reich; der andere den intelligenten, aker nerventranken Bürger, der ebenso rasch den Mut sinlen läßt, alS er begeistert emporschnellt. Der alte Bonnemort, in G e r m i n a l, der körper- lich und geistig verkrüppelte Greis, der die formenüppige, blonde und sanftmütige Cäcile Grögoire erwürgt, wer ist es anders als der brutale Hunger, der in unwiderstehlichein Wutanfall aus den Müßiggang sich wirst? Im Doktor Pascal haben alle Gestalten ihre symbolische Bedeutung � hier sehen wir die gläubige, am Althergebrachten haftende Menschheit, welche das junge Mädchen Vertritt, im Kampfe mit der neuen, von der Wissenschaft erleuchteten und die kühnsten Neuerungen fordernde Generation, die der Doktor verfinnbildet. Daö seelische Leben aber, das Zola auf diese Weise dem In- dividuum zu entziehen scheint, entfaltet er in verschwenderischer Weise in den Volkshaufen, in den sich drängenden und schiebenden Menschen. DaS ist eben die hervorragendste Gabe Zolas, diese unvergleichliche Fertigkeit in der Kunst, die Volksmassen in Bewegung zu setzen, im Auge zu halten und zu entfesieln. Niemand verstand sich wie er auf die Bloßlegung der Leidenschaften, wodurch die Volksmassen heimlich aufgewühlt werden, ihrer hoch- sinnigen und wilden Begeisterung. Niemand war geschickter, den andern oft verborgenen Widerhall der sich in ihrem Gewühl viel- stimmig kreuzenden Rufe aufzufassen und nach außen weiter zu pflanzen. Terminal mit der Schilderung des Streikes, wo die Masse der Arbeiter bald ordnungSlos durcheinander wimmelt, bald mit schwindelnder Schnelligkeit unter dem Drucke blinder Instinkte vorwärts getrieben wird; der Z u s a m m e n b r u ch mit den düster» Bildern einer geschlagenen Armee, die ihr Gewoge von Menschen, Pferden und Kanonen voller Entsetzen mit sich fortwälzt;Lourdes mit der Prozession seiner Pilger, die unter dem unwiderstehlichen Hauche des Glaubens und der Hoffnung dem Geheimnisse entgegen- eilen, von dem sie das Heil erwarten. Das sind die drei Romane, in denen das Ideal einer neuen Schilderungskunst zur wunderbaren Wirklichkeit wird. Die Gestalten, die sich um manche Reigenführer bewegen, jagen in stürmischem Schwünge vorbei, wo- durch ein Erfassen bestimmter und hervorspringender Umrisse unmöglich gemacht wird. Genau denselben Eindruck gewinnt man vor den im Volksgewimmel neben einander auftauchenden Gesichtern. Jede Individualität schwindet, die Masse allein gibt Farbe und Haltung. Es bleibt den einzelnen weder Ge- danke noch Ueberlegung. Alle? kündigt eine dem Einzelmenschcn überlegene Macht an, die anonyme Menge, welche ihn beherrscht. Dr. Jos. Hansen(Diekirch ). (Nachdruck verko!«n.> Die Abneigung. Von HanS Hyan . (Schluß.) „Ich war bei meiner Tante und nachher habe ich bei einer Freundin gewohnt." „Und Deine Mutter, die war doch damals, als die Aus- stellung war, hier?" „Ja, aber die wohnt jetzt wieder in Prittkow, das weißt Du doch, lieber Hans!" „Lieber Hans! lieber Hans!" äffte er ihr nach,„was ich weiß, iS' nur, daß'n anständiges Mädchen bei ihrer Familie bleibt und sich nich so in der Welt umhertreibt l" Sie sah ihn groß an, dann schob sie den Teller ein wenig zurück und stand auf. „Nanu?" „Ich will gehn." „Weshalb denn?" „Es ist doch bloß alles, weil Tu mich loS sein willst." „Ich?— ich will Dich loS setn?I... ha! so ist's richtig! So muß man'S machen! Weil ich will, daß Du offen und ehrlich zu mir bist, sagst Du, ich will Dich loS sein!" Sie stand unschlüssig und schaute traurig vor sich hin. „Ja, ja, Hans," nickte sie,„es ist doch so, ich bin Dir zuviel! Du bist einer von den Männern, die nicht lange bei einer Frau bleiben können... ich kann eS ja auch ganz gut verstehen.,." Dabei nahm sie ihren Hut vom Bett. Sofort war er neben ihr und riß ihr den Hut aus der Hand. „Ach was! mach' keine Dummheiten I Wo willst Du denn jetzt hin?" „Oh, darum sorge Dich nur nicht, ich werde schon ein Unter- kommen finden!" „Quatsch! Du bleibst hier und damit basta. Wenn man so, wie wir, zusammenlebt, dann sind eben solche Auseinandersetzungen manchmal unvermeidlich!.., Un jetzt setz' Dich hin und iß, daß Du nich noch krank wirst... ich will'n bißchen spielen." Er ging ans Klavier und spielte eine tolle Melodie, die er zu einem ebenso verrückten Gedicht eines Freundes erfunden hatte. Aber mittendrin brach er ab. Warum hatte er sie denn nicht fortgelassen?... Diese vcr- fluchte Sentimentalität!!... Ach, ihm graute schon davor, sich jetzt umzudrehen. Sicher hatte sie sich wieder leise bis an seinen Stuhl geschlichen und stand jetzt wieder da mit ihrem dämlich verzückten Gesicht, daß er gleich hätte hineinschlagen mögenk Ev war eitel und leckte jedes Krümchen Anerkennung begierig auf« aber ihre Bewunderung, die wollte er nicht! Plötzlich fuhr er herum. Da stand sie richtig, Begeisterung auf den feinen Zügen, die förmlich starr wurden bor Entsetzen über seine wild« Miene. „Schön! schön! was?" schrie er und seine Stimme war ganz rauh vor Grimm,„da, spiel' Du doch mal!" Sie wagte nicht, zu widersprechen und klimperte so leise, als sei ihr die Furcht schon bis in die Fingerspitzen gekrochen, ein kleines Salonstück. Jetzt stand er hinter ihr und ärgerte sich über ihre klaren, in dem matten Licht leuchtenden Hände. Jeder Fehler, den st» machte, erfreute ihn, und die Angst, die sie, wie er genau wußte, während des Spielens ausstand, war ihm ein Labsal, Vom Klavier ging er fort ans offene Fenster. .. Warum hatte er sie denn nicht gehen lassen, vorhin? Dann wäre er jetzt allein in dem Zimmer, das ihm, zusammen mit ihr, wie ein Zuchthaus vorkam. Diese blödsinnige In- konsequenzl Von jeher war es sein schlimmster Fehler gewesen, daß er nie das tat, was er wollte... Dieses enge Loch, in dem man sich kaum umdrehen konnte, dadrin war kein Platz für zweie!... Also noch'ne Nacht mit ihr zusammen... und morgen wieder und immer weiter... aber konnte er's ihr denn nicht jetzt noch sagen?— Nein, nein! Niel Niemals würde er'S fertig bringen, zu ihr zu sagen:„Geh!"....... Bei ihm bleiben konnte sie nicht! Er ertrug's nicht länger! Sie mußte weg und... und wenn,,, und wenn er sie aus dem Fenster schmeißen sollte!» Sein Blick fiel auf den dunklen Heinrichsplatz. Die Luft war warm nach dem Frühlingsregen. Etwas Schwellendes lag darin, das aus der Dunkelheit aufstieg, das die Kräfte hob und die Wünsche brutal werden ließ. Der Himmel war finster und das spärliche Licht der Laternen da unten wirkte tpie rote Farben- tupfen auf schwarzem Grunde. Nur die erleuchteten Schaufenster der Läden warfen ihre rechteckigen Lichtbreiten über Trottoir und Tamm. ... Von unten heraufgcschen, bis zu ihm, nach der vierten Etage hinauf, das konnte niemand. Daran dachte ja auch keiner... wie viele Menschen sind schon aus dem Fenster ge- fallen!... Aber sie war ja viel größer als er, entweder sie würd» sich sträuben oder ihn mitreißen... Mit einem tiefen Seufzer strich er das lange, schwarze Haar aus der Stirn. Das Mädchen drehte sich augenblicklich um. „Spiel doch weiter, Marie," sagte er sanft. Und mit heißer Freude über das armselige Almosen ge- horchte sie ihm. Er sah sie starr an, wie sie kerzengrade auf ihrem Stuhle saß und, ohne daß sich auch nur ihr blonder Haarknoten bewegte, die Tasten berührte. Die Töne vernahm er gar nicht. Wie sein Körper, so zog sich auch sein Geist noch einmal zurück vor diesem schwarzen, grauenvollen Abgrund. Morden... morden wollte er?.,, Wo er nur nötig hatte ein Wort zu sagen, um allein zu sein... er w ü r d e das Wort aber nicht sagen.,, Und fort mußte sie. Sie oder er, einer mußte weg! Wieder ging er ans Fenster. ... man hört einen Schrei, das ist alles. Wer da herunter- stürzt ist tot. Der kann nicht mehr sprechen und niemand vcr- raten... aber um die Taille fassen darf er sie nicht, sonst reißt sie ihn mit... Er sah wie in einen finsteren Kessel hinab, in dem Lichter auf- und niedersteigen und Schatten umherirren. Erschauernd fühlte er, wie sie neben ihn trat. Und während sie sich mit den Händen aufs Fensterbrett stützte, trat er ein wenig zurück. Das dumpf heraufdringende Geräusch der Straße wurde in seinen Ohren zu mächtigen Orgeltönen, die ihn berauschten und ihn seines Verstandes beraubten. Von der geheimnisvollen Macht des Wahnsinns zum der- zweifelten Entschluß getrieben, bückte er sich und packte mit eisernem Griff ihre Beine. „Hans! Um Gottcswillen, Hans!... es klopft!" Er ließ sie los und sagte mit einem blöden Lächeln: „Ach wo..." Der furchtbare Schreck hatte ihr den Atem genommen. Ihre entsetzten Augen ließen ihn nicht los und, sich am Klavier entlang an ihm vorbcischiebend, stammelte sie: „Aber-- Hans—" Da klopfte es noch stärker. „Machen Se doch auf, Herr Barre, ich wecß ja recht jut, daß Se zu Hause sind!" Der Komponist öffnet!. Ein kleiner, dicker Mensch mit rundem, fast kahlem Kopf und mit Augen, die im trüben Glanz des Alkohols schwammen, drängte sich durch die Tür, deren Klinke der Musiker in der Hand hielt. „Ick wollte Ihn' bloß sagen, Herr Barre, det det so nich weiter jehn kann!" «Was denn?" fragte der andere teilnahmloS.
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25 (5.6.1908) 107
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