Reisekultur.
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( Nachdruck verboten.)
Bon Johannes Gaulle.
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auf der Sut fein. In der Betrachtung von Michelangelos „ Mofes bersenkt, drängt sich irgendein auf den Fremdenfang dressiertes Individuum an einen heran, um einem Klarzumachen, daß Michel angelo der größte Bildhauer aller Zeiten gewesen ist. In Deutschs land ist diese Sorte von Führern und Erklärern noch wenig vers Jüngst las ich in einem Blatte, das sich das Reisewesen resp. breitet. In einigen süddeutschen Städten fann man ihnen dann die Fremdenindustrie angelegen sein läßt, also von Interessenten und wann begegnen, in Berlin sind sie glücklicherweise fast undieser höchst zeitgemäßen Industrie herausgegeben wird, wie herrlich bekannt. Aber da Berlin eine Fremdenstadt par excellence ist und weit wir es dank den modernen Berkehrsmitteln gebracht hätten. bekanntlich die schönste Stadt auf dem Erdenrund werden soll, so Das Reisen sei ein eminent wichtiges Bildungsmittel, es schaffe liegt die Zeit vielleicht nicht mehr fern, wo es auch bei uns von Kultur, erlöfe die Völker aus ihrer Jfolierung, mildere die nationalen Führern und Erklärern wimmelt. Gegensäge und so fort.
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Die Stätten alter Kultur hat die Fremdenindustrie zu„ Sehens Da ich mich des Vorzuges erfreue, etliche Länder der alten würdigkeiten" umgewertet und dadurch jedem Menschen von Kultur, und der neuen Welt tennen gelernt zu haben, stimmte mich der Dithy- wenigstens zur Reisezeit, die Lust an den alten Kulturs rambus auf die Reisekultur, in den jener Artikel ausflang, etwas und Kunstschätzen berekelt. nachdenklich. Zunächst hatte der Verfasser, wie es häufig geschieht, die Fremdenindustrie an der Natur vollzogen. Früher betrat man mit Eine ähnliche Umwertung hat die Begriffe Kultur und Zivilisation verwechselt. Zweifellos schafft die Reise Kultur, fördert das Wissen und vertieft die Persönlichkeit des heiliger Scheu die Verge und die Gestade des Meeres. Wer sich den Reisenden jedoch nur unter besonderen Verhältnissen und Veraus- reise unterzog, der war mehr als einer von denen, die, wenn sie Strapazen einer Gebirgswanderung oder den Gefahren einer Sees setzungen, die heute nicht mehr oder nur in bescheidenem Umfange gerade zu zwölfen aufmarschieren, ein Dußend ausmachen. Das zutreffen. Das geschah zur Zeit der seligen Postkutsche und der Reisen ohne den Komfort und die Beförderungsmittel der Neuzeit fahrenden Gesellen, als die Reise selbst für den Besitzenden als ein feßt eine Persönlichkeit voraus, einen Menschen, der aus der Natur Ereignis galt, als etwas, das mit Mühe und Arbeit verbunden war. Kraft und Anregung schöpfen will, wenigstens aber einen Abenteurer, Man lese, welche sorgfältigen Vorbereitungen Goethe für seine der etwas erleben will. italienische Reise traf! Im achzehnten Jahrhundert und noch in der üblichen Beförderungsmittel bedient und Heute läuft der Neisende, der sich nicht der ersten Hälfte des neunzehnten galt zunächst die Erlernung der Hotels Logiert, Gefahr, als Landstreicher von der heiligen in fashionablen Sprache des zu bereisenden Landes als eine unerläßliche Bedingung; der Reisende mußte schon etwas Kultur befizen, Hermandad belästigt zu werden. Wir sind heute so zivilisiert ( nicht kultiviert!), daß wir" gemeint ist der internationale um sich überhaupt in fremden Ländern bewegen zu können. Reisepöbel den Komfort der Neuzeit nicht einmal auf der Reise Heute fommt man mit unserer geliebten Muttersprache sozusagen entbehren können. durch die ganze Welt. Und wer noch etwas Gouvernantenbildung Lloyd- oder Hapag- Dampfer ist zu einer Sprigtour geworden. Der Eine Dzean- oder Mittelmeerreise auf einem befigt, das heißt die englische und französische Sprache vergewaltigt, Kajüttenpassagier lebt an Bord genau so tomfortabel, speist Table der gilt als Weltenbummler comme il faut. Welt, wie daheim, im Theater oder auf der Promenade. Die Ver d'hote, raucht seine Henry Clay und blickt genau so blasiert in die allgemeinerung der Lebensgewohnheiten, Sitten und Gebräuche, die der Fluch unserer Zeit ist, erfährt durch die Reisekultur einen weiteren Anreiz.
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Landlebens
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Das
Die Reisenden der alten Zeit waren auch aus einem anderen Holz geschnitzt als der moderne Reisepöbel. Zur Zeit der Postfutsche und der Kleinstaaterei begab sich nur der auf Reisen, der etwas in seinem Beruf erlernen wollte, oder der allgemein Kenntnisse sammeln und starte Eindrücke in sich aufnehmen wollte. Heute reist man aus Abwechselungsbedürfnis oder nur der Mode wegen, um Ueberall, wo die Fremdenindustrie festen Fuß gefaßt hat, widelt etwas zu sehen, das man nach der Ansicht des Bildungsphilisters sich dasselbe Bild vor uns ab: Lurus- Expreßzüge, Hotels nach gesehen haben muß: die Alpen , die italienischen Kunststädte, die Schema Savoy, Table d'hote und blasierte Globetrotter. Spielhölle in Montecarlo, Paris , das heißt das Paris der Halb- Land wird überschüttet mit den Luyuseinrichtungen der Städte, welt und anderes mehr. Die Sehenswürdigkeit" ist eine Prägung Die Natur bildet gerade noch den Hintergrund des urbanisierten neuerer Zeit, und die Reisekultur ist zu einem Reisesport geworden. eine Kulisse, vor der sich das alberne fulturlose Gea Das Reisen erfordert teine Vorbereitung noch eine Vorbildung mehr triebe der oberen Finanzschicht abspielt. Es gibt in Europa kaum es sei denn, daß man das gefüllte Portemonnaie hierzu zählt. noch eine Landschaft, die von den„ Segnungen" der Reiseindustrie Das einzige, womit der moderne Weltenbummler und Tourist sich verschont geblieben wäre. Die Natur ist mit einem jammervollen beschäftigt, ist das Studium des Eisenbahnkursbuches, die Zusammen- Kulturfirnis überzogen, die außerhalb der Städte lebende, ihrem stellung der Rundfahrtkarten und was oft als die wichtigste An- primitiven Berufe nachgehende Bevölkerung mit allen Schikanen gelegenheit empfunden wird die sorgfältigste Auswahl der Garderobe. forrumpiert worden. Ich kenne einige Fischerdörfer, die sich vor Wir haben es wahrlich weit gebracht! Der Schnellzug befördert einem oder zwei Jahrzehnten noch einer wurzelständigen, biederen den Touristen in einem Tage von Berlin bis an den Fuß der Alpen. Bevölkerung erfreuten, aber dann breitete sich die Fremdenindustrie Auf Gebirgsbahnen gelangt er, gemächlich die gewohnte Bigarre aus, das Fischerdorf avancierte zu einem Badeorte, aus den stier rauchend, in die Gletscherwelt, auf der Beranda eines fashionablen Hotels nadigen, sich ihres Menschenwertes bewußten Flunderfischern genießt er bei einer Flasche Sekt die in den Reiseführern als besonders wurden raffinierte Fremdenjäger ein trinkgeldlüsternes Ge lohnend geschilderten Fernblicke über die schneebedeckten Höhenzüge, und findel, das die städtischen Badeathleten um ihre Silberlinge der Haustnecht sorgt schließlich dafür, daß er den Sonnenaufgang nicht erleichtert. verschläft. Hier und da werden auch die Naturschönheiten gegen ein Extratrinkgeld dem Reisenden erschlossen.
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Der moderne Reisesport hat etwas herangezüchtet, das aller Kultur Hohn spricht: die Fremdenindustrie mit ihrem widerwärtigen Drum und Dran. Sie hat der Physiognomie der Großstadt ihren Stempel aufgedrückt. In Paris , Rom , Berlin , London und New York reist und logiert man ungefähr nach derselben Schablone. Jede der genannten Weltstädte hat ihr Hotel Bristol, Savoy, Monopol, Bentral uff. aufzuweisen, von innen und außen schablonisiert. Wer eins dieser fashionablen Riesenhotels] tennt, tennt sie alle. Auch die Restaurants und Läden der Großstädte tragen den Bedürfnissen der Reisefere im weitesten Maße Rechnung: jeder Gast und Käufer ist eine Nummer und wird dementsprechend hochgenommen.
Neue Industrien sind durch den Fremdenverkehr ins Leben gerufen. Die Ansichtskarten- Industrie, die eine allgemeine Landplage gezeitigt hat, will ich übergehen, da sie ein Kapitel für sich ist. Biel größer ist das Unheil, das die Organisatoren von Gesellschaftsreisen angerichtet haben. In den Sommermonaten werden Scharen von Reisenden durch die Städte und ihre Sehenswürdig feiten", worunter auch die Museen und Kunstsammlungen zu verstehen sind, gleich Hammelherden von sachkundigen Führern getrieben. Es ist erstaunlich, was man alles gesehen haben muß, um auf der Höhe der Zeit zu stehen. Im Schweiße ihres Angesichts hasten die heraufgekommenen Gevatter Schneider und Handschuhmacher , die während ihres emfigen Erwerbsdaseins kaum ein veritables Delgemälde gesehen haben, durch die Museen und lassen sich von dem Führer darüber belehren, wer Raphael gewesen ist.
Wer abseits der großen Masse steht, dem wird jeder Kunstgenuß durch den Auftrieb der Hammel, pardon Menschenherden berekelt. In Italien , dem unglücklichen, von der Fremdenindustrie am gründlichsten verseuchten Lande, wird man seines Lebens überhaupt nicht mehr froh. Hier hat sich neben dem offiziellen Führertum der großen Reisegesellschaften noch ein privates Führertum heraus gebildet. Ob man St. Peter betritt, oder die Sixtina, die vatikanischen Sammlungen, die Villa Borghese , stets muß man vor„ Erklärern"
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Eine neue Nuance ist in das Reisewesen durch das Automobil gebracht worden. Galt es bis dahin als schik, fashionabel, standesa gemäß, sich eines Coupés im Luruszuge zu bedienen, so wird nun mehr der Hauptakzent auf das eigene Fahrzeug gelegt. Wer im Auto in Gilzuggeschwindigkeit die Landstraße unsicher macht, gilt als ein ganzer Kerl. Unserem Zeitalter fehlte noch gerade das Mittel der Entpersönlichmachung! Der Rest von Naturgefühl, den der moderne Mensch sich noch erhalten hat, wird ihm durch die Ges schwindigkeit des Fahrzeugs vollkommen ausgetrieben. Das Fahren in der Postkutsche und auch noch in der Eisenbahn war Mittel zum Zwed. Keinem Menschen fiel es ein, sich zu seinem Vergnügen von Ort zu Ort befördern zu lassen. Nach Erfindung der Kraft fahrzeuge ist das Fahren Selbstzwed geworden, die Kilometer fresserei überhaupt Zweck der Reise. Nun ist es ja eine persön liche Angelegenheit aller derer, die es sich leisten tönnen, in einer wahnwißigen Fahrt auf der Landstraße ihr Vergnügen zu suchen und dabei Kopf und Kragen zu riskieren vorausgesetzt, daß durch diesen Sport der oberen Zehntausend die per pedes apostolorum sich weiterbewegende Masse unbehelligt bliebe. Dies ist aber nicht der Fall. Nach der Statistik( die den Verhandlungen des Reichstages vom 13. Februar 1908 zur Grundlage gedient hat) hat der Automobil- Reisesport vom 1. Oftober 1903 bis 1. Oktober 1907 annähernd 5000 Unfälle verursacht; davon fallen 93 Proz. Kraftwagen zur Last, die dem Personenverkehr dienen, 7 Proz. Lastautomobilen. Berlebt wurden infolge eines Automobilunfalls 2419 Personen, getötet 145. Die Hälfte aller Unfälle kam auf Berlin . Diese Zahlen sprechen eine sehr beredte Sprache, um so mehr, da die meisten Unfälle durch Fahrzeuge verursacht worden sind, die als allgemeine Verkehrsmittel nicht in Betracht kommen, sondern lediglich einem sportlichen Zwecke dienen.
Betrachten wir das Auto vom hygienischen und ästhetischen Standpunkt, so ist seine Erfindung nur zu bedauern. Es hat einen allgemeine Zustand der Unsicherheit hervorgerufen; auf den Straßen der Stadt ist man faum noch seines Lebens sicher, aber auch auf der Landstraße ist der einsame Wanderer und Radler