Anterhaltnngsblatt des Worwärts Nr. 92. Mittwoch, den 13� Mai. 1903 (Nachdruck verboten.) ss] Semper der JungUng. "/ Ein Bildungsroman von Otto E r n st. Sein Denken wurzelte fest im Empirischen, und so gern seine Seele ihr Haupt in transzendenten Lüften wiegte— ihren Boden wollte sie nicht ohne Not verlassen. So hatte er die Jdeenlehre wunderschön gefunden; aber sogleich hatte er sich gesagt: das ist die Dichtung, ist Glaube, nicht Erkennen. Gegen den strengen Gedanken von der Notwendigkeit alles Geschehens, dem der Mann sich unterwarf, lehnte der Jüngling sich auf. Sein die Arme reckender und streckender Wille verlangte nach Willensfreiheit, und doch schien ihm die transzendentale Willensfreiheit Kants nur eine Ausflucht. Gegen diesen Immanuel Kant , dessen Leben er mehr be- wunderte als liebte, hatte er noch gar manches auf dem Herzen. Da stand: '„daß alle unsere Erkenntns mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Er- kenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, ge- schähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne affigieren..." und an anderer Stelle hieß es: „Daß es nun dergleichen notwendige und im strengsten Sinne allgemeine, mithin reine Urteile a priori im menschlichen ' Erkenntnis wirklich gebe, ist leicht zu sagen,.." Und wiederum: „Von den Erkenntnssen a priori heißen aber diejenigen rein, denen gar nichts Empirisches beigemischt ist...." War das nicht unreimbarer Widerspruch? Und wenn es dann gar hieß: „So ist z. B. der Satz: eine jede Veränderung hat ihre Ursache, ein Satz a priori, allein nicht rein, weil Ver- änderung ein Begriff ist, der nur aus der Erfahrung gezogen werden kann". was sollte man dazu sagen? Der Begriff der Ursache war entweder genau so gut aus der Erfahrung gezogen wie der der Veränderung oder sie waren beide gleich„rein". Un- zweifelhaft hatten sie aber beide„empirische Beimischung". Und was sollte es heißen, wenn nun Kant als ein Beispiel für„dergleichen notwendige und im strengsten Sinne allge- meine, mithin reine Urteile a priori" die Mathematik aufführte? Die Mathematik war doch menschlich konstruierte Realität, nicht von der Natur gegeben, wie Kunt in der Einleitung an dem„ersten Demonstrator des gleichschenkligen Dreiecks" selbst zugegeben hatte. So waren die Sätze der Mathematik zwar allgemein und notwendig(daß das zweierlei sei, wollte Semper» auch nicht in den Sinn); aber sie waren auH für die Erkenntnis des Weltwesens vollkommen wertlos. wenn man sich nicht zu den Pythagoreern gesellte. Und was sollte man endlich gar dazu sagen, wenn Kant, ganz im Widerspruch zu dem Vorhergehenden, fortfuhr: ».will man ein Beispiel aus dem gemeinsten Verstandes- gebrauche, so kann der Satz, daß alle Veränderung eine Ursache haben müsse, dazu dienen... und dann gegen Hume polemisierte, der diesen Satz „von einer öfteren Beigesellung dessen, was geschieht, mit (dem, was vorhergeht, und einer daraus entspringenden Gewohnheit, Vorstellungen zu verknüpfen, ableiten wollte." Asmus hielv es ganz entschieden mit Hume und war der Ueberzeugung, daß jedes Naturgesetz der empirischen Wissenschaften genau so„allgemein und notwendig, mithin rein a priori" oder genau so bloß komparativ allgemein und a posteriori sei wie der Satz von der Veränderung und ihrer Ursache. Ach, schon diese Einteilung der Urteile in analytische und synthetische! Asmussens Bleistift wurde temperamentvoll und machte schwungvolle Fragezeichen und wuchtige Aus- rufungszeichcn! Warum sollte denn das Urteil„Alle Körper sind ausgedehnt" analytisch und dagegen das andere„Alle Körper sind schwer" synthetisch sein?— und das setzte ihm zu mit harter Pein. Das Merkmal der Schwere war doch kür den Körper genau so wesentlich wie das der Ausdehnung und war also genau so gut wie dieses im Begriff des Körpers schon gegeben! Wieso bedurfte es da der Synthese? Und gesetzt: man entdeckte ein wesentliches Merkmal eines Be- griffes, das man bisher nicht gekannt hatte, so konnte man im Augenblick der Entdeckung allenfalls von einer„Synthese" sprechen und konnte das neue Urteil ein synthetisches nennen; aber sobald man wußte, daß das neue Merkmal zum Wesen des Begriffes gehöre, war es doch auch mit diesem Begriff gegeben, und das Urteil war so„analytisch" wie irgend ein anderes. O, wenn Asmus damals gewußt hätte, daß auch andere Leute, und zwar höchst gelehrte und gescheite Männer diese Unterscheidung für verworren und zwecklos hielten! So aber sagte er sich:„Daß Kant so unklar gedacht habe, ist ausgeschlossen; also tappe ich im Dunkeln, also ist mit dieser Entscheidung noch etwas anderes gemeint, das ich nicht verstehe".> Und endlich dieses berühmte„Ding an sich ". Man könne es nicht erkennen, hieß es. Aber es„affigierte" uns durch Erscheinungen, stand also in Beziehung zu uns, machte uns Mitteilungen! Wozu machte es uns diese Mitteilungen? Nur um uns zu foppen? Dann war freilich alles Denken und Leben Unfug. Oder verrieten uns diese Mitteilungen, wie es jede Mitteilung tut, etwas vom Wesen des Mit- teilenden? Doch wohl; Kant verwahrte sich ja auch selbst dagegen, daß man die„Erscheinung" als„Schein" verstehe. Warum nun affigierte uns das Ding an sich so, wie es uns affiziert, und nicht anders. Es mußte zu seinem Wesen gehören, uns so zu affigieren und nicht anders. Dann aber wußten wir etwas von seinem Wesen, und wenn wir etwas wußten, warum sollten wir dann nicht mehr wissen können?„Hier ist ein Wirbel," sagte sich Asmus. Sein Bleistift fragte in aller Bescheidenheit: Was nötigt uns, hinter der„schönen grünen Weide" der Erscheinungen ein unver- kennbares Ding an sich anzunehmen, und wer hat etwas von diesem Ding an sich? Die Beschränktheit menschlicher Erkenntnis leuchtet auch so ein. Daß wir nicht Zentrum der Welt sind, daß der Mensch, der kleine Fußsoldat, un- möglich den Plan kennen kann, nach dem der„Herr der Heerscharen" die Weltenschlacht schlagen läßt,— das wissen wir seit Kopernikus auch so. Also warum soll der Pfahl, an dem ich mir die Nase blutig stoße, durchaus Erscheinung und nicht Ding an sich sein? Und warum setzen wir diese Skepsis nicht ins Grenzenlose fort? Es fetzte Scmpern in großes Erstaunen, als er las: „Was es für eine Bewandtnis mit den Gegenständen an sich... haben möge, bleibt uns gänzlich unbekannt. Wir kennen nichts als unsere Art, sie wahrzunehmen, die uns eigentümlich ist, die auch nicht notwendig jedem Wesen. obzwar jedem Menschen zukommen muß." Das„obzwar jedem Menschen" war es, was ihn in Staunen versetzte. „Wirklich?" schrieb er an den Rand.„Könnte der Welt- Urheber den Spaß dieses Sommernachtstraumes nicht noch weiter ausgedehnt haben und die Menschen Verschiedenes wahrnehmen lassen, wenn sie dasselbe nennen, und Ver- schicdenes nennen lassen, wenn sie dasselbe wahrnehmen?" Und er hatte eine herzliche Freude, als er später las, daß Fichte den kantischen Zweifel an der Dinglichkeit der Er, scheinungswelt zu Ende geführt, das Ding an sich als Wider- sinnig verworfen und erklärt habe: Außer mir gibt es nur Vorstellungen und sonst nichts. Mit einem wunderschön weichen, tiefschwarzen Bleistift schrieb Asmus in Riesen- buchstaben dazu: „Gott sei Dank!! Das ist wenigsten? konsequent!!" 31. Kapitel. (Der Mensch ist ein fliegender Holländer, und Asmus bekonmrt r das Lampenfieber.)» In diesen Sonntagsstudien gab es Minuten, Stunden, Tage der Klarheit, die er für nichts auf der Welt dahin, gegeben hätte. «Das ist ein Augenblick der Seligkeit. Wenn uns ein tveltbeleuchtender Gedanke Das Hirn durchzuckt und so die Seele faßt, Daß sie durchbrochen tväh st des Denkens Schranket
Ausgabe
25 (13.5.1908) 92
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