Mensch, zu Grabe, weil auch bort daS gleiche große Gesetz herrschtwie unten auf der kleinen Erde. Ueberall greift der Tod in dieSpeichen des Weltcnrades, damit dessen Lauf nicht stocke, und weraufmerksam sein Walten oerfolgt, dem erscheint er nicht als dasschreckhafte Knochcngcspenst, sondern als der größte Freund undWohltäter alle» Bestehenden. Ohne ihn gäbe ej keinen Fortschrittund kein Leben im Weltall!--Jonas Lic.' Mit Jonas Lie ist wieder ein Großer auS der Blütezeit nor-kvegifcher Dichtung dahingeschieden. Neben Ibsen, dem Dramatiker,und Björnson, dem Lyriker, steht er als die eigentlich epische Be-gabung, als die allseitige, aufnehmende Persönlichkeit, die nichtmit wildem Ungestüm die Welt reformieren will, noch ihre eigenenWerte in die Wirklichkeit hineinträgt, sondern ganz dem Schauenund Mitfühlen hingegeben, die mit durstigen Sinnen aufgesogeneUmwelt in einer innerlichen Schönheit wieder ausstrahlt undmit den alliebcnden Armen ihrer Kunst Mensch und Natur um-faßt. Wir dürfen in Lie den Begründer des nordischen Romansverehren, der, von fremden Einflüssen ausgehend, allmählich eineganz originale Stimmung und seelische Charakteristik zu gestaltenwußte, von der all die späteren Meister, ein Garborg, Bang,Eeijerstamm, ausgegangen sind.Hoch oben im äußersten Nord, in dem kleinen StädtchenTromsö, wo sein Vater Stadtschultheiß war, ist der Junge JonasLauritz aufgewachsen. Hier, in der wild grandiosen Natur derFjorde und Fjelde, unter rauhen Seeleuten ist seine Seele zumLeben erwacht und diese Jugendeindrücke klingen wie ein Grund-aktord durch sein Wesen und Werk. Früh regte sich das finnischeElement in seinem Blute, das ihn zu den mystischen Gewaltendes Traumes und der Wunder zog, lieber als der Weisheit desLehrers lauschte er den spannenden Gespenstergeschichten der Ge-sindestube und dämmerte dahin in dumpfen Phantasien. Doch da-neben trat bald auch das norwegische Teil seiner Abstammunghervor, das Praktische zog ihn an, so daß eS eine Zeitlang seinfehnlichster Wunsch war, Buchbinder oder Büchsenschmied zuwerden, und ein scharfer Wirkhichkeitssinn lenkte seine Augenauf die Umgebung, deren mannigfache Gestaltungen er mitstaunender Beobachtung zu ergründen suchte. Auf dem Wege nachder Schule blieb er plötzlich stehen, von irgend einer Erscheinungseltsam gepackt, und er war dann so ganz in seine Betrachtungverloren," daß er Zeit und Stunde vergaß und zu spät in dieSchule kam. So ist er denn ganz und gar kein Musterschülergewesen; alles in ihm drängte hinaus aus der dumpfen Stube,und mit 12 Jahren glaubte er sich am Ziel seiner Sehnsuchtnach Meer und Abenteuern als er in die Marineschule nach. Fredcrilsvaern kam. Er machte sogar als Kadett an Bord desSchulschiffes eine Reise mit. Aber seine Kurzfichtigkeit zwangihn, dem Beruf des Seemanns zu entsagen, und er konnte nurnoch mit Leidenschaft von seiner schönen Marinezeit den Gefährtenauf der Lateinschule zu Bergen vorschwärmen, wohin ihn nunder Vater brachte. Mit 14 Jahren hatte so der junge Lie bereitswechselvolle Erlebniffe in sich aufgenommen; seine Phantasieschwelgte in der bunten Abenteurerwelt, wie sie die Romanevon Cooper und Marryat enthüllten, und weilte mit Begeisterungin der Sphäre eines hohen Patriotismus, wie er auS den Werkeneines Wcrgeland und Welhaven klang. Auf der Heltbergschen(Presse in Christiania vollendete er endlich seine mühselige Ghm-uasialbildung, und hier ist er zum ersten Mal mit Ibsen undBjörnson zusammengekommen. Aber sein Sinn stand nun nichtaach jungem Dichterruhm, den kühnen Flug der Gedanken undTräume hatte er verscheucht; das praktische Element seines Wesensgewann die Oberhand und ließ ihn dem Studium der Rechte sichtzuwendcn. Dazu kam freilich als zweiter wichtiger Grund seineWerlobung mit der Tochter des ProkuratorS Michael Lie in Kongs-binger; nach siebenjähriger Wartezeit durfte er endlich die Ge-liebte heimführen, nachdem er sein Examen gemacht und sich alsAdvokat in der Heimatstadt seiner Frau niedergelassen hatte. Vonwelch segensreichstem Einfluß dies« Ehe auf den Dichter gewesenßst, das hat er selbst des öfteren dankbar erzählt. Seine Frauwar ihm die beste Gefährtin, die ideale Mitarbeiterin. Undder größte Schmerz seiner letzten Jahre ist ihr Tod gewesen, denjer nicht mehr überwunden hat.Lie nahm als Anwalt am Geschäftsleben einen so be-beutenden Anteil, daß er in die 1855—68 hereinbrechende großeWaldspekulationskrisis stark verwickelt wurde. Der Zusammen-bruch mehrerer Banken und die Uebernahme von Bürgschaftenbrachten es dahin, daß sich Lie plötzlich einer Schuldenlast vonmehreren hunderttausend Kronen gegenübersaß Und nun er-wacht in ihm von neuem der Geist der luftigen Phantasie, der»inderglauben an das Wunder und die Dichtung. Walter Scottsoll sein Vorbild sein; wie der Poet von AbbotSford will auchjer in unablässiger Schöpferkraft die Last der Verpflichtungen vonsich wälzen und Erlösung suchen von der Unfreiheit deS LebensIn der Ungebundenheit der Poesie. ES war ein utopischer Traum,den Lie sein leicht erregter Sinn borgaukelte, aber er brachteihn mit 83 Jahren zum dichterischen Schaffen, dem nun seinganzes langes Leben gewidmet sein sollte. Schon seit 1859 hatteLie wissenschaftliche und politische Artikel geschrieben und 1866einen Band Gedichte veröffentlicht. Ein unerschöpflicher Schatzdes Erlebten stand ihm nun zu Gebote, da er seinen erstenRoman schuf. Da wuchs vor ihm die einsam schwere und furcht-bar schöne Gewalt der nordischen Natur auf, die seine Kindheitumgeben; da stand ihm lebendig da? Seemanns- und Fischerlebenseiner Landsleute bor Augen, und in seiner Phantasie wachtenall die geheimnisvollen Sagen und Geschichten von Koboldenund Geistern auf, die sein fabelgieriger Geist so treu in sich auf-genommen.Lies erster Roman„Der Hellseher"(1376), der sogleich einenaußerordentlichen Erfolg hatte, ist ein Niederschlag dieser nordisch«phantastischen Stimmungen, etwas wirr in der Komposition, abervon einer gewaltigen Kraft der Naturschilderung, deren berücken-der Zauber die Seele in mystische Visionen verstrickt. Lie erhieltfür diese Leistung ein Reisestipendmm, mit dem er zunächst seinegeliebte nordische Heimat wieder besuchte, um dann in dem höchstenGegensatz der italienischen Landschaft neu« Eindrücke zu suchen.In dem kleinen Ort Rocca di Papa, in der Nähe von Frascati, imAlbaner Gebirge, ist sein zweites Buch entstanden.„DreimasterZukunft", daS ein so anschauliches Bild vom Nordlandsleben gibt,von Fischern und Schiffern, von den herumziehenden Finnen undihrem Streben nach Erwerb, vom Kampf des Menschen mit derNatur, dem Sterben der Alten und dem Siege der Jungen. DerRoman zerfällt in eine Reihe prachtvoller Einzelerzählungen, dienur der geheimnisvolle Hauch der �großen gemeinsamen Stimmunguntereinander zusammenhält. Weit entfernt von der Heimat, um-weht von südlicher Luft und von südlicher Sonne erwärmt, hat hierder Dichter seiner Heimat innerstes Wesen in sich heraufbeschworen.Sein nächstes Werk„Der Lotse und sein Weib"(1874), daS ihmdie Dichterpenston vom Storthing eintrug, führte aufs neueSzenen aus dem Volks- und SeemannSleben vor, aber in einergeschlossenen künstlerischen Form. Hier rührt Lie bereits an daSEheprohlem, und der Beifall, den ihm daS neue Buch eintrug, der«anlaßte ihn, sich der Gesellschaftsstudie zuzuwenden und seinMilieu in den höheren Ständen zu wählen. Zunächst mit wenigGlück. Es folgen einige Romane, die nicht mehr die lebensvolleAnschaulichkeit der ersten Werke zeigen, sondern trocken und kon-struiert sind, und ein weitere» Zeichen der künstlerischen Unsicher-heit, die Lie ergriffen hatte, sind seine Versuche auf dem Gebietedes Dramas, die sowohl in der historischen Tragödie wie immodernen Stück und im Märchenspiel mißglückten. Wohl leuchtenauch hier dichterische Schönheiten auf, aber selbst sein bestes Drama„Lindelin", dessen phantatistischer Märchenton aus der TiefeLiescher Traummystik emporsteigt, hat sich nicht auf der Bühnehalten können. In dem Schiffsroman„Rutland", der Weihnachten1886 erschien, fand sich der Dichter wieder im heimischen Nord, diealte Kraft und Schönheit erstand wieder in seinen Werken. Dochsein realistischer Sinn, sein« Vorliebe für psychologische Zergliede-rung drängten von der reinen Schilderung immer mehr zumsozialen Roman, in dem die damalige Jugend das Hauptgebiet derDichtung erblickte.Im Jahre 1882 ging Lie nach Paris und lebte hier still undzurückgezogen im Kreise der Seinen; nur die skandinavischen Malerund Dichter, die die französische Hauptstadt besuchten, fanden beiihm einen angeregten Mittelpunkt deS Verkehrs. In Paris sindnun die sozialen Romane Lies entstanden, die erst eigentlichseinen europäischen Ruhm begründeten und in denen eine leiseTendenz, ein anklägerischer Zug sich bemerkbar macht. Der Dichterder alle? verstehenden, alles verzeihenden Objektivität wird nichtetwa zum eifervollen Tendenzschriftsteller. Die leidenschaftsloseSchlichtheit der Darstellung, die ein inniges Mitfühlen durchdringt,tritt jetzt sogar stärker hervor, aber die Stoffe, die er wählt, dieVerteilung von Licht und Schatten, die Gruppierung der Szenenläßt die Ungerechtigkeit der sozialen Gliederung hervortreten undfordert das„Recht auf Glück" auch für die Schwachen und Er-niedrigten. Der Einfluß des französischen Romans auf diese Werkeist unverkennbar; besonder? hat daS Vorbild Balzacs gewirkt, demLie eine ausgezeichnete kritische Studie gewidmet hat. Nirgend?ist da? sonnenlose Dasein eines Stieflindes des Glücks ergreifendergegeben, wie in„Lebenslänglich verurteilt":„Ein Zusammenleben"schildert in erbarmungsloser Schärfe das traurige Bild einer Ehe,in der Mann und Frau nebeneinander hergehen, ohne sich seelischnahezutreten. Man vermißt in diesen Milieustudien, zu denenauckj„Die Familie auf Gilje und„Die Töchter des Kommandeurs"gehören, die warme Anteilnahme und die phantasievolle Wärmedes Dichters. Herrlich aber lebt das alles wieder auf in den Werken,die diesen sozialen Erzählungen folgen, in„Böse Mächte",„DerGroßvater",„Dyre Rem". Lie schildert hier Helden der Arbeit.er nimmt die Probleme der Frühzeit in einer verklärten Sphärewieder auf und schafft so Kunstwerke von unvergeßlicher Reinheitund einer klaren Größe. Mit der feinsten Seelenschilderung undder liebvollsten Erfassung der Umwelt vereint sich die alte Liebezum nordischen Geistcrwesen, die Macht des Spuks und des Traums,die überall das geheimnisvolle Walten der Trolle und Dämonenin Leben und Natur eingreifen läßt. Der Realist wird zum Seher,der Psychologe zum Propheten. Dr. P. L.Berantw. Redakteur: Georg Davidsohn. Berlin.— Druck u. Verlag: Vorwärts Buchdr. u. Verlagsanstalt Paul Singer Lc Co., Berlin L1V.