»Was w'ste?" fragte Tante RSscken. Zum ersten Male seit Jahren hatte Onkel David den Mut. sie reden zu lassen sie ruhig reden zu lasten. Zum ersten Male seit einem Menschenalter ging er seinem eigenen Willen nach. Er der- ließ daS Zimmer, ging hinunter, öffnete die Haustür und pfiff, pfiff. Und dann erklang durch das hohle Treppenhaus seine Stimme: »Mädel, möcht'S De was verdienen. Mädel? Ja? Dann putz' Der eben de Füfi' und komm' mal herauf I" Fast unbörbar kam sie die Treppe herauf: Unten schon hatte sie, UM den Läuser nicht zu beschmutzen ihre Schübe ausgezogen. Einen Augenblick befanden sich die drei Menschen in den mild- wärmenden Strahlen des Ofens, der Mann, die Frait, die Dirne. Einen Augenblick übergoß sein purpurner Schein ihre Gesichter mit blühender Farbe. Zünd' uns. bitte, de Lamp' an," sagte Onkel David:»Da liegen de Streichhölzer"... Die Sireichhölzer fuhren kratzend am Holz entlang eine schmutzig bleiche Frauenband bewegte sich nach dem Gashahn die Flanime puffte ins Glas, die Gesichter grell weiß beleuchtend. ..Dank' schön." sagte Onkel,»und nu' blas' uns auch, bitte, die Pctroleumflamme aus...." Schweigend, verständnislos, mit mechanischem Tun. beugte die Dirne ihre Lipven zu dem Kocher herab, pustete die Flamme aus, und ihr lauer Qualm durchzog das Zimmer. Tante Röschen ließ die Rouleaus herunter Onkel David blickte nervös, ohne weiteres Nachsinnen, in sein Portemonnaie mid schwankte zwischen zwanzig und fünfzig Pfennig. Aber froh über das Licht auf dem Tische, die Gläser, die Teller, daS frische Brot und voll Mitleid mit dem verlebten Antlitz der Dirne, einem fahlbraunen, vom Trunk aufgedunsenen Antlitz unter verworrenem Haar, worin nur noch ein einziges zerschmelzendes Schneeflöckchen silbern blitzte, hielt er ihr seine Börse hin, daß sie sich mit ihrer feuchten Hand die halbe Mark daraus lange. Danke Ihnen," sprach sie beglückt. Haben Se schon gegesten?" fragte Tante Röschen. Nein," sprach blöde lächelnd die Dirne. Da", sprach Tante,dann können Se das nehmen." AuS einem Schranke nahm sie das kalte Kotelett, da? für das Mädchen bestimmt gewesen war, und einige resolute Butterbrote. Gott   soll Sie segnen", stotterte die Dirne verblüfft. Keine zehn Sekunden später schlug die Haustür zu, füllte Tante RöSchen die Suppe in die Terrine... und zog die Dirne weiter auf die Suche. Staub-, Scblag- und Sislawmen. Das in mehr als einer Hinsicht merkwürdige Lawinenunglück, daS sich am Scbalttage dieses Jahres im Ober-Wallis   ereignet und eine ungewöhnlich große Zahl von Opfern an Menscbenleben gefordert hat, wird gewiß in jedem Alpinisten eindrucksvolle Erinnerungen wachrufen. Bei dem heutigen Stande der Erschließung der Alpen  kann auch der Nichtalpinist des großartigen Schauspiels einer Lawine leicht teilhast werden, denn er braucht zu diesem Zweck nicht mehr als einige hundert Schritte zu Fuß zu geben. Man steige bei- spielSwcise in Berlin   in die Eisenbahn, fährt bis Jnterlaken, steigt dort nach Lauterbrunn   um, an diesem Ort endlich noch einmal in die Bahn nach der Kleinen Säieidegg, verläßt auf der Wengernalp den Zug, setzt sich auf der Terraste des behaglichen Gasthauses in einen be- quemen Stuhl und wartet ab, bis sich auf dem ungeheuren ViS-a-viS des Jungfrau- Absturzes eine Lawine ablöst. In der Regel wird man nicht lange zu warten haben und wem das Glück einigermaßen hold ist, kann bei günstiger Jahreszeit bei einem Aufenthalt von wenigen Stunden reichlich ein halbes Dutzend starker Lawinen innerhalb dieses unvergleichlichen Ausschnittes des Hochgebirges zu Tal donnern sehen und hören. Wer einmal Zeuge einer wirklich großen Lawine gewesen ist, inuß schon recht stumpfe Sinne oder ein schlechtes Gedächtnis Hachen, wenn er diesen Eindruck jemals in seinem Leben wieder vergißt. Aber die Lawinen sind von sehr verschiedener Art und ihre GSgen- schaften und Wirkungen sind, wie schon angedeutet wurde, wesentlich von der Jahreszeit oder, wenn man sich noch genauer ausdrücken will, von den Schnee- und Tcmperaturverhältnisten abhängig. Außerdem ist selbstverständlich die Gestalt und Höhe der Gehänge, auf denen sich eine Lawine bildet, von maßgebendem Einfluß auf ihre EntWickelung. Bei der Katastrophe im Lötschental   ist be- sonders hervorgehoben worden, daß die dort niedergegangenen Schncemassen eine Staublawine dargestellt haben. Wie der Name besagt, bestehen diese Lawinen aus Schneestaub, und nicht aus großen zusammengeballten Massen. Daraus ist alsbald zu folgern, daß Staublawinen weniger gefährlich zu sein Pflegen als andere, weil sie gleichsam als eine riesenhafte Wolke niedergehen und nicht als eine kompakte Masse. Dadurch wird bei den Sraub- law inen sowohl die Gewalt des Auffchlags auf den Talboden wie auch die geflirchtete Wirkung des hervorgerufenen Luftdruckes geringer. Im Lötschental   müssen nun unglücklicherweise besondere Verhältnisse obgewaltet haben, die die Entstehung eines so schweren Unglücks ermöglichten. Von welcher Art diese ungewöhn- lichen Bedingungen gewesen sind, Ivird erst nach genauerer Untersuchung festgestellt werden können. Der Schauplatz der Katastrophe, für den der Raine Goppenstein(nicht Göppen« steinj angegeben worden ist, liegt noch im unteren Abschnitt deS vom Löffch-Gletscher berabkommenden und bei Gornpel ins Rbonetal mündenden LötschentalS. Der Talboden befindet sich bei Goppen- stein in einer Meereshöhe von 1240 Meter. Die Rücken, die daS Tal auf der westliwen Seite begleiten, erheben sich nach den besten Schweizer   Spezialkarlen bis zu etwa 2500 Meter, während auf der gegenüberliegenden östlichen Seite die Strahlhörner und das Kastler- dorn 30003300 Meter ziemlich steil auffteigen. Obgleich nähere An- gaben darüber nicht vorliegen, läßt sich annehmen, daß die Lawine von dieser östlichen Talseite niedergegangen ist, und ein Studium der Karle macht e? noch weiter wahrscheinlich, daß der weit inS Tal vorgestreckte Ausläufer des KastlerhornS, der mit großer Steile gerade den Häufen, von Goppenstein gegenüber ins Tal abfällt, die Lawinenbahn abgegeben hat. Die Vernichtimg der beiden Häuser, die für die Arbeiten des Lötschbergtunnels dort errichtet worden find, ist nach den Berichten nicht durch die Lawine selbst, sondern durch den von ihr ausgegangenen Luftdruck geschehen. Da Staub- lawinen, wie gesagt, sonst verhältnismäßig harmlos verlaufen, muß vernmtet werden, daß in dieiem Falle entweder die Schneemasse der Lawine eine ganz ungewöhnlich große gewesen, oder daß sie erst dicht vor den bettoffenen Gebäuden zum Stillstand ge­kommen ist. Ferner muß man wohl annehmen, daß große Lawinenstürze an dieser Stelle des LötschentalS zu den Selteuheilen gehören, weil weder früher noch jetzt vor Beginn der Tunnelarbeiten besondere Schutzmaßregeln dagegen getroffen worden sind. Das einfachste und sicherste Mittel besteht natürlich darin, daß keine Häuser an solchen Plätzen gebaut werden, die von dauernder Lawinengefahr bedroht werden, und es ist nicht so sehr schwer, in dieser Weise den Lawinen auS dem Wege zu gehen, weil sie gewöhnlich an feste Bahnen gebunden sind. Wie zum mindesten jeder aus Schillers.Tell" weiß, schützen sich die Bewohner der Alpeinäler gegen Lawinen hauptsächlich durch die Aufforstung oder Erhaltung von Wald. Der kleine Walter Tell   kann seinem Bater schon die Auskunft geben:Das sind die Gletscher, die des Nachts so donnern und unS die Schlaglawinen niederienden", und Wilhelm Tell   fügt dann die Belehrung hinzu: So ist's, und die Lawinen hätten längst den Flecken Altorf   unter ihrer Last verschüttet, wenn der Wald dort oben nicht als eine Land- wehr sich dagegen stellte". Das sind die Bannwälder, derenBäume bluten, wenn man einen Streich drauf führte mit der Axt", und wie groß die Ehrfurcht der Alpenbewohner vor diesen Wäldern und ihrer Schutzwirkung ist. geht aus der weiteren Sage hervor, daß dem. der sie verletzt, die Hand zum Grabe herauswachsen soll. Schiller hat die Unterscheidung der verschiedenen Arten von Lawinen, wie sie heute üblich ist. noch nicht gekannt und daher die Ding« ein wenig durcheinander geworfen. Die Staublawinen sind dabei überhaupt außer acht gelassen, weil sie eben für relativ gefahrlos gelten. DieSchlaglawinen" sind aber von den Gleticher- oder Eislawinen im allgemeinen zu trennen. Allerdings kommen die Schlag- oder Grundlawinen auch aus der Gegend der Gletscher herab, aber sie bestehen meist nur auS Schnee, die eigentliche Gletscherlawine dagegen aus Eis. Diese Unterscheidung ist freilich nicht allzu streng zu nehmen, da fast stetS die Eislaivinen auch Schnee und die Schneelawinen häufig auch Eis mitreißen; außerdem tritt beim Niedergang der Schneelawinen bis zu einem gewissen Grade eine Vereisung ein. Eine enorme Lawine, die der Verfasser dieser Zeilen im Hochsommer von der Wengernalp auS vom Absturz der Jungftau beobachtete, enthielt, als sie sich endlich im Tal zu einem ungeheueren Fächer ausbreitete, auch eine große Menge gewaltiger EiSstücke, die in dem Schnee gleichsam fortschwammen. Eine Gefahr ist mit diesen Grundlawinen der Jungfrau nie verbunden, weil das davor- liegende Tal unbewohnt, und die Gehänge des BergeS außer- dem so geformt sind, daß die niederfahrenden Mafien nicht in' einem einzigen Sturz den Abgrund erreichen, sondern mehrfach in ihrer Bahn ausgehalten werden. Bei jener Lawine beispielsweise war die sichtbare Strecke der Bahn in eine Reihe von Abschnitten geteilt, die abwechselnd auS senkrechten Stürzen und Gehängen von geringerer Neigung bestanden, so daß zeitweise fünf Schneekaskadcn gleich Wafiersällen übereinander zu sehen waren, die durch Linien langsameren FlufieS mit einander verbunden waren. Im ganzen dauerte es zehn Minuten, bis die Lawine zur Ruhe gekommen war. Die Schlaglawinen im eigentlichen Sinne sind natürlich noch etwas anderes und brechen init größerer Plötzlichkeit über einen Abhang von ziemlich gleichmäßig starker Neigung herab. Für eine Eislawine hat zerade die Gegend der Alpen, wo die andere Mündung deS im Bau Gegriffenen Lölschberg-Tunnels zu liegen kommen wird, ein Beispiel geliefert, das seinerzeit großes Aufsehen erregte und auch eine be- 'anders gründliche wissenschaftliche Untersuchung erfahren hat. Es war die Katastrophe am Altels-Gletscher oberhalb Kandersteg  , wo am 11. September 1895 ungefähr 1>/z Millionen Kubikmeter Eis von der Zunge des Gletschers abbrach und von einer Meereshöhe von 3100 Meter bis zu einer solchen von 2000 Meter inS Tal rasten. Damals war der Luftdruck so stark, daß die Stämme eines mächtigen ArvenwaldeS wie Streichhölzer zerknickt wurden. Kerantw. Redakteur: Georg Davidfohn, Berlin. Druck u. Verlag: Vorwärts Buchdr. u. Verlagsanstalt Paul Singer& Co., Berlin   SW»