Nnterhaltungsblatt des HorwärtsNr. 109.Mittwoch, den 10 Juni.1903(Nachdruck verboten.)451 Semper der Jüngling.Ein Bildungsroman von Otto Ernst.Diesmal fiel das Gedicht deutlicher aus. Es war etwasHerkömmlich im Ton. etwas heinegeibelig sozusagen; aberdeutlich war es.„Wir standen auf hoher WarteIn klarer Sommerluft;Tief unten lag die ErdeIn lauter Glanz und Duft.Und über unfern HäupternDer Himmel hoch und hehrEin unergründlich tiefes,Ein weites, blaues Meer!Es strebte mein Geist zum HimmelUnd strebte zur Erde auch:Ihn lockte die himmlische Reine,Der irdische Wonnenhauch.Fern waren Erb' und Himmxl;Du aber warst bei mir,Und haften blieb mein Auge,Das sehnende— an dir.—Du bringst mir irdische WonnenAuf rosigen Lippen dar;Es flieht der Schönheit ZauberBon deinem Lvldnen Haar.Du trägst des Himmels ReinheitUnd Frieden im Angesicht;Treu glänzen deine AugenWie seiner Sterne Licht.Vergessen die prangende Erde,Vergessen da? himmlische Zelt!In dir halt ich umfangenDen Himmel, die Erde— die Welt!"Er hat erst schreiben wollen:„Von Deinem braunen Haar"aber das schien ihm doch zu deutlich, und er machte eingoldenes Haar daraus; dann konnte sie das ganze Gedichtauch auf eine andere bezichen. Daß man hübschen jungenMädchen keine solchen Gedichte schenkt, wenn sie sich auf anderebezichen, das fiel ihm nicht ein. Seine geistige Begabung lagauf anderen Gebieten.Als er den Briefunischlag mit der Zunge feuchtete, hielter plötzlich inne und starrte vor sich hin. War es nicht eigent-lich unwürdig, ihr das Gedicht so hinterrücks durch den Post-boten zuzustellen? War es nicht männlicher, einfach vor siehinzutreten und zu sagen: Hier ist das Gedicht!? Aber, wennSie's dann las nein, nein, nein, nein! Dann war es nochmännlicher, ihr ins Gesicht zu sagen:„Hilde Chavonne, ichliebe Dich!" Und das konnte er eben nicht. War das Feig-heit? O, wenn es nicht Hilde, wenn es Drögemüller wäre,dann wollte er schon zeigen, daß er offen und mutig die Stirnzeigen konnte. Aber Hilde— wenn das feige war, dann wares eben feige, daran war nichts zu ändern. Er schloß denBrief und steckte ihn ein. Aber als er ihn fallen hörte, da wares ihm, als hörte er auch sein Herz in den Kasten fallen. Eswar doch eine Riesenkühnheit. Wenn sie jetzt zürnte— nun,dann liebte sie ihn nicht, dann war alle Hoffnung zu Ende.Wenn sie ihm aber nicht zürnte— was war damit be-wiesen?Eigentlich nichts,»» Nun, man würde ja sehen.50. Kapitel.�(Der Verfasser durchbricht aus Wut über seinen Helden dieKunstform.)Der nächste Tag war ein Mittwoch; mit klopfendemHerzen trat er zu den Mansfelds ins Ziminer— sie war nichtda. Ein schlimmes Zeichen. Sonst war sie immer dagewesen.Das Gespräch mit den Mansfelds wollte nicht in Gang kommen.Endlich, nach einer Viertelstunde, die Semper» zu einer Ewig-keit angeschwollen war, trat das Fräulein herein. Sie wollteunbefangen erscheinen: aber alle Anstrengung half ihr nichts;sie wurde blutrot und senkte den Blick, als sie Asmussen dieHand gab und ihm sagte:„Ich danke Ihnen sehr?"Dann flog ein Engel durchs Zimmer. Und noch einer.Und noch einer. Hilfreiche Engel waren es nicht; denn siehalfen dem blutschwitzenden Asmus auch nicht mit einemWörtchen aus. Endlich half er sich selbst, indem er heftig daslinke Bein über das rechte schlug(genau wie Ludwig Semper).Das half.„Sonnabend wird der„Freischütz" gegeben, in einer!vorzüglichen Besetzung," rief er, und wußte selbst nicht, warumer so laut sprach. Man kam überein, daß man gemeinsamhingehen wolle; die Unterhaltung kam in Fluß; Hilde nahmdaran teil und sprach auch mit Asmus, sogar unter freund-lichem Lächeln. Böse war sie nicht, das stand nach diesemLächeln fest; aber sonst—Ja, sonst war er immer noch auf dem alten Fleck. Wiekonnte es auch anders sein. Konnte sie nach diesem Gedicht zuihm kommen und sagen:„Ihr Antrag ehrt mich" oder:„Ichteile vollkommen Ihre Gefühle; hier ist meine Hand?" Eswar eine ganz verteufelte Sache. S i e mußte einmal eineWette verlieren, und dann würde sich ja zeigen, was sieihm schenkte! Als er daheim in seiner Zelle diesen Gedankenenvog, brachte ihm der Postbote ein dünnes Paket.Ihre Handschrift!Er riß die Umhüllung herunter und fand eine Mappe,die auf beiden Deckeln allerliebste Blattsträuße in zahlreichenund zarten Abstufungen von Sepia-Braun zeigte. EinBricfchen dabei!„Werter Herr Semper!Da Sie Gefallen an der Spielerei fanden, so sendeich Ihnen diese Mappe, die sich vielleicht durch Auf-bewahrung von Notizen und dergleichen nützlich machenkann. Sie soll keine Vergeltung für Ihr Gedicht sein;eine solche Gabe zu lohnen, bin ich leider außerstande.Mit den herzlichsten GrüßenIhre dankbareHilde Chavonne."„Sie liebt mich!" jubilierte Asmus in seinem Herzen.„Sie beschenkt mich! Und wie beschenkt sie mich! Wie reich,mit welcher Sorgfalt ist das gemacht! Mit Goldpapier-streifen umrändert! Mit weißseidenen Bändern gebunden!"Und wie zärtlich schrieb sie, wie liebevoll!Er nahm den Brief wieder her— ein ganz zarter Duftging mit diesen Zeilen, ein kaum merkbarer, aber ein feiner,milder, warmer, Duft!„Werter Herr Semper" schriebsie. Also er war ihr wert! Und„Sie soll keine Vergeltungfür Ihr Gedicht sein; ein solche Gabe zu lohnen, bin ichleider außerstande--!"Hm. Es fiel ihm plötzlich auf, daß das zweierlei be-deuten könne. Es konnte heißen: Das Gedicht ist so schön,daß ich ihm nichts Gleichwertiges gegenüberstellen kann, wieman den Wert eines echten Kunstwerkes(„wenn dies einswäre!" klammerte Asmus ein) überhaupt nicht mitmateriellen Gütern ausmesscn kann. Aber die Liebe einesMenschen war doch gewiß etwas Gleichwertiges, ja, warunendlich viel mehr— sollte das bedeuten:„Den Lohn,den du dir denkst— meine Liebe— kann ich dir nicht ge-währen?"— O, o, o, wie der ganze Brief gleich anders aus-sah!„Werter Herr Semper," das war viel legerer als„Sehr geehrter Herr Semper", viel weniger achtungs«voll.— Und„Da Sie Gefallen an der Spielerei fanden"—sie legte der ganzen Sache keinen Wert bei; es war einNichts— warum sollte sie es ihm nicht schenken— dannwaren sie quitt, und sie war ihm nichts mehr schuldig—O diese verteufelte Auslegung, o diese vcrwetterten Aus-leger! Sie verhunzen die frischesten Offenbarungen derMenschenseele! Durch„Exegese" verhunzte er sich dieses Ge-schenk eines Mädchens, das mit vor Bangen, vor Eifer, vorFreude bebenden Händen Tage und Nächte an diesem Kunst»werk gebaut hatte, bei jeder Linie, jedem Bändchen voll Hoff-nung, daß sie ihm gefallen, voll Sorge, daß sie ihm nußfallenmöchten!Freilich: Mädchcnbriefe wie dieser sind geschrieben, unkLiebe ganz zu offenbaren und ganz zu verbergen, und es