gehörk, mit Appetit frühstückte: er trank zwei Gläser Tee, halb mitMilch gemischt, und aß eine ganze Semmel zu fünf Kopeken auf.Dann warf er einen sehnsuchtsvollen Blick auf Werners Brot, dasnoch unberührt war, und sagte:„Und Du— warum ißt Du nicht? Iß doch, das gibt DirKraft."„Ich mag nicht."„Na, dann esse ich's aus. Darf ich?"„Meinetwegen. Du hast einen gesegneten Appetit, Serjoschal"Statt der Antwort begann Sergej mit vollem Munde, natürlichfalsch, zu singen:„Feindsel'ge Stürme dräuen über uns...Nach der Verhaftung war Sergej in trüber Stimmung: dashatten sie nicht gut gemacht, das war ein böser Durchfall; aber ersagte sich: jetzt heißt es, etwas anderes gut machen— nämlich dasSterben, und er wurde wieder ganz vergnügt. Und so seltsam esklingen mag: schon am zweiten Morgen, den er in der Festung vcr-brachte, begann er mit gymnastischen Ucbungen nach dem höchstrationellen System eines Dänen namens Müller, dessen begeisterterAnhänger er war. Er zog sich nackt aus und führte zur größten Ver-wunderung des ihn unruhig beobachtenden Wachtpostens alle acht-zehn vorgeschriebenen Uebungen exakt aus. Die Tatsache, daß derPosten ihn beobachtete und sichtlich verwundert war über seineExperimente, konnte ihn als Verfechter des Müller'schen Systemsnur freuen; und wenn er auch wußte, daß er keine Antwort be-kommen würde, sagte er doch zu dem durch das Fensterchen starren-den Auge:„Ja, Bruder, die Sache ist nicht ohne>— das kräftigt! Esmüßte bei Euch im Regiment eingeführt werden!" rief er in über-zeugungsvollem Tone, doch freundlich genug, um den Soldatennicht zu erschrecken. Er ahnte nicht, daß dieser ihn einfach für ver-rückt hielt.Die Todesfurcht trat an Sergej nur allmählich, gleichsam ruck-weise heran: als wenn jemand mit der Faust ausholte und ihn vonunter her mit aller Kraft gegen das Herz stieße. Es wahr mehrschmerzhaft als furchtbar. Die Schmerzempfindung vergeht— nachein paar Stunden aber erscheint sie von neuem, und jedesmal wirdsie stärker und andauernder. Und schon beginnt sie, wenn auch erstunbestimmt, die Umrisse irgendeines großen, unerträglichenGrauens anzunehmen.„Hab' ich am Ende Furcht?" fragte sich Sergej verwundert.«Das wäre doch sehr töricht!"s Fortsetzung folgt.)8cdulerlclbftmor<leund ScbuirUnden*Von Otto Rühle.II.Eine Untersuchung speziell der Schülerselb st morde habenGuttstadt für die Jahre 1883—1888 und Eulenburg für die Jahre1880—1903 vorgenommen. Guttstadt unsersuchte 289 Fälle(240 Knaben und 49 Mädchen), davon entfielen 82 auf höhere,207 auf niedere Schulen. Von ersteren haben sich wegen Examen-furcht, NichtVersetzung und nicht bestandenen Examens 15 Knaben,von letzteren aus denselben Gründen je ein Knabe und ein Mädchengetötet. Sonstige mit dem Schulbesuch zusammenhängende Gründewaren bei fünf Knaben höherer Schulen, acht Knaben und einemMädchen niederer Schulen für die Tat bestimmend gewesen. Eulen-bürg stellte aus den Akten des preußischen Kultusministeriums für1880— 1903 insgesamt 1152 Schülerselbstmorde fest; davon 812 Fällein niederen, 340 in höheren Schulen. In mehr als einem Drittelder Fälle waren Furcht vor Strafe, vor dem Examen. Scham überNichtversetzung die Beweggründe der Tat; in 10 Proz. der Fällebildeten Geistesstörung, nervöse Ueberreizung nsw. den Grund.Aus beiden Statistiken geht klar und unzweideutig eine schwereSchuld derSchule hervor. Examenplage und Zensuren-furcht, zwei alte Uebel besonders der höheren Schulen, dazu Furihtv o r S t r a f e, die in erster Linie die Gemüter der Volksschüler mSchrecken versetzt, treiben einen beträchtlichen Prozentsatz der jugend-lichcn Selbstmörder in den Tod. Man weiß, daß die Schulprüfungenauf die körperliche Gesundheit vieler Schüler einen zweifellos nach-teiligen Einfluß ausüben. Dr. Jgnatieff hat gefunden, daß 79 Proz.der von ihm beobachteten Schüler während der Prüfung durchschnitt-lich IV2 Kilogramm an Gewicht verloren; zu ähnlichen Resultatenkam Dr. Kosinzoff. Erstcrer gelangte zu der Ueberzeugung,«daßunter den gegebenen Umständen die Examina in ihrer Wirkung aufden jugendlichen Organismus einer schweren Krankheit vergleichbarseien, welche bedeutende Störungen der Ernährung und der Gewebezur Folge hat und jedenfalls auch dasjenige Organ nicht unberührtläßt, welches während der ExaminationSperiode am angestrengtestenarbeitet, das Gehirn". Beide Beobachter halten die große nervöseErregung, in welche die Kinder während der Prüfung geraten, dieihnen den Schlaf, den Appetit raubt und sich in Form von Furcht,allgemeiner Unruhe, gedrückter oder krankhast gehobener Gemüts«ftimmung äußert, für sehr verhängnisyoll. Gar viel, bemerkt hierzunoch Dr. Baer, trägt zu der unheilvollen Wirkung die übern, äßigoBedeutung bei. die das moderne Faniilienleben dem Fortkommen derKinder in der Schule beimißt. Bildet doch in der Familie, nament-lich der mittleren und oberen Gesellschaftsklassen, die Zensur, derSchulplatz, die Versetzung der Kinder den Mittelpunkt allerEreignisse, um die sich zeitweise alles dreht. Steht nun der Schülerin den meist überfüllten Klassen dem pädagogisch und psychologischnicht immer genügend befähigten Lehrer ftemd und ungekannt gegen-über, ist er zeitiveise sogar seiner vor- und eingebildeten Meinungpreisgegeben, ist der Lehrer häufig wegen Diangels an Zeit undGelegenheit nicht imstande, die Eigenarttgkeit des Schülers kennenzu lernen, so kann es nicht ausbleiben, daß er den einen oderanderen der Schüler falsch beurteilt und durch eine falsche, vielleichtauch ungerechte Behandlung in die Verzweiflung treibt. Man wirdalso, und auch Siegcrt teilt diese Meinung, einen Teil der Kinder-selbstmorde«aus gekränktem Ehrgeiz" ebenfalls mit auf das Kontoder Schule setzen müssen. Bei Guttstadt find dies 19 Fälle von 289.Vielleicht auch«religiöse Schwärmerei", die ja im Religions-Unterricht unserer Volksschule eine ausreichende Vorbereitung undAnbahnung findet. Im übrigen ist durch zahllose von berühmtenund hervorragenden Pädagogen, Aerzten usw.(Griesbach, Wagner,Trüper, Kemsies, Axel Key, Mosso, Erisman, Kraepelin usw.) vor-genommene Untersuchungen ein Einblick in den Unterrichtsbetriebhöherer wie niederer Schulen gewonnen worden, der imvollsten U», fange bestätigt, daß«ein irrationell ausgeführterSchulunterricht einen krankhaften Einfluß auf das Nerven-system auszuüben sehr wohl geeignet ist". In unserenSchulen ist leider durchgängig ein solcher«irrattonell ausgeführterSchulunterricht" anzutreffen. Siegert, der selbst Lehrer ist, hält dieUnterrichtsziele der Volksschule für zu hoch, eine Ansicht, der wirnicht beipflichten können. Würde durch Beseitigung deSReligionsunterrichts den Kindern mehr Freiheit, Zeit undKraft für wissenschaftliche Stoffe eingeräumt, so wäre die Ueber-bürdung des Geistes, die Malträtierung deS Gedächtnisses, die Ab-spannnng der Nerven bei weitem nicht so groß wie heute, wo manmit Dogmen die Denkkrast erstickt und nnt Bibelsprüchen das Ge-dächtnis verwüstet. Aber sonst hat Sicgert recht, wenn er schreibt:„Wir fordern nur zu oft pädagogisch Nutzloses und psychologischUnmögliches, Dinge, welche wohl zum augenblicklichen Prahlen, abernicht zur bleibenden Förderung der EntWickelung deS Geistes ge-eignet sind.... Man werfe die systematisch zusammengeklügeltenLehrpläne ins Feuer und schaffe neue, einfache, von hygienischenGrundsätzen beratene, die mit dem unnützen Gedächtnisballast end-gültig aufräumen, die kräftezersplitternde Vielwisserei vermeiden.den, Unterricht einen einheitlichen Zug geben und die Kinderwelt zuredlen Einfachheit und Natürlichkeit im Denken. Fühlen und Wollenzu erziehen vermögen.... Und laßt den Körper nicht die Fort-schritte des Geistes bezahlen. Beschafft für die Bildung des Körpersdie Zerforderlichen Mittel und gewährt die hierzu nötige Zeit.Steigert die Körperkrast, stählt die Nerven, bringt Gleichgewicht indie Ausbildung von Körper und Geist. Gebt Raum den, fröhlichenKinderspiel, der Körperübung in Luft und Sonnenschein. Veranstaltetvon Schulwegen Spaziergänge in Wald und Feld... so erzieht ihrKinder, denen der Selbstmordgedanke auch nicht im Schlafe bei-kommen kann."Alle diese Schattenseiten und Uebelstände des Schulbetriebeswirken aber nicht entfernt so stark, so ängstigend und lähmend aufdas Kind ein wie die Furcht vor Strafe. Der abscheulicheSchulbakel, der zur Schande unserer vielgepriesenen Erziehungskunst»och immer Herrschaftsrechte in den Schulkasernen und aus denSchulkasernenhöfen genießt, hat sicherlich die meisten Kinder in denTod gejagt.„Furcht vor Strafe" stellt unter den jugendlichenSelbstmördern, namentlich Volksschülern, mit das stärksteKontingent. Nach' den angeführten amtlichen Ermitte»lungen nahmen sich von 104 in Frage kommenden Volks-schülern 43 Proz., von 35 Volksschülerinnen 65 Proz. aus dieserUrsache das Leben. Eulenburg stellt 35 von ihm gesammelteSchülerselbsimordfälle zusammen, von denen in 4 Fällen die Mottveunbekannt find; in 12 Fällen aber bildeten Schläge, Furcht vorSchlägen sowie Drohungen mit Schlägen, Borwürfe und Zurecht«Weisungen die Selbstmordursache. Auf höheren Schulen darf nichtgeprügelt werden; die oben erwähnte Statistik wies denn auch unter62 Fällen nur einen einzigen auf, in dem die Furcht vor Schlägender Anlaß zum Selbstmord war. Mit dem Stocke treibenEltern und Lehrer aus den Kindern nicht bloßalle Selbstachtung und Selbständigkeit, allebesseren Herzensregungen und edleren Gefühlehinaus, fie treiben die Bedauernswerten sogar ind e n T 0 d. In zahllosen Fällen, wo Furcht vor Strafeals Selbstmordmotiv in den Statistiken verzeichnet ist. habeneingehende Ermittelungen ergeben, daß es sich immer umSchul st rafen handelte. Je roher und ungezügelter die Straf»disziplin deS Lebens ist, je mehr das Kind sich vor den hartenZüchtigungen und Mißhandlungen deS LehrerS ängstigt und fürchtet,desto begründeter ist der Vorwurf, den man dlesem System zumachen berechtigt ist. Wenn Eulenburg. Siegert, Gramzow u. a.meinen, es komme nur selten vor, daß der Schule nach dieser Richtunghin ein Verswulden beizumessen sei, so kennen sie die Volksschulenicht oder sind zu sehr Partei, um objektiv zu urteilen.