Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Dr. 247.

85] Die

Freitag, den 20 Dezember.

( Nachdrud verboten.)

Die Brüder Zemganno.

Von Edmond de Goncourt  .

Nach einer geraumen Zeit, die er mit der Untersuchung zugebracht, lies der Chirurg Nellos zweites Bein, an dessen unterem Teil in dem aufgeschnittenen Trikot der Fuß kraftlos und in unrichtiger Lage hing, aus der Hand, richtete sich empor und sagte zu dem Direktor, der mit fragendem Blick bor ihm stand:

Ja, beide Beine sind gebrochen... und zwar ist am rechten Bein außer einem Bruch des Wadenbeins noch eine fractura comminuta, eine Bersplitterung, an der Basis des Schienbeins vorhanden.... Ich werde Ihnen sofort ein paar Beilen an mein Hospital geben.... Ich werde das Einrichten der Glieder selbst vornehmen... denn, der arme Junge.. feine Beine find sein Brot, wissen Sie!"

Mein Herr," sagte Gianni, der an der anderen Seite der Matraße kniete: es ist mein... mein wirflicher Bruder, und... und ich liebe ihn genug, um Ihnen jeden Breis zu zahlen... wie der reichste Mann... nach und nach.

"

Der Chirurg heftete seine großen, sanften, bedauernd blickenden Augen auf Gianni, die allmählich in das Ver­ständnis der Dinge und des Wesens der Personen vor ihm einzudringen schienen; er sah den verhaltenen Schmerz und die tiefe Verzweiflung dieses Mannes, der in dem Flitter­staat und Tant seines Roftüms jetzt ein trauriges Bild ab­gab und fragte ihn:

"

Wo wohnen Sie?"

" Ach, weit von hier, mein Herr!"

-

Aber wo das ist es, was ich Sie frage," äußerte der Chirurg fast grob.

-

-

Run gut," fuhr er fort, als Gianni ihm seine Adresse gegeben. Ich habe heut abend noch einen Besuch im Faubourg Saint- Honoré zu machen. Von dort werde ich zu Ihnen kommen um Mitternacht bin ich bei Ihnen.. forgen Sie für Brettchen zu Schienen, Bandagen, Schnur... ber erste beste Apotheker wird Ihnen sagen, was nötig ist. Und es ist hier wohl irgendwo ein Tragforb vorhanden das sollte doch zu den Requisiten solchen Etablissements ge­hören... lassen Sie einen Tragforb bringen, der Verletzte wird darin weniger bei dem Transport leiden."

Der Chirurg leitete die Placierung des jungen Clowns in dem Tragforb, sorgte durch jede Vorsichtsmaßregel für eine gesicherte, feste Lage des an zwei Stellen gebrochenen Beines, legte selbst die verlegten Glieder zurecht und sagte tröstend zu Nello: Courage, mein Junge, Mutin zwei Stunden bin ich bei Ihnen!"

Gianni, von dem Gefühl unsäglichster Dankbarkeit be­wegt, beugte sich auf die Hand des Chirurgen nieder und suchte sie zu küssen.

Auf dem Transport durch die Nacht dahin, an den Pasjanten vorüber, die sich umwandten und ihnen mit den Augen folgten; den weiten Weg entlang vom Zirkus nach den Ternes, schritt Gianni neben seinem Bruder in jener auto­matischen, starren Weise her, welche bei Tage in den Straßen von Paris   an dem verstörten Wesen dessen zu beobachten ist, Der die Tragbahre eines Kranken auf dem Wege zu dem Hospital begleitet.

Nello wurde in sein kleines Zimmer hinaufgetragen und der Chirurg erschien fast in dem Moment, wo Gianni und die beiden Träger aus dem Zirkus ihn auf sein Bett nieder­legten.

Die Einrichtung der verletzten Glieder war furchtbar schmerzhaft. Das doppelt gebrochene Bein mußte gewaltsam ausgereckt werden, um die Bruchenden der Knochen, die sich leicht übereinander geschoben hatten, ihre richtige Lage wieder einnehmen zu lassen. Gianni mußte einen Nachbar zur Hülfeleistung wecken und man begann zu zweien an dem Bein zu ziehen.

1907

Ermutigung zuzurufen und ihm zu sagen schienen, daß es nicht fürchten möge, ihm den Schmerz zuzufügen.

Als endlich die Knochenstücke des Schienbeins wieder in ihre Lage gebracht, die Schienen angelegt waren und man mit dem Bandagieren begonnen, da überkam den starken, wenig empfindsamen Gianni, der bis dahin widerstanden, eine plögliche zitternde Schwäche, wie man von Leuten des Sol datenstandes, die Reihen von Schlachtfeldern gesehen, erzählt, daß sie eine Ohnmachtsanwandlung bekamen beim Anblick einer Schüssel voll Blut, das man ihrer Frau bei einer Schwangerschaft entzogen.

*

Das Anlegen des Verbandes war beendigt, der Chirurg gegangen, ein Eimer Wasser oberhalb des Bettes angebracht, der tropfenweis Kühlung auf die franfen Glieder fallen ließ. Nellos erstes Wort, als eine Minderung der Schmerzen eingetreten, war:

,, Sag doch, Gianni, was meint, der Arzt, wie lange es dauern wird?"

..

Wirklich, er hat nichts gesagt ich weiß nicht... aber, warte einmal... ich glaube, als in Middlesborough der große Adams Du erinnerst Dich wohl... das Bein gebrochen hatte. fechs Wochen, glaube ich, währte es... So lange?"

Nun sieh, Du mußt Dich jest nicht damit beschäftigen.< Ich habe Durst... gib mir zu trinken."

Es stellte sich jetzt bei dem Kranken ein Fieber ein, das bald feinen ganzen Störper glühen ließ und im Verlauf dessen sich den herben Schmerzen der Verlegungen noch andere, oft beinahe unerträgliche Empfindungen hinzugesellten: frampf­artige, jähe Anfälle, welche es ihm erscheinen ließen, als sei ein plöglicher neuer Bruch in den gebrochenen Gliedern ein­getreten; die Belästigung ferner durch das bloße Ruhen der dersen auf den Kissen, das in der Länge der Zeit auf Fleischy und Nerven einen Eindrud macht, wie das bohrende Drücken eines harten Körpers; ein unerträgliches Gefühl der Kälte in den Füßen endlich, das durch das fortwährende Herab­tropfen des Wassers hervorgerufen wird. Das Fieber und diese neuen Leiden, die sich allabendlich zu einer ganz be­sondern Intensität steigerten, beraubten Nello eine Woche hindurch jegliche Nacht des Schlafes.

Auf die schlaflosen Nächte folgte eine Müdigkeit, in des Nello am Tage einige Stunden schlief. Dann saß Gianni an feinem Bett und bewachte den Schlummer seines Bruders; allein bald stiegen ihm aus der hülflosen Unbeweglichkeit dieser gebrochenen Beine, dem schmerzvollen Buden in dem Geficht des Schlafenden, den unbewußten Slagelauten, die diesem Munde entflohen, der im Wachen sie nicht verriet, bald stiegen von diesem Leidenslager stumme, herbe Vorwürfe in Giannis Innerem auf, der sich dann rubelos von seinem Stuhl erhob, auf den Fußspißen zur Tür schritt, leise seinen Hut nahm und hinaus eilte, eine Frau aus der Melkerei bittend, während seiner Abwesenheit über seinen Bruder zu wachen.

Ohne zu wissen, wohin er ging, fand er sich stets bald im Bois de Boulogne  , das nahe seiner Wohnung gelegen war, und wo er, die großen Avenüen fliehend, von denen ihn das Vergnügen, das Glück der heiter dort Promenierenden hin. wegscheuchte, sich in die Einsamkeit irgend einer entlegenen, leeren Allee vergrub.

Dort, erregt von dem rasch zurückgelegten Wege, lieh er den Gefühlen seines Schmerzes laute Worte, die wie eir halb unterdrücktes Aufschreien klangen, in welchem ein großes und tiefes Seelenleiden sich gedrungen fühlt aus einer belasteten Brust hervorzubrechen.

Oh, über meine Verrüdtheit!... Wiel hätten wir nicht hübsch bleiben können, was wir waren... warum denn etwas anderes haben wollen!... Als ob es notwendig wäre, daß von einem Sprung geredet wird, den bisher noch niemand gemacht und den wir, wir gemacht haben!... Ah, dieses Elend!... Und wer ist es, der es über ihn gebracht? Nello verriet durch nichts als frampfbafte Zuckungen Sch, ich bin es, ich allein... denn er... er hatte ja gar nicht des Gesichts, was er fitt, und seine Blicke richteten sich diesen verfluchten Wunsch, von sich reden zu machen unter dem grausamen Schmerz der Operation immer wieder nein doch, nein!... Und versteht sich, wenn der arme Junge zärtlich auf den tödlich bleichen Bruder, dem sie Worte deri nicht wollte... dann war ich, ich war es, der zu ihm sagte: