Unterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 90.

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Sonnabend, den 9. Mai.

Semper der Jüngling.

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1908

( Nachdrud verboten.) nicht wie ein Mädchen nein, mit einer Liebe, die es nur einmal gibt, die seltsam und ganz eigen ist das war ja selbstverständlich. Daß man für ein Land, dem solche Lieder entblühen, freudig sterben kann, das war ihm selbst. verständlich.

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Ein Bildungsroman von Otto Ernst  Und die Nacht, die Asmus umgeben hatte, bei diesem Lied aus Morgentagen hatte sie sich im Osten leise gelichtet. Und er sah, wie das weite Feld, in dem er noch immer stand, ein wundersames Leben erfüllte: er sah- undeutlich menschliche Gestalten wie Nebelriesen um düstere Lagerfeuer liegen und stehen, hörte Stampfen und Klirren und sah Pferde den weißen Hauch in die Kühle des Herbstmorgens schnauben, und von einem fernen Lagerfeuer her hörte er ein Lied wie Sieges- und Todesgewißheit: Ein Morgen des Steges wird kommen; aber wir werden ihn nicht mehr sehen.

Erhebt euch von der Erde, Ihr Schläfer, aus der Ruhr Schon wiehern uns die Pferde Den guten Morgen zu. Die lieben Waffen glänzen So hell im Morgenrot;

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Man träumt von Siegeskränzen, Man denkt auch an den Tod. Ein Morgen soll noch kommen, Ein Morgen mild und klar; Sein harren alle Frommen, Ihn schaut der Engel Schar. Bald scheint er sonder Hülle

300 and Auf jeden deutschen Mann:

O brich, du Tag der Fülle,

Du Freiheitstag, brich an!

Diese Zeit des deutschen Leides, wie groß, wie heilig und rein mußte sie gewesen sein! Und als nun von einem Lager­feuer die Stimme Meister Bruhns erklang:

Nun, Semper, was wollen Sie uns denn heute vor­spielen?" da schnellte Asmus hoch, schob die Geige unters Kinn und strich die Saiten mit Wucht und Sturm:

Freiheit, die ich meine,

Die mein Herz erfüllt, Komm mit deinem Scheine, Süßes Engelsbild!

Magst du nie dich zeigen Der bedrängten Welt? Führest deinen Reigen Nur am Sternenzelt?

Asmus Semper betete. Er wollte die Freiheit vom Himmel herabbeten: aber er dachte unter Freiheit nicht nur die Er­Lösung von fremden und heimischen Tyrannen, von Pfaffen und Geldsäcken; er dachte unter Freiheit alles Große und Herrliche, das sehnenden Menschenseelen in künftigen Welten aufgehoben ist für jenen Tag, der kommen wird. Sein Geigenspiel war ein Gebet aus bebendem, glühendem Herzen, und jener Lederhändler, der die bei Tische nicht betenden Mitmenschen zu den Dechslein und Eselein" stellte, würde seltsame Augen gemacht haben, wenn er in diesem Augenblick in das Semperische Herz geblickt hätte.

Im deutschen   Liede sah er das deutsche Land. Er hatte ja mit leiblichen Augen nichts davon gesehen als seine engere Heimat; abero, was für ein Land mußte das sein! Jahre, bevor er nach Amerika   ging, war sein Bruder Johannes durch Deutschland und die Schweiz   gewandert, hatte Briefe und Bilder von Burgen und Bergen und Trauben vom Rhein  geschickt; aber das schönste, was er dann mit nach Hause ge­bracht, war ein Lied gewesen, das Asmus damals noch nicht fannte.

An der Saale hellem Strande Stehen Burgen stolz und kühn. Ihre Dächer sind zerfallen,

Und der Wind streicht durch die Hallen; Wolken ziehen drüber hin.

Auch dieses Lied spielte Asmus; denn er hörte alles darin, was der Deutsche   ist oder was er von Herzen gern sein möchte: tapfer und mild, erfindungsreich und träumerisch, zärtlich und gedankenvoll. Dies Lied fam aus einem Lande voll großer Geschichte und tiefsinniger Sage, aus einem Lande der fingenden Wälder und klingenden Ströme. Daß man solch ein Land liebte nicht, wie Mutter oder Bruder,

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Gewiß waren andere Länder ebenso schön oder schöner; aber ein zweites Deutschland   gab es dennoch nicht. Gewiß hatte kein Land solche Weihnachtslieder wie Deutschland  . Da war ein Lied, das war klein und groß, wie eine deutsche Hütte, darin eine Mutter mit ihrem Kinde liegt. Da kommen die Töne behutsam herein auf leifesten Sohlen und knien wie Kinder vor der Wiege in stumm zitternder Seligkeit, und halten den Atem, halten den Schlag des Herzens an, das zerspringen will vor heiliger Erwartung, weil es das Kind­lein sehen soll! dind

Ihr Kinderlein fommet, o fommet doch all, Zur Krippe her kommet in Betlehems Stall Und scht, was in dieser hochheiligen Nacht Der Vater im Himmel für Freude euch macht! Das ist doch eigentlich ein ziemlich triviales Lied," meinte der Seminarist Gärtner  .

Mein lieber Kärtner," versette Meister Bruhn mit seinem mild- ironischen Lächeln, mein lieber Rärtner, wenn ich das Lied f'macht hätte, denn fuckt' ich Sie far nicht an!" ,, Das ist das feinste, lieblichste Weihnachslied, das ich tenne!" rief Asmus begeistert.

"

Ja, ja, mein lieber Semper, alver solche Sachen macht man heutz'tache nich mehr."

"

"

Warum nicht?" forschte Asmus begierig.

Weil man den Klauben haben muß, um so was machen zu können; die jet'che Zeit hat awer keinen Klauben mehr." O!" machte Semper.

" Ja, ja, lieber Freund, Se können's mir flauben. In einer Beit, wo David Friedrich Strauß   herrscht, da macht man solche Lieder nich."

Haben Sie Strauß gelesen?" rief Asmus.

,, Nee, nee!" rief Bruhn ängstlich und flüchtete sich in die Musik, indem er auf dem lafier" zu präludieren begann. Ja, David Strauß   ist mein Mann!" rief Asmus. Bruhn sah ihn erschrocken von der Seite an und präs ludierte ängstlicher.

,, Aber darum hab' ich doch all diese herrlichen Rieder gern, auch die frommen, die wunderschönen Chorale, z. B. ,, Befiehl du deine Wege  " und Ein feste Burg  " und" Wachet auf, ruft uns die Stimme  " und" In allen meinen Taten" und Allein Gott in der Höh' sei Ehr'". Er hätte noch lange fortfahren können; aber Bruhn starrte ihn immer hülfloser an und spielte jegt bereits forte. Aber dann brach er ab.

,, Nee, lieber Semper, es ist so," sprach er, wenn der falte, mathemat'sche Verstand dazukommt, denn is es mit'm Klauben und mit der Kunst vorbei."

,, Das wäre ja schrecklich!" rief Asmus. Aber es ist ja gar nicht so! Der Verstand ist ja gar nicht falt! Und die Mathematik ebensowenig!" Er mußte an die Stunden denken, da er zu Hause über mathematischen Aufgaben ge. seffen hatte. Aufgesprungen war er oft, durchs Zimmer war er getanzt und den Fensterpfosten hatte er umarmt, so wohl und warm war ihm gewesen. Eine warme, fröhliche Sonnen klarheit war um ihn her gewesen!

Er wurde immer eifriger, und er suchte nach Worten; denn was er meinte, war schwer zu sagen. Plöglich kam ein rettender Gedanke.

,, Das ist, wie ich es mal in einem Theater gesehen habe!" rief er. Da gingen immer neue Vorhänge hoch, immer einer nach dem anderen, und es wurde immer heller, und jedesmal bekam man neues zu sehen, und das Neue bildete mit dem Alten zusammen immer schönere Bilder. Nur daß es auf dem Theater ein Ende hatte; in der Welt hat es kein Ende."

Bruhn, der sich inzwischen wieder in ein forte fortissimo hineingespielt hatte, brach wiederum ab und sah den Jüngling lange mit forschenden Blicken an. Dann sagte er: Nu' ja, es mag ja sein aber nu müssen wir weiter." Und der Unterricht nahm seinen Fortgang.

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Auf dem ganzen Heimweg verließ ihn das Problem nicht. Das hatte er mun schon so oft gehört: ein ungehemmter, schrankenloser Gebrauch des Berstandes vernichte die Blüten