Anterhaltungsblatt des Worwärls Nr. 152. Sonnabend, den 8 August. 1903 (Nachdruck derbsten.) j�aNa. Roman aus dem modernen Sizilien von Emil Rasmussen. _ Ein Stück vor„Gellia", wo der Korso sich zu dem kleinen dreieckigen Platze mit der Apotheke erweitert, kam man vor Sängern nicht von der Stelle. Ein junger Bergmann stand dort und schrie den Text zu einer rohen, echt afrikanischen Melodie, während der dichte Haufe von Kameraden an- dächtig lauschte, um sodann den letzten Ton aufzugreifen und zu einem lange schwirrenden, schrillen Gebrüll auszudehnen, das weit, himmelweit entfernt war von der Feierlichkeit, die über dem einfachsten Bauernchor des großen Nachbars ruht. Der alte Belladonna schob sich ziemlich kräftig durch das Gedränge, als er plötzlich einen Schrei hörte und, sich um- wendend, seinen Sohn mit blutüberströmter Brust am Boden liegen sah, während zwei Männer sich hastig entfernten, ohne daß auch nur eine Hand in der dichten Menge sich rührte, um sie aüfzuhalten. Der Baron feuerte seinen Re- volver in die Luft ab, ehe er sich zu dem Verwundeten nieder- beugte, und bald knallte es wie während eines Aufruhrs über den ganzen Korso, während das Gekreisch der Weiber von den nächsten Balkons die Luft erfüllte. Einundeinhalb Stunden später saßen Belcaro und Lo Forte bei Romeres und tranken an einem der auf die Straße gestellten Tischchen Kaffes . Es gab Menschen in Menge, aber kein Fremder hätte entdeckt, daß irgend etwas Merk- würdiges vorgefallen sei: die kleine blutige Episode war längst durchgesprochen und erledigt. Ebenso unerwartet wie ungerufen tauchte Herr Fica- rotta auf, begrüßte die beiden Herren wie alte Freunde und ließ sich an ihrem Tische nieder. Er lehnte den angebotenen Kaffee ab und bestellte einen Pezzo Duro mit einem Glas Marsala, den er später Lo Forte zu bezahlen gestattete. Er begann vo« Belladonna zu sprechen. Eben kam er von der Apotheke, wo der arme Junge noch unter der Be- Handlung der Aerzte lag, die übrigens einig waren, daß sein Leben zu retten sei. Der Musiker schien ob dieser glücklichen Wendung be- friedigt und äußerte eine merkwürdig unverstellte Erbitte- rung über das Geschehene. Hierauf rückte er mit einer Rolle zerfetzter Noten her- aus, die er Lo Forte in die Hand steckte, und während dieser darin blätterte, saß er da und pfiff, flötete und summte, machte mit seinem ganzen Körper in einer Art Musik, daß die Noten in Lo Fortes Händen förmlich lebend wurden. Als Ficarotta den Vorschlag machte, in die Wohnung des Ingenieurs zu gehen und den Abend mit Musik zu der- bringen, war dieser schon der Verführte, und da der� kleine Igel wiederholt versicherte, daß dies sie durchaus nicht zu einer Teilnahme an dem Konzerte verpflichte, kam es schließ- lich dazu, daß sie alle drei zu Lo Forte gingen Und musizierten. Der Ingenieur saß beim Flügel. Belcaro ließ sich in dem Halbdunkeln Hintergrunde des Zimmers in einem Korbstuhl nieder, lauschte und sann. Hier gab es einen Widerspruch, den er nicht zu- enträtseln ver- mochte. Der bloße Anblick dieser zusammengekleisterten Noten I Das Ausgewaschene an dieser ganzen verdächtigen Person! Dieser Anstrich eines Schmarotzers, eines M a f i u s u l Und all diesem zum Trotz diese bebende Innigkeit seiner Melodie, diese berückende Macht des Bogen- strichesl Was war dann Musik, wenn ein Mensch, der bis in das tiefste Innere ein Lump, eine Art geistiger Dirne war, die Sprache der Töne mit jener Gewalt meistern konnte, die das Leben nur dem leuchtenden Geist und dem Reinen im Herzen einräumt? Lo Forte ließ sich von der Musik ganz hinreißen. Seine Augen strahlten, und es war ein ungewöhnliches Leben in ihm. Auch Ficarotta zweifelte nicht mehr, daß er ihn ge- Wonnen hatte: kaum machten sie eine Pause, als er ihm schon die Zusage entriß, bei dem Konzert mitzuwirken. Belcaro war dieser ganzen Verführungsszene mit einer gewissen Bewunderung gefolgt, und was ihn namentlich er- t l götzte, war. daß der Musiker sich alle weiteren Attentate auf ihn selbst sparte: das war ein Herzcnskenner. der sein Pulver nicht auf die kalte Intelligenz vergeudete. Es war seiner Aufmerksamkeit auch nicht entgangen, daß Ficarotta während des ganzen Spieles mit Lo Fortes kleinem Gegenüber, der siebzehnjährigen Cleofe, kokettierte. die auf ihrem Balkon stand: die Gasse war so schmal, daß man einander von den beiden Balkons aus die Hand reichen konnte. Nun brachte Ficarotta das Gespräch auf sie und wurde zudringlich vertraulich. Er wußte, daß sie all die Zeit, wenn Lo Forte an seinem Arbeitstisch saß, von ihrem Fenster aus zu ihm hinübersah, und daß sie abends, wenn die Mutter und die Schwestern zu Bett gegangen waren, auf dem Altan stand, um einen Gruß von dem Ingenieur zu empfangen oder vielleicht ein paar Worte mit ihm zu wechseln, wenn er heimkam und seine Altantüre schloß. Ja, er wußte sogar, daß sie in der Nacht des Studentenfestes bis zum hellichten Morgen dagestanden und gewartet hatte, bis er heimkam. All diese erstaunlichen Kenntnisse und die freche Ver- traulichkeit, mit welcher sie vorgebracht wurden, machten den Ingenieur nachdenklich, und er pries seine Vorsicht, Cleofe niemals, auch nicht an jenem Morgen, da sie ihn um eine Begegnung im Vorraum des Hauses gebeten, nur den kleinen Finger gereicht zu haben. Er hatte eines Tages, als er zum Fenster trat, Pamfo hinter einer Tür drüben sich verstecken gesehen und war seitdem einen unklaren Argwohn nicht los- geworden, daß die Gräfin die arme Witwe und ihre drei Töchter benütze, um ihm nachzuspionieren— wenn er auch nicht zweifelte, daß Cleofe an jedem Tage, da er wollte, und mit vollstem Herzen die Seine geworden wäre. Kaum war das Spiel zu Ende, als der Geiger das Zimmer mit seiner widrigen Person zu füllen begann. Bel- caro sah keine andere Rettung als ihn zu Carmela zu führen. Erst da wurden sie ihn los, worauf Belcaro dem In- genieur einen Spaziergang vorschlug. Er hatte begonnen über Lo Forte zu grübeln, wie über ein philosophisches Problem. Es war in diesem klugen. ruhigen Menschen etwas Gleitendes, dessen er nicht habhaft � werden konnte. Nie zeigte er ein scharfes Profil: nie gab er sich hin, außer vielleicht einen unbewachten Augenblick in seiner Musik. Verbarg er etwas? War dies seltsam zurückhaltend Accentlose eine Maske, hinter welcher er sein innerstes Leben ungestört von allen Blicken leben wollte? Vermochte er etwa bloß in der Musik seiner Persönlichkeit Form und Relief zu geben? Oder beobachtete er nur, ohne sich durch fernere Ziele und Zwecke zu binden? War es eine Verliebtheit, die ihn so einkapselte und wem galt sie, Bionda oder Lidda? Belcaro ging neben ihm her, mitteilend und erzählend, anscheinend nur von seinen Berichten erfüllt, aber hinter jeder Mitteilung lag eine Frage verborgen, nach einer Ant- wort forschend, welche sich in einem Tonfall, einer unbcab- sichtigten und das Dunkel erhellenden Gedankenverbindung offenbaren sollte. Aber hier half kein Forschen. Lo Forte hielt sich in seiner Schale, wie die Schnecke sich in ihrem Hause hält, bis diaS Wetter vorbei ist— obwohl sie bis hinab zu den Tempeln gingen und die halbe Nacht umherwanderten. Den nächsten Vormittag erhielt der Marchese Besuch von Baron Belladonna, der vor Erregung zitterte. La Greca er- kundigte sich mit der wärmsten Teilnahme nach seinem jungen Freunde, der Liddas wegen ins Unglück geraten war, und der Vater kam hierdurch sogleich auf sein Anliegen zu sprechen. „Der Junge liegt da und phantasiert nur von Ihrer Tochter. Wir müssen trachten, aus den beiden ein Paar zu machen." La Greca wurde etwas reserviert. „So rasch nach dem Bruche.— Ihr Sohn ist ja auch sehr jung.— Endlich weiß ich nicht, ob Lidda ihn in dieser Weise liebt." Der Baron schien den letzten Einwand gaiiz-zu überhören. „Mein Sohn ist jung, aber er hat doch das Alter, in welchem viele unserer Ahnen sich verheirateten. Wir könnerr ja für die jungen Leute sorgen."
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25 (8.8.1908) 152
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