HlnterhaltMgsblatt des Vorwärts Nr.!0. Mittwoch c>en 15 Januar. 1908 (Nachdl'uck verboien.) io] Schilf und Sd�latnm. Roman von SJiccnte B la S co Jban ez. Zn Ansang war Tonet von dieser Jagd begeistert, aber das Vergnügen schwand nach und nach, um einer Empfindung der Sklaverei Platz zu machen: er begann den See zu hassen und betrachtete sehnsüchtig die kleinen weißen Häuser von Palmar, die sich von den dunklen Linien des Gestrüpps ab- hoben. Neiderfüllt erinnerte er sich an seine ersten Jahre, da er keine andere Verpflichtung hatte, als zur Schule zu gehen und sich in den Dorfstraßen herumtrieb, während die Nach- barinnen seiner Mutter Komplimente machten, daß sie ein so niedliches Kind hatte. Damals war er Herr seines Lebens. Seine kranke Mutter sprach zu ihm mit blassem Lächeln, entschuldigte alle seine dummen Streiche, und die Borda ertrug sie mit der Sanftheit des untergeordneten Wesens, das den Stärkeren bewundert. Die ganze Kinderschar, die zwischen den Hüttem herum» wimmelte, erkannte ihn als ihren Häuptling an, und all' liefen sie zusammen den Enten nach, die unter den Protesten der Weiber schreiend entflohen. Der Bruch mit seinem Großvater war das Zeichen der Rückkehr zur alten Ruhe. Er würde Palmar nicht mehr vor Tagesanbruch verlassen, um bis zur Nacht auf dem See zu bleiben. Der ganze Tag gehörte ihm jetzt in dem Dorfe, wo ani Tage nur der Pfarrer im Psarrhause, der Lehrer in der Schule und der Brigadier der 5iarabiniers zuriickblieb, der seinen stolzen Schnurrbart und seine alkoholglänzende Nase an den Usern des Kanals spazieren führte, während die Frauen vor den Türen saßen, die Netze flickten und die leere Straße der kleinen Kindcrmcute auf Gnade und Ungnade iioerlicßen. Als er von der Arbeit befreit war. knüpfte Tonet seine alten Freundschaften wieder an. Er hatte zwei ganz intime Freunde in den Nachbarhüttcn, Neleta und Sangorena. Die kleine Neleta hatte keinen Vater. Ihre Mutter, die auf dem Markte der Stadt Aaale verkaufte, lud ihre Körbe auf die gewöhnliche große Barke, die man den„Aalwagcn" nannte..Sic kam jeden Nachmittag nach Palmar zurück: ihre übermäßige Fettleibigkeit hinderte sie nicht, täglich nach der Stadt zu wandern und ebensowenig, sich auf dem Fisch- markte zu zanken und ihre Ware zu verhandeln. Die arme Frau legte sich vor Anbruch der Dunkelheit nieder, um beim Schein der Sterne zu erwachen, und dieses ungewöhnliche Leben gestattete ihr nicht, sich mit der Erziehung ihrer Tochter zu beschäftigen. Diese wuchs auf, ohne daß sich jemand anders als die Nachbarinnen um sie kümmerte, und namcnt- lich Tonets Mutter, die ihr oft zu essen gab und sie wie eine zweite Tochter behandelte. Doch sie war weit weniger fügsam, als die Vorda, und begleitete lieber Tonet auf seinen Streif- zügen, als daß sie stundenlang sitzen blieb, um die verschieden» artigen Netzarbciten zu lernen. Sangonera trug denselben Spitznamen wie sein Vater, der der berühmteste Tlimkenbold der ganzen Gegend war,— ein kleiner, alter Mann, der seit zahlreichen Jahren vom Alkohol nie ausgetrocknet schien. Als er Wit'.vcr geworden war und kein anderes Kind als den kleinen Sangonera hatre, überließ er sich dem Trünke, lind wer ihn kannte, verglich ihn mit einem Blutegel: denn er suchte die Flüssigkeit mit. derselben Gier wie diese Tiere: daher der Spitzname, den man ihn beigelegt hatte. Wochenlang verschwand er ans Palmar. Von Zeit zu Zeit erfuhr man. daß er durch die Dörfer des Festlandes vaga- bundierte, wo er die reichen Pächter von Catarroja und Masamasa um Almosen anbettelte. Seinen Rausch schlief er. dann immer in den Dreschtennen anS. Wenn er lange Zeit! in Palmar blieb, wurden die in den Kanälen ausgespannten Fischbeutel in der Nacht gestohlen: die Aale verschwanden aus ihren Behältern, bevor ihre berechtigten Eigentümer� kamen, und mehr als eine alte Frau stieß beim Zählen ihrer Enten einen Schrei aus, wenn sie bemerkte, daß ihr eine fehlte. Der Scekarabinier busictc dann heftig und blickte den alten Sangonera scharf an. als wolle er ihm mit seinem dicken Schnurrbart in die Augen stellen: doch der Trunken- hold protestierte, rief das Zeugnis der Heiligen an, denn bessere Bürgen für seine Unschuld fand er nicht.„Das war reine Bosheit von den Leuten, die ihn zugrunde richten wollten, als wäre sein Elend nicht schon groß genug, denn er bewohnte die schmutzigste Hütte im ganzen Dorfe." llnd um den stolzen Repräsentanten des Vertreters des Gesetzes zu be- ruhigen, den man oft an seiner Seite hatte trinken sehen, ob- wobt er außerhalb der Schenke niemand erkannte, trat er wieder seine Reise nach dem anderen Ufer von Palmar an und erschien erst wieder einige Wochen später. Sein Sohn weigerte sich, ihn bei diesen Streifziigen zu begleiten. In einer Hundehütte geboren, in die nie ein Stück- che» Brot gekommen war. mußte er schon in seiner zartesten Jugend aus die Eroberung der Nahrung bedacht sein, und anstatt seinem Vater zu folgen, hatte er nur den einen Ge- danken: ihn zn fliehen, um nicht das noch mit ihm zu teilen, was er sich auf eigene Faust verschaffte. Wenn die Fischer sich zn Tische setzten, sahen sie vor der Tür ihrer Hütte einen melancholischen Schatten vorüber- streichen, der schließlich mit gesenktem Haupte wie ein junger, zum Angriff sich anschickender Stier an einem Türflügel stehen blieb. Das tvar Sangonera, der mit einem heuch- lerischen Ausdruck voll Verlegenheit und Feigheit seinen Hunger herunterwürgte, während aus seinen gierigen Auge» der brutale Wunsch blitzte, sich alles das anzueignen, was er auf dem Tische sah. Sein Erscheinen brachte auf die Familien stets ihre Wir- kung hervor. Der arme Junge! Im Fluge einen halb abge- nagten Hühncrknochen, ein Stück Schlei oder eine trockene Brotkruste auffangend, schleppte er seinen nie satten Leib von Tür zu Tür. Wenn er die Hunde lange bellen hörte und sie dann plötzlich nach den Schenken von Palmar zulaufen sab. dann lief Sangonera selbst, als verfolge er mit ihnen ein und das- selbe Ziel. Sie liefen zu den Jägern, die ihre Mahlzeit zu- bereiteten, zu den Leuten auS Valencia , die ihr.Kaninchen» ragout aßen. Wenn die an den kleinen Tischen der Schenke sitzenden Fremden sich nur mit großer Mühe die Gefräßigkeit der allzu vertraulichen Hunde zu erwehren vermochten, dann half ihnen der zerlumpte Junge, der mit wahrhaft heiligem Eifer die zudringlichen Hunde fortjagte und sich schließlich zum Herrn aller Ueberrcste der Küche machte. Ein Karabinier hatte ihm eine alte Dienstmütze geschenkt, der Dorfalguazil die Hosen eines alten Jägers, der in einem Graben ertrunken war, und seine stets nackten Füße waren ebenso stark, als seine müßigen Hände schwach waren. Der schmutzige, hungrige Sangonera, der sich jeden Augen- blick wütend kratzte, erfreute sich eines großen Ansehens bei den Kindern. Tonet war stärker und hätte ihn leicht ge- prügelt, doch er erkannte ihn als Herrn an und folgte allen seinen Befehlen. Er konnte eben seinen Lebensunterhalt ohne Hülfe eines anderen erwerben, und darum übte er auf die Kinder einen gewissen Nimbus aus. Diese bewunderten und beneideten ihn gleichzeitig, daß er ohne Furcht vor väterlichen Zücklligungcn lebte und dabei nicht die geringste Verpflichtung zu erfüllen hatte. Andererseits zog sie seine Pfiffigkeit an. und die Jungen, die zu Hause wegen des geringsten Fehltritts tüchtige Prügel erhielten, kamen sich männlicher vor, daß sie diesen Taugenichts begleiten durften. Er lebte in erklärtem Kriege mit den Bewohnern der Luft, die weit einfacher und müheloser zu erobern waren als . die des WasscrS. Er jagte mit äußerster Geschicklichkeit die MoriSguen genannten Sperlinge, von denen es im Albufera wimnlelt und die die Landleutc»oie die Pest fürchten, weil sie einen großen Teil der Reisernte verschlingen. Der beste Zeit» Punkt für seine Jagden war der Sommer, wo es einen Ueber- sluß an Fumarelleu gab, kleinen Scemöwcn, die er mit einem * Der Enkel des Onkel Paloma half ihm bei dieser Arbeit. Sie betrieben das Geschäft halbpart, wie Tonet ernsthaft sagte, und die beiden Burscher lagen so stundenlang auf dem An- stand, zagen ihre Netze ein und fingen die unklugen kleinen ' Vögel. Wenn sie einen tüchtigen Posten gefangen hatten, i schlug Sangonera, ein kühner Wanderer, den Weg nach Valen-
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25 (15.1.1908) 10
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