Unterhaltungsblatt des Horwärts Nr. 89. Freitag, den 8. Mai. 1908 (Nachdruck verboten.) 2si Semper der ILmgUng. Ein Bildungsroman von Otto Ernst . Alljährlich veranstalteten die Seminaristen mit hohem direktorialen Privilegio eine Konzert- und Theateraufführung. und vor dem Konzert hatte Meister Bruhn. der mit Johannes Brahms zusammen studiert und dessen Kompositionen Liszt und Rubinstein zu spielen für gut gefunden hatten, regel- mäßig ein Lampenfieber von mindestens vierzig Grad. Er ordnete deshalb an. daß alle Mitspielenden zwei Stunden vor Beginn der Aufführung da sein möchten, damit er selbst alle Instrumente wiederholt durchstimmen könne. Man lächelte über diese Aengstlichkeit, auch Asmus lächelte: aber weil er den alten Herrn lieb hatte und ihn nicht ängstigen wollte, ging er rechtzeitig hin. Meister Bruhn lief schon er- regt auf und ab und trocknete sich mit immer neuen Taschen- tüchcrn den Todesschwciß. Nu seh'n Se, lieber Semper!" rief er.die Uhr is sechs und Sie sind der Einz'che! Sie sind der einz'che Zu- verläß'sche von der ranzen Kesellschaft. Keben Se her die Eheichc." Er fuhr mit dem Bogen darüber und sagte:Nu ja, se stimmt. Aber das is immer so: die's nich nöt'ch haben. die kommen: aber die's nöt'ch haben, die kommen nich." -Und er legte väterlich den Arm um Semper und sagte: Mein lieber Semper, klauben Sie's mir: darauf kommt's an im Leben: auf Zuverläß'chkeit. Sie sind ä zu- verläß'cher Mensch." Das war also billig. Aber noch viel billiger war es. bei Bruhn in den Ruf der Gelehrsamkeit zu kommen, und da er in den Konferenzen natürlich vernommen hatte, daß Asmus Semper zu den Begabteren gehöre, so hielt er ihn für eine Art Easaubon oder Leibniz. Meister Bruhn pflegte, wenn er eine Frage stellte, gleich die schwierige Hälfte der Antwort selbst zu geben, etwa so: Nun, Semper, welcher Ton muß also hier solchen? Gi gi?" Gis," antwortete Asmus, und dann rief Meister Bruhn:Der weiß alles!" Diese Meinung teilte Asmus nun freilich nicht: aber doch ward es ihm wohl und warm bei Meister Bruhn und seinen Sonnabendstunden, die im Winter bis in das Dunkel des Abends hineinreichten. DemMusiksaale" gegenüber lag ein Haus mit einer Schneiderinnenstubc, und die Seminaristen stellten sich gern ans Fenster, warfen schwärmende Blicke hinüber zu den Mädchen und strichen so gefühlvoll dazu die Saiten wie der Geiger von Gmünd vor dem Marienbilde. Und die fünf oder sechs Marien nickten so fleißig herüber, als hätten sie gern einen Schuh und mehr dahingegeben. Wenn Meister Bruhn das sah, dann lächelte er mild-ironisch und sagte: Müller, sehn Se beim Spielen hierher: die nehmen doch lieber Keld als Muszik." Und das ernüchterte. 28. Kapitel. '(Ein Kapitel, in dem aber auch rein gar nichts geschieht und das der gewöhnliche Leser wütend überschlagen wird.) Asmus Semper hatte nicht das geringste gegen hübsche Schneidermamsellen: aber ob sie hübsch waren, eben das konnte er nicht feststellen, weil seine Augen für eine so große Entfernung nicht ausreichten. So schützte, wie es wohl öfter kommen mag, die Kurzsichtigkeit seine Tugend. Aber wenn er auch die Schneiderinnen deutlich hätte erkennen können, würde er wohl wenig nach ihnen ausgeschaut haben, weil es innerhalb des düsteren, kahlen Musiksaales weit Schöneres zu sehen gab. In diesem Musiksaal wurden alle Volkslieder gesungen und gegeigt, die je von deutschem Kindermund er- klungen sind: denn was sie die Kinder lehren sollten, das mußten die künftigen Lehrer selber spielen aind singen können. Wenn er diese Lieder hörte, stützte Asmus den Ellbogen aufs Knie und den Kopf in die Hand und sah in einen dunklen Winkel des Saales, und seine kurzsichtigen Augen wurden fernsichtig. Da sah er hinein in jahrtausendtiefen Wald und hörte aus einem fernen Jahrhundert den dämmergrünen Grund. herauf ein fröhliches Blasen: Ein Jäger aus Kurpfalz, Der reitet durch den grünen Wald, Er schießt das Wild daher,.' Gleichwie es ihm gefallt.;>. Ju ja. Ju ja Gar lustig ist die Jägerei Allhicr auf grüner Heid'. Aber das zweiteJu ja" hallte leise aus wunderbaren Fernen her. Und langsam schritt er tiefer in den Wald hinein, dort- hin, wo im ewigen Dunkel zwischen Moos und Stein ein Waldelf sitzt und seit hunderttausend Jahren in die Quelle starrt, um ihr Geheimnis zu ergründen. Und Asmus neigte das Ohr und horchte dem murmelnden Selbstgespräch der Quelle, und immer war's ihm, nun müßt' er's gleich der- stehen, und verstand es doch nie. Und wie er noch lauschte, winkte ihm aus tauigem Dunkel ein purpurner Schein. Ein Männlein steht im Walde Ganz still und stumm, Es hat von lauter Purpur Ein Mäntlcin um. Das Lied hatte ihn sogleich angelacht wie ein rot- wangiger Apfel, da er's in früher Kindheit zum ersten Male gehört. Nun aber strahlte durch die braunen Stämme ein goldener Glanz: er ging darauf zu und wußte nicht: ist es goldene Sonne, oder goldenes Korn? Und als er am Feld« rain stand, war es goldenes Korn in goldener Sonne. Horch, wie schallt's borten so lieblich hervor I Fürchte Gott ! Fürchte Gott ! Ruft mir die Wachtel ins Ohr. Sitzend im Grünen, von Halmen umhüllt, Mahnt sie den Horcher am Saateugesild: Liebe Gott ! Liebe Gottl Er ist so gütig und mildl Die Hitze hatte drohende Wolken gebraut, und die fernsten Nehren standen schon in graublauer Luft. Schreckt dich im Wetter der Herr der Natur: Bitte Gottl Bitte Gott ! Und er verschonet die Flur. Machen die künftigen Tage dir bang, Tröste dich wieder der Wachtel Gesang: Traue Gottl Traue Gottl Deutet ihr lieblicher Klang. Was war das für eine Zeit gewesen, da die Menschen mit solchen Empfindungen durch die Felder gingen? Lichte Zeit? Dunkle Zeit? Eine heimelnde Zeit gewiß. War sie je gewesen? Würde sie jemals sein? Er grübelte nach, da klang aus dem verlassenen Walde her ein zauberischer Schall. Wie lieblich schallt Durch Busch und Wald Des Waldhorns füßer Klang! Der Widerhall .Im Eichental Hall'ts nach so lang so langt Ja, wahrlich, himmelsfern und himmelsleise klang der Widerhall ans einem Tal, das seine Augen nicht sahen das keine Augen jemals sehen. Lange, lange klang der Widerhall, bis in die Abendröte hinein, in deren Glut er sich verlor. Goldne Abendsonne, Wie bist du so schön! Nie kann ohne Wonne Deinen Glanz ich seh'n. Schon in früher Jugend Sah ich gern nach dir, Und der Trieb zur Tugend Glühte mehr in mir. Das hatten wohl schon die Urgroßeltern gesungen, und doch war es noch immex fo: unendlich groß und unendlich out