschen Bildern, in diesem beständigen Wechsel der Menschen, die das Gas bescheint, in diesem Königreich des Flittergoldes, der Borte und Treffe, der geschminkten Ge­fichter. Ueber das gefältelte Hemd des Equilibristen ergießt fich für Augenblicke der hinriefelnde Schimmer von Flittern, ber es zu einem Gewande der Kunst macht. Ein Bein in gewiffen Seidentrifots erscheint euch mit seinen Erhöhungen und Vertiefungen in dem Weiß und dem leisen Violett einer Rose, die nur auf einer Seite von der Sonne getroffen wird. In das von Helle umgebene Geficht eines Clowns legt der Ueberzug von Mehl die Reinheit, die Regelmäßigkeit und ben fast zerbrechlichen Schnitt eines Steingefichtes.

Natur.

Ohren weilte.

Abwesenheit und der Begeisterung, unter einem allmählichen Nach und nach dann, in einem Zustande gleichzeitig der Schwinden der Wirklichkeit um ihn her und einer Art von Einschlummern der Erinnerung an das Tagesleben in seinem Hirn, ähnlich jenem hohlen Kopf, aus dem an einen Löffel die Ideen eine nach der anderen wegschöpfen sieht, war für den Clown nichts mehr vorhanden als fein weißes Gesicht, denen seine Augen auf seinem Stostüm begegneten, und das dessen Bild ihm die Spiegel zurückwarfen, die Ungeheuer, denen feine Augen auf seinem Kostüm begegneten, und das Summen der diabolischen Musik feiner Violine, das in seinen Dieser seltsame, in feinen wechselvollen und heterogenen Dazu in jedem Moment das ungestüme Hinauseilen Empfindungen undefinierbare Zustand war etwas ungemein ober Zurüdfommen eines Pferdes mit im Winde flatternder Angenehmes für Nello, der, zur Seite seines Bruders, deffen Mähne, das die Gruppen, die Gespräche, die Vorbereitungen Stopf stets gesenkt war und der beständig mit einem Stäbchen zu Produktionen, das verliebte Flüstern und die Unterhaltung Holz im Boden zeichnete, sich ihm mit auf der Bruft ge­über hippologische Dinge durchkreuzt. Und immer und ohne freuzten Armen, den Kopf an die Mauer gelehnt hingab, eine Minute auszuseßen, hinflutend durch diesen Verbindungs- ein schwaches Lächeln auf dem weißen Pierrotgesicht, die Züge raum zwischen dem Vor- und dem Hinter den Kulissen, in in einer Art Berzückung, unbeweglich und nur zu bitten welchem sich das Birfuspersonal aufhält, durch diefes geöffnete fcheinend, daß man die schöne, heitere, wunderliche Illusion Tor, das alles ausströmt, was das equestrische und gymna- feines Birkusträumens nicht unterbreche. stische Theater in seinen Requisitenmagazinen und Lager­räumen birgt: hindurchflutend das Hinauspassieren und Burückkehren von Karren, Wagen, Deforationsstücken für die Nein, so muß das Ding nicht gemacht werden... Bantomimen, ungeheueren Fußbodenplatten, glatt wie die warte einmal... so wird es gehen... wenn Du dort an Oberfläche eines gefrorenen Sees, für die Tänze; Käfigen der Stelle bist, gebe ich Dir den Schwung mit einem Fuß­mit wilden Tieren, luftspringenden Clowns, hüpfenden Reite. tritt aufs Hinterteil... Du weißt, das macht Effeft... rinnen, denen man applaudiert, täppischen Bären in fo wird es ganz famos fein." schwankendem Aufrechtgehen, scheuen Hirschen, schrecklichen Der Clown, der diese Worte sprach, war nachdenklich mit Efeln, Trupps von wedelnden Budeln, hüpfenden Känguruha, dem Ersinnen des Verlaufes einer neuen fomischen Pro­Gruppen von Grimassen machenden Vierhändern, Bärchen duktion beschäftigt, welche von ihm und feinem Genossen aus. spielerischer junger Elephanten: bon einer ganzen zu den geführt werden sollte. Künsten menfchlicher Gewandtheit zufammengebrachten Boologie.

Im Stall, dem Hinter den Kulissen des Zirkus, ſtand Nello unter dem Einfluß einer ganz besonderen Empfin­Dung. Sobald er sich mit Weiß das Geficht einer Statue an­geschminkt, in welchem nichts Lebendes weiter lag als das sprechende Auge unter Lidern, die wie von der Kälte gerötet waren; sobald er seine pyramidenförmige Perrücke aufgefeßt und eines seiner von ihm selbst erdachten Kostüme angelegt hatte, auf deren zarter Seide er es liebte eine koloffale Spinne, eine Eule mit goldenen Augen, Züge kleiner glatter Fleder­mäuse und andere Tiere der Nacht und der Phantasie an bringen zu lassen, die sich von dem Stoff nur als ein dunkler Schatten, als eine düftere Silhouette abhoben: sobald der große Spiegel im Stall ihm nur erst wenige Male dieses Bild seines abendlichen anderen Selbst zurückgeworfen, begann gewissermaßen ein anderes Leben in ihm zu pulieren. Das Wesen des mehlgefärbten, grotest fostümierten Clowns be­feelte ein Ernst, der selbst seinen Farcen, wenn er eine solche ausführte, einen gewissen tiefsinnigen Charakter verlieh; der fröhliche Jünglings- Mutwille, wie durch ein unbekanntes Etwas plöglich gebannt, schien verschwunden. Seine Stimme flang nicht mehr wie sonst, fie war von einem leisen Anflug von Moll gefärbt, wie die Stimme, die aus tiefem Gemüt zu uns spricht. Seine Bewegungen wurden, ihm selbst ganz unbewußt und auch wenn er sich nicht in offener Szene befand, bie des Afrobaten, und selbst die gewöhnlichsten unwesent­Ichsten Berrichtungen führten feine Glieder unwillkürlich in crzentrischer Weise aus. Noch mehr, fogar in Handlungen fast wie des Somnambulismus oder der Halluzination erging er sich bisweilen: fleinen, von ihm gar nicht gewollten und ihm unbewußten Vornahmen, welche die Psychologen som bolische Bewegungen nennen. Er ertappte sich darauf, wie er eines Tages das Schattenbild der in bestimmter Weise!

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Er verfiel nach den geäußerten Worten in tiefes Stumm. sein. Er und sein Gefährte verharrten schweigfam, tief­finnig, in Gedanken verloren, welche fie abwechselnd durch

ein lebhaftes Krazen ihres Kopfes zu verschärfen luchten. Beide saßen in dem kleinen Café, in welchem sich die Artisten, wenn sie aus dem Birkus fommen, zusammenzu­finden pflegen: einem Café ohne besonderen Charakter, mit der weißen Täfelung, der bescheidenen Vergoldung, den schmalen Spiegeln eines Cafés des Boulevard du Temple . In einer Fensternische standen Mostrichtöpfchen, Büchsen mit Sardinen, eine kleine Terrine mit Gänseleberwurst, ein Sahnenkäse, Gruyèrekäse und Roquefort, und auf dem oberen Gesims eine Punschbowle umgeben von einem Aufbau von Bitronen. Ein netter fleiner Kellner ging zur Bedienung der Gäste ab und zu, in granatfarbiger Samtjade, eine große blaue Schürze mit Brustlag vor, seine welfe Serviette in dem Schürzenband hinten herabhängend wie ein weißer Schurz.

Nach kurzer Zeit wurde die Tür des Cafés aufgestoßen und die gesamten Clowns des Zirkus traten einer hinter dem anderen ein, in ihren Straßenfleidern, langfam schleifenden Schrittes wie beim Schlittschuhlaufen, mit jenem Vorschieben je der einen ganzen Körperseite auf den vorgesetzten Fuß und die Arme vorn vor den Schenkeln schlenkernd. Nello beschlos die Reihe, seine Beine bei jedem Schritt bis ans Ohr er. hebend und sie gleichsam mit einem gebieterischen Druck seiner flachen Hand wieder niederwerfend in spielender, gewandter drolliger Beweglichkeit.

Zwei englische Clowns machten sich an das Billard; zwei andere, neben denen Nello and Gianni Blat nahmen, for derten ein Dominospiel.

Ein alter Clown ohne bestimmte Nationalität, groß, dürr, knochig, raffte von den Tischen sämtliche Journale zu sammen, deren er habhaft werden konnte, und ließ sich dami abseits im Hintergrunde, fern von den anderen nieder.

( Fortiebuma folgt.)