Anterhaltungsblatt des Horwäris ?!r. 113. Dienstag, den 16. Juni. 1903 (Nachdruck verboten.) 401 Semper der IungUng. Ein BildungSroman von Otto Ernst . 53. Kapitel. (Enthält die Geschichte Hilden ? von Marschall Davoust an bis zu Fräulein Paulsen.) Napoleon und sein Marschall Davoust hatten den Ur- aroßeltern Hildens ihr Glück zerstört. Diese hatten zu den 20000 gehört, die man zu den Toren Hamburgs in Hunger und Kälte hinausgejagt, und Hildens Urgroßvater war unter denen gewesen, die auf dem Wege nach Oldensund zu- gründe gegangen. Die seelenstarke Frau hatte selbst den toten Gatten bis nach Oldensund getragen, und dort hatte er teilgenommen an jenem ewig klagenden Grabe, das Friedrich Rückert besungen hat. Wo finden wir Kost und Kleider, Wir Zwanzigtausend an Zahl? Die andern schleppten sich weiter, Wir blieben hier zumal. Wir konnten nicht weiter keuchen. Erschöpft war unsere Kraft: Frost, Hunger, Elend und Seuchen Sie haben uns dahingerafft. Ein ungeheurer Knäuel, Zwölfhundert oder mehr, ES zieht sich über den Greuel Ein dünner Rasen her. Ueber diesen Rasen war Asmus in früher Kindheit spielend dahingesprungen wie manchesmal I Die arme gute Großmutter, die das Elend der Eltern schaudernd miterlebt und früh den Gatten verloren hatte, war ein Stern in Hildens Jugend gewesen. Eine kindlich-fromme Frau, die ihren Gatten nicht als eine Tugend, sondern als ein Geschenk ihres Heilandes empfand, lehrte sie ihre Enkel- linder beten und geistliche Lieder singen. Aber nicht nur geistliche Lieder sang sie, sie sang: Ich denk an euch, ihr himmlich schönen Tage Der seligen Vergangenheit! Komm Götterkind, o Phantasie, und trage Mein sehnend Herz zu seiner Blütezeit! und sobald sie das sang, stand die kleine großäugige Hilde, an ihren Knien und trank ihr das Lied von den Lippen, und sie wußte, wenn die Großmutter das sang, dann erzählte sie auch bald von der Franzosenzeit und von lieben Toten. Unter dem Herzen dieser Frau hatte Hildens Mutter gelegen, und die grenzenlosse Güte dieses Herzens war auf die Tochter übergegangen, nicht aber seine Festigkeit und Stärke. Hildens Mutter gehörte zu jenen Menschen, die aus Gutmütigkeit heiraten können und ihr Mitgefühl mit dem Werbenden für Liebe nehmen. Sie war wehrlos in der Hand ihres Mannes. Dieser Mann war der schwere, ewig lastende Schatten in Hildens Kindheit. Er war ein Selbstling von jener Art, die in Gegenwart eines vor Hunger Sterbenden einen Kapaun mit Genuß verzehren kann, die vielleicht ein Stückchen her- geben würde, wenn man sie daran erinnerte, aber nie von selbst auf diesen Gedanken verfällt. AlsKaufmann" er vertrieb als eine Art Stadtreisender allerlei Dinge für andere Geschäfte dejeunierte, dinierte und soupierte er in besseren Restaurants und empfand es wie eine Niedertracht von seiner Frau, daß sie immer wieder Mittel für den Haus- halt verlangte. Die wenigen Bissen aber, die er den Seinen hinwarf, würzte er ihnen mit hämischen, kränkenden Reden, und wenn er vollends angetrunken nach Hause kam, dann konnte er stundenlang immer in derselben Sophaecke sitzen und immer dieselben peinigenden Bosheiten wiederholen. Es war ein schlimmer, schlimmer Tag gewesen, als aus diesem Hause die Großmutter für immer geschieden war. Und nicht zu mahnen brauchte man die Kleine, daß sie hingehe und die Blumen auf dem Grabe der Heimgegangenen be- gieße! An jedem Tage der milderen Jahreszeit machte'sie sich unaufgefordert aus den Weg nach dem Friedhof. Und wenn sie ihr frommes Werk getan hatte, setzte sie sich auf das Gitter des Grabes und dachte daran, wie schön die Groß- mutter gesungen hatte: Umglänze mich, du Unschuld früher Jahre, Du mein verlor'nes Paradies! Du süße Hoffnung, die mir bis zur Bahre Nur Sonnenschein und Blumenwege wies. Und bei dem WortBahre" sah sie immer die Groß- mutter auf der Bahre liegen, und dann mußte sie weinen. Neben der Großmutter lag auch die Tante Romona, die wunderschöne Spanierin Romona Biego, die mit 24 Jahren schon acht Kinder gehabt hatte, und das jüngste lag ihr im Arm. Das war ein gefeierte Sängerin gewesen, und als die kleine Hilde einmal die herrliche Frau gesehen hatte, auf dem Divan liegend, ganz in weißen Gewändern und eine Ziga- rette rauchend, da war sie ihr als die oberste und heiligste aller Frauen erschienen. Das Grab der Tante Romona pflegte sie auch, und dann wandelte sie oft stundenlaug zwischen den Hügeln des Friedhofes schauend und sinnend umher und fühlte sich heimischer als in der Gegenwart ihres Vaters. Zwischen diesem Manne und seiner ältesten Tochter war ein Gegensatz von Ewigkeiten her. Ihr Wesen war von jenem Adel getragen, dem am letzten Ende doch mit aller Brutalität nicht beizukomnien ist, der wie eine uneinnehm- bare innere Festung das Herz umgibt. Das aber ärgerte ihn. reizte ihn, und er schalt sie hochmütig, übergeschnappt und verhöhnte ihren regen Bildungstrieb. Sie duldete tapfer an der Seite ihrer Mutter und half ihr heimlich, soviel sie konnte, in ihren Aengsten und Nöten. Ihrem stolzen, wahrheits- liebenden Wesen war alle Heimlichkeit zuwider: aber sie be- griff, daß es gegen einen gemeinsanien Feind zusammenzu- stehen galt. Und sie fürchtete ihn: er hatte sie wiederholt ge- schlagen. Einmal hatte er sie geschlagen, als sie bis spät in die Nacht das Haus hatte hüten müssen und eingeschlafen und durch langes Klopfen und Rütteln an der geschlossenen Haustür nicht zu erwecken gewesen war. Da, als sie wieder einhüten sollte und der Vater ihr streng befohlen hatre, weder zu schlafen noch sich einzuschließen, setzte sie sich an die Haustür, lehnte den Kopf dagegen und schlief beruhigt ein. Wenn die Haustür aufging, mußte sie ihren Kopf treffen, und dann mußte sie sicher erwachen. Als die Eltern sie so fanden, erklärte die Mutter, daß sie nicht wieocr ausgehen werde, wenn das Kind nicht zu Bett gehen dürfe,, was ihren» Gatten zu sehr ausgedehnte,» und sehr ironischen Bemerkun» gen Anlaß gab. Nur nach langen Kämpfen und unter verletzend spät- tischen Glossen hatte er zugegeben, daß Hilde dem dringenden Rat ihrer Lehrer folge und ins Präparandcum eintrete. Und bald, nachdem dies geschehen, hatte er seine Familie verlassen. Er gab ihnen keinen Pfennig zu ihrem Unterhalt: aber den» noch wünschten sie ihn nicht zurück: trotz allem Mangel und aller Sorge schien es ihnen, als wäre der Himmel heiterer geworden. Mit treu vereinten Kräften schlugen sie sich durch. Aber dann wurde die Mutter krank und kränker, und endlich lag sie ein ganzes Jahr lang auf den, Schmerzenslager. Nun mußten sie den Gatten und Vater doch an seine Pflicht ge- mahnen, und auf Mahnen und Drängen kam er ihr halb- Wegs und mit Verwünschungen nach. Hätte Hilde nicht eine Freundin gehabt, die ihr oft geholfen, so hätte sie das Se- minar verlassen und einen Dienst annehmen müssen/ Aber es kam der Tag, da sie mit drei kleineren Geschwistern am Sarge der Mutter stand. Da plötzlich erschien auch eine Tante mit ihren Töchtern und mit Trauerkränzen, und siehe, sie er» hoben ein mehrstimmiges, schallendes Klagegehcul. Geht hinaus!" sagte Hilde. Die Tante glaubte nicht recht zu hören. Drei Jahre hat sie gelitten, und Ihr habt Euch nicht um sie und nicht um Ihre Kinder gekümmert. Geht hinaus und nehmt Eure Kränze mit." Und die Klageweiber schlichen betreten mit ihren Kran» zen davon.-.«. Ein Bruder ihrer Mutter gab ihnen nun das Not- dürftigste zum Leben. Die Verstorbene hatte immer darauf gehalten, daß ihre Kinder, wenn es irgend zu erschwingen