£önn begannen die Brudev die Figuren und geometri- schen Linien zu studieren, an denen das in der Luft Heber- schlagen des Körpers in dem Buche erläutert war, und Gianni lieh Nello nach den aufgeführten konzentrischen Kreisen und den mit strengster Genauigkeit gegebenen Be- schreibungcn eine Menge veralteter Tricks ausführen: es niachte den Brüdern Spaß, zu ihrem Metier zu greifen und einmal ein Stündchen in der Weise zu arbeiten, wie die Ghmnastikcr vor mehr als zweihundert Jahren es taten. (Fortsetzung folgt.) Spaziergang. Von Stefan Großmann-Wien . Tic Leute halten den Herrn kaiserlichen Rat Reichenberger für Gottweiß was für einen Viveur oder Genützling. weil er sich auf der Straße hinter jedem schlanken Weibsbild umdreht. Er geht an jedem Nachmittag nach Bureauschluß(und der Herr kaiser- liche Rat schließt schon sehr früh am Nachmittag sein Bureau) langsam, behaglich, im Pelz oder im Sommcrjacket durch die be- lcbtesten Straßen. Zwei Stunden mindestens bummelt er so ganz ziellos durch die Stadt. Er ist durchdrungen davon, daß er diesen paar Stunden im Frcien seine lustigen roten Backen verdankt, die ihm ein ganz lebensfrohes Geficht geben, namentlich feit der Backen- bart vom Hellblonden ins Silberweiße übergeht. Ein so alter Spaziergänger fühlt sich auf der Straße gewissermaßen zu Hause. Die Kutscher grüßen Herrn Reichenberger, trotzdem der kaiserliche Rat noch nie«inen Mietwagen benutzt hat. Die Kokotten, die ihm als ebenso regelmäßigen Spaziergänger jeden Tag begegnen, lächeln ihn an, trotzdem er immer an ihnen vorübergegangen ist, freilich mit einem freundlichen Blick des Wohlgefallens für die jungen, ungeschminkten, nicht so grellen auch unter diese» Weibsbildern. An«ommcrtagcn stehen die Besitzer der Geschäftsläden gelang- weilt vor den Türen und sind sehr geehrt, wenn der Herr laiser- liche Rat im Vorbeigehen ein paar nette Worte an sie richtet. Dann fragt der Juwelier nach dem Befinden des Herrn Reichenberger selbst. Die zweite Frage gilt gewöhnlich dem ältesten Sohn des kaiscclichen Rate?, der als Militärarzt in Bosnien steht, die dritte Frage gilt dem jüngsten Herrn Reichenberger, dem, der heuer im Sommer die Matura bestanden hat. An den ersten lauen Frühlingstagen kommt es vor, daß die Spaziergänge de» Herrn kaiserlichen Rates drei und vier Stunden dauern. Einmal ist er im vorigen März auf der Straße mit einem blutjungen Putzmachcrmäoel, das eine enorm große Schachtel am mageren Arm hängen hatte, ins Gespräch gekommen und ist mit der amüsanten 5Ueincn bis nach Döbling gewandert. Di: Idioten und Philister meinen, daß der alte Herr so einem jungen Mädel allerhand ungehörige und unanständige Geschichten erzählt, um so sich und ihm die Zeit zu vertreiben. In Wirklichkeit stellt er nur geschickt ein oder die andere menschliche Frage. Man kommt unversehens ins Plaudern. Herr Reichenberger fragt gemütlich mit dem stillen Hunior, den nur gute alte Leute haben, was denn heute Mittag zu essen am Tisch gestauden sei. Ganz von selbst ergibt sich dann das Geständnis, daß Fleisch nur zweimal in der Woche des Putzmachermädels auf den Tisch kommt, weil sechs Ge- schivister noch da sind, viere noch in der Schule, die zwei größeren MädcIS schon in der Arbeit. Abends ist immer nur Butterbrot und höchstens, Wenns kalt ist, Tee dazu. Aber nach dem Nachtmahl, da sitzen alle um den Tisch herum, die siebe» Geschwister und der Vater(die Mutter ist meistens müde und schlafen gegangen) und dann liest der Gustav, der Bub', der in die Gewerbcschul' geht, oft vor. Entweder den Roman aus der Zeitung oder aus einem Buch, das er vom Verein hat. Manchmal, klagk das Putzmacher- mädcl, werden leider den ganzen Abend nur Witze gemacht. Der kaiserliche Rat geht daneben und hört dem frohen Kind zu. Wenn er abends auf der Straße stände und wie ein Gassen- junge durchs Fenster in dw Parterrewohnung hiueingucktc, wo die sieben Geschwister mit dem Vater nach dem Nachtmahl sitzen und über dumme Witze lachen, dann könnte er die Leute nicht deut- lichcr vor sich sehen als jetzt, während die schlanke Kleine schwätzt und schwätzt... Damals ist Herr Reichenberger bis nach Döbling mitmarschicrt, so viel Spaß hat ihm das sorglose Geplauder des Putzmacher - mädcls bereitet. Ein anderes Mal hat er auf der Straß: ein richtiges Onkelverhältnis mit einem sechsjährigen Jungen ange- sangen, der auS purer Ausgelassenheit den großen alten Herrn plötzlich von rückwärts angefaßt hatte, um ihn mit seinen Kinder- Händchen vorwärts zu schieben. Im ersten Moment hatte sich Herr Reichenberger zornig umgedreht, denn nichts ist ihm so ver- haßt als auf der Straße gestoßen oder gedrängt zu mierden. Da krabbelte der KnirPS aber schon ganz frech zwischen seinen Beinen. Die alte Frau, der der Bub entwischt war, entschuldigte sich viele Male:„Nein, so eine Keckheit. Wart' nur, Tandl, Du wirst cS zu Hause kriegen". Weil das ein bißchen drohend klang, nahm sich der kaiserliche Rat des Jungen an, holte ihn mit einem geschickten Griff aus dem Versteck im Pelz herauf, nahm den Jungen an der Hand und kam natürlich bald in ein ganz vertieftes Gespräch über die Dummheit der Lehrer, über die Güte von gebratenen Aepsekn und über die Schönheit von Glaskugeln. Ter Herr kaiserliche Rat hat dann mit dem Jungen zusammen in einem Lade» lichtblaue. grüngelbe und graurote Glaskugeln von verschiedener Größe aus- gesucht, die musterhast glatt geschlissen waren und in ihrer leuchtende» Vielfarbigkeit ganz wunderbar schnell über den Fuß- bode» rollten. Herr Reichenberger ist an diesem Abend um ein- einhalb Stunden später als sonst nach Hause gekommen. Abec die roten Backen in seinem frischen Greisengesicht waren an diese:» Abend noch fröhlicher rot. Heute abend hat den Herrn kaiserlichen Rat ein merkwürdig glühender Abcndhimmel verführt. Die Sonne war gesunken, aber sie färbte im Untergänge noch den Horizont. Ganz hell, beinahe zitronengelb im Osten, durchsichtig graublau im Westen, schimmerte ein dicht aneinandergefügtes Heer von flockigen Schäfchenwolle» im zartesten Orange mitten am Himmel. Aber immer wieder schnitten die klobigen Umrisse der Zinskaserncn das leuchtende Himmelöbild auseinander, dort, wo es am leuchtendsten war. Herr Reichenberger ging und ging, einer Lichtung entgegen, einem Ort zu, wo die Aussicht frei war. Er hatte eS eilig, denn er fürchtete, eS werde ganz Abend geworden sein, ehe er seinen vor- örtlichen Aussichtspunkt erreichen werde. DaS Zitronengelb am Himmel wurde schon dünner, das Graublau dichter und nächtlicher und die orangefarbenen Schäfchen wurden allmählich weih. Das ist ein Grund zur Eile. Aber als hätte der leuchtende Herbstabend alle Leute auf die Straße getrieben, alle Gassen waren voll mit Menschen und natürlich mit Leuten, die nur im Weg standen, die in festgefügten Gruppen die Wege versperrten oder. Arm in Arm, die Breite des Trottoiers besetzten. Freilich, man war schon in der Vorstadt, nach Feierabend. Niemals hat der Herr kaiserliche Rat so oft ausweichen müssen, niemals find so viel Menschen in ihn hineingeraten, niemals war ein so unangenehmes Gedränge wie an diesem Abend mit dem leuchtenden Untergang. Er erreichte den Aussichtspunkt nicht mehr. Es wäre zu spät geworden, er fühlte sich ein klein wenig matt und kehrte um. Wie Herr Reichenberger durch die Hauptstraße deS achtzehnten Bezirkes wanderte, da fiel es ihm auf, wie viel um ihn herum gelacht wurde. Er selber konnte die Ursache dieses freundlichen oder spöttischen Gelächters nicht sein, ihn schaute niemand an, seinetwegen drehten sich die Frauenzimmer nicht um, seinetwegen blieben sie nicht stehen, ihm sahen sie nicht nach. Sofort mußte erforscht werden, waö loö war. Und da entdeckte er plötzlich sechs Schritte vor sich... er war starr vor Staunen... seinen jüngsten Sohn, der, der im Sommer die Matura gemacht hatte. Arm in Arm mit einem Mädchen. Die Beiden gingen daher, wie nur ganz junge Menschen auf der Straße gehen können, total versunken in- einander, ohne eine Spur von Erinnerung, daß ihnen die ganze Welt zusah. Die Leute mußten wirklich stehen bleiben. Ter junge Kerl sprach und sprach in das siebzehnjährige Mädel hinein und das Mädel kicherte eine Zeitlang halblaut vor sich hin. bis sie mit einem klingenden Gelächter nicht länger haushalten konnte. Aber der Bursch(der übrigens die frischroten Backen seines Vaters hatte) faßte das Mädchen unterm Arm, ganz dicht unter der Schulter, an einer sehr innigen Stelle, und redete um so erhitzter auf sie los. Niemanden schaute das Mädcben an, ihre lachenden Augen versanken im Anblick des schlanken Jungen neben ihr... Die Weiber blieben stehen, wenn das Paar vorüberkam. Je älter die Weiber waren, desto unanständiger fanden sie diese... man kann's nicht anders nennen... diese nackte LiebeSprome- neide. Männer kamen vorbei und verzogen die Mäuler zu ganz infamen Gelächtern. Gassenjungen auf dem Fahrweg faßten sich unterm Arm, neigten einander parodistisch-zärtlich die Kopse zu, schlugen sie krachend aneinander und übertrieben schwatzend das intimste Getuschel. DaS Paar ging weiter durch das Gewühl und sah sich an. Der Herr kaiserliche Rat kam ganz nahe. Er konnte die bei aller Heiterkeit zitternd« Stimme seines Jungen hören, er konnte mitten im Lachen des Mädchens einen großen und ernsten Blick gewahren, der seinem werbenden Sohn galt. Herr Reichenberger blieb zurück, um keinen Preis hätte er hier horchen oder auch nur auffangen wollen, was hier leicht zu erhaschen war. Das Mädchen hatte jetzt ihren Arm aus seiner Hand lösen wollen. Da fing der Vater einen Blick des Sohnes auf, einen Blick aus so ernsten, so strahlenden, so flehentlichen Au�en und dann— ein kurzes Augenschließcn des Mädchens, ein gutiges bangcS Lidersenken... Der Arm des Mädchens blieb weiter in der Hand des Jünglings. Nichts als diesen Augenblick deS Lidersenkens hatte der Vater gesehen(vielleicht auch noch den schwebenden Schritt des Mädchen? wahrgenommen) und plötzlich rief es in ihm..Ja" zum Willen des«ohneS. Ein feierlicher Wunsch: regte sich in dem Vater. Etwas, das er zu sagen oder zu gebärden nie gewagt hatte, ein Segen... Ganz nah hält sich der Herr kaiserliche Rat zu dem jungen Paar. Tann treibt ihn sogleich wieder die Angst, zu nah zu sein, zurück, so daß er seine Kinder fast aus den Augen verliert. Bald ist er so froh gelaunt, daß er Lust bekommt, das Paar anzusprechen, dem lieben Mädchen freundlich in die Augen zu sehen und ihm zu sagen: Ich sage ja zu Euch, ja? ja? Im nächsten Moment fürchtet er'ich vor seiner blödsinnigen Gutmütigkeit, die dem Sohn viel-
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24 (5.12.1907) 236
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