Interhallmgsblatt des Hvnvarts Nr. 87. Mittwoch, den 6. Mai. 1903 �Nachdruck verboten.) ss) Semper äer Jüngling. Ein Bildungsroman von Otto E r n st. Das Bergfest wurde also ohne Direktor und ohne Lehrer. nichtsdestoweniger aber mit Glanz gefeiert. Niemand rührte mit Wort oder Miene an das Vergangene; Schäflein und Wölfe benahmen sich gleich taktvoll; nur Morieux zog einmal Sempern auf die Seite und flüsterte erregt; „Du mußt eine Rede halten I" ».Ich? Worüber?" „Na— zum Dank für die Einladung!" Asmus brach in ein schallendes Gelächter aus. „Das könnte mir fehlen I Nein, mein Junge, ich bin sehr vergnügt und feire das Fest ohne jeden Hintergedanken— aber auch noch„danke" sagen—? Das mach Du nur selber! Das heißt, wenn Du's tust, erschlage ich Dich!" fügte er schnell hinzu. Und zu den hübschesten Dingen dieses Festes gehörte es, baß der erste Trinkspruch, den der Präside ausbrachte, dem Direktor galt. Er hatte sie auch bei dieser Gelegenheit nicht 'eben liebenswürdig behandelt; aber sie liebten ihn alle; denn er hatte das eine, für das die Jugend ein so besonders feines und lebhaftes Empfinden besitzt: Gerechtigkeitsgefühl. Die Jugend versöhnt sich mit dem strengsten Zuchtmeister, wenn er gerecht ist, und sie verachtet, sie haßt den willfährigsten Lenker, wenn er das Recht beugt. Sie wußten es alle: dieser Dr. Korn hatte ein Rückgrat nach oben und nach unten, und wenn es in einem Konflikt zwischen Lehrer und Schüler zu entscheiden galt, so waren sie ihm nicht Lehrer und Schüler, sondern Menschen. In aller Gedächtnis strahlte mit unauslöschlichem Glänze ein Richtcrspruch des„Alten". Ein Neligionslehrer hatte mit allerlei verfänglichen Fragen einen verdächtigen Jüngling auf seine Rechtgläubigkeit untersucht. Der Jüng- iling beschwerte sich bei dem Direktor über diese Belästigungen, und Korn, als er beide Parteien gehört hatte, sagte:„Herr Doktor, Sie haben sich aller Jewissensfragen zu enthalten. Wir sind hier tolerant." Es war zu jener Zeit, als der leiste schreitende Einfluß der Geistlichkeit noch nicht überall war und die oberen Stellen nicht mit den Günstlingen der Kirche, sondern mit den Günst- lingen Minervens besetzt wurden. Von der orthodoxen Theologie war der Mann allerdings weit entfernt: er war Philolog und Philosoph und liebte das Zeitalter der Aufklärung und der Enzyklopädisten, das er mit sprühendem Geist, lebendig und groß darzustellen wußte, so groß, daß Asmus, wenn ihm später der banale Aufkläricht in seiner ganzen Schrecknis begegnete, nie mehr vergessen konnte, wie die Gedanken, die klein sind in den kleinen Köpfen, groß gewesen in den großen. Wenn er ein Kapitel des christ- lichen Glaubens behandelte, etwa die Dreieinigkeit, so trug er es genau nach der Dogmatik vor, ohne Kritik und ohne Polemik, und wenn er fertig war, sagte er aufatmend: „So. Das lehrt die Kirche. Was Sie davon jlaubcn wollen, steht bei Ihnen." Diesen Grundsatz bewährte er nach jeder Richtung. Der Gläubige atmete unter ihm so frei wie der Zweifler. Und obwohl Asmus das Brandenburgisch-Preußische sonst nicht liebte,— die Schleswig-Holsteiner sind keine Kommiß- naturcn,— so sagte er sich doch, daß der Geist dieses Mannes das Beste am ganzen Seminar, ja, daß er beinahe das einzige Gute an dieser Anstalt war. Sein goldener Präparanden- träum vom reich besetzten Tisch der Wissenschaften und Künste hatte einer großen Ernüchterung Platz gemacht; aus der Hoch- zeit des Kamacho, wo die Rinder, Hammel und Hasen und die Schläuche Weines nicht zu zählen gewesen, war ein Gast- mahl des Harpagon geworden. Von einem, der studieren will, sagen die plattdeutschen Bauern:„he will studeern leern" und sprechen damit, ohne es zu wissen, ein feines Wort. In drei oder vier Jahren kann man nicht viel studieren; aber man kann studieren lernen, und das ist viel mehr.� Bei Korn lernte man studieren. Nach seinen Vorträgen rief es in Asmus mit tausend Begierden: Mehr! mehr! und ihm war, als müßte er mit Armen des Geistes das ganze Firma- ment der Gedanken umspannen und in seine Brust herab« ziehen. Nach den Stunden der andern hatte man immee genug, und wußte doch, daß es nichts war. Sie gaben trockenes Brot, das schnell satt macht, oder sie gaben Steins statt des Brotes, oder sie gaben eiicht einmal Steine. Ein Glück noch, wenn sie komisch waren, wie der gute Mister Belly, und wenigstens auf solche Art die Jugendlust lebendig erhielten. L6. Kapitel. (Mister Belly und der geheimnisvolle Zimmermann). Mister Bellys Stunden waren freilich in einer gewissen Hinsicht lauter Feste. Mister Belly war eines jener Wunder- linder gewesen, die schon mit drei Jahren englisch sprechen, weil sie in England geboren sind, und das war sein Hauptverdienst. Zu diesem Englisch hatte er nur noch zweierlei hinzugelernt: ein Französisch mit englischer Aussprache und Betonung und ein für einen Ausländer recht passables Deutsch. Auf weitere Anforderungen aber reagierte er nicht. Es ist nie ans Licht gekommen, ob er von Goethe, Schiller und Lessing irgend etwas kannte; das aber stand fest, daß er von der nachgoethischcn Literatur nur den„Königsleutnant" von Gutzkow kannte. Ein Engländer gesteht dergleichen ganz kaltbliitig ein und hält es für Nationalbewußtsein. Von Zeit zu Zeit fragten ihn die Seminaristen; „Mister Belly, wie heißt noch das deutsche Drama,«das Sie kennen?" und dann antwortete er mit dem unschuldigsten Gesicht von der Welt: „Also mal„The King's Leutnant", denn er leitete jeden Satz mit den Worten„also mal" ein Wenn nun aber auch Mr. Belly recht gut deutsch sprach, so sprachen es die deutschen Seminaristen doch besser, und als Lehrer ohne imponierende Kräfte unter übermütige Kinder einer fremden Sprache versetzt sein, das ist gerade so schön, wie als Taubstummer unter Kannibalen geraten. Da beim englischen Unterricht eine Grammatik von Gurcke gebraucht wurde, so sagte der unglückliche Belly eines Tages:„Bringen Sie zur nächsten Stunde Ihre Gurke mit", und an solchen und ähnlichen Gurken hatte der Gute natürlich lange zu kauen. Unter der gütigen Leitung Mr. Bellys mußte unser Asmus etwa hundertmal die Geschichte von Robin Hood lesen (Mr. Belly wollte auf solche Weise bei seinen Schülern eine gute Aussprache erzielen); aber dennoch brachte jede Stunde eine Abwechselung. Heute war es ein Hampelmann, der hinter Mr. Belly an der Wand hing und durch einen dünnen, bei dem Seminaristen Stelling endigenden Faden dirigiert wurde, morgen war es ein Seminarist, der in den Karten- schrank eingesperrt wurde und dort während der Stunde gespenstische Geräusche hervorbringen mußte, übermorgen ein Seminarist, der aus Turnjacken, Turnhosen, Turnschuhen und einer Mütze hergestellt, dann in ein kleines Kabinett ge- setzt und für„eingeschlafen" erklärt wurde, so daß Mr. Belly hinging, um ihn zu wecken, und so mit und ohne Grazie ins Unendliche. Ein Rouleau, das hochgezogen werden sollte, entwickelte sich regelmäßig zu einer ganzen komischen Oper; denn natürlich fiel der Vorhang, wenn er endlich nach langen Mühen aufgewickelt war, mit furchtbarem Gerassel wieder herab, und je mehr hilfreiche Hände herbeikamen, desto un» möglicher erschien natürlich die Bändigung des heimtückischen Vorhanges. Der eigentliche Belly-Spezialist aber war jener Stelling. Stelling war ein glänzend begabter Bursche, der aber am Unterricht eigentlich nur als wohin ollender Zuhörer teil» nahm und eine unüberwindliche Abneigung gegen Bücher und Hefte hegte. Was er an solchen Dingen mit sich führte, be- schränkte sich für gewöhnlich auf ein kleines Heftchen, das er, um seine ganze Verachtung des Buchstaben zu zeigen, zu- sammengerollt in der hinteren Hosentasche trug. Kraft seiner vorziiglichen Anlagen war er trotzdem immer so ziemlich auf dem Laufenden; nur in der„Charakterbildung" schien er sich auf der Stufe des„großen Jungen" so wohl zu fühlen, daß er an einen Fortschritt nicht dachte. Eines drückend heißen Sommertages brachte dev nam- liche Stelling e-'nen Hammer mit in die Klasse, und gerade las ein Schiist..' mit halb entschlumnierter Stimme die er- schütternden Verse:
Ausgabe
25 (6.5.1908) 87
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