Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 215.
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Andreas Vöft.
Donnerstag den 5 November.
( Rachbruc berboten.)
Bauernroman von Ludwig homa, Nun hatte Sylvester über vieles nachzudenken, wenn er allein in seiner kleinen Stube saß.
Auch darüber, wie schmerzlich die Einsamkeit für ein junges Herz ist.
Da führte ihm das Schicksal einen Freund zu. Als er sein Zimmer gemietet hatte, fragte er bescheiden bei der Sekretärswitwe an, ob er täglich ein wenig auf der Geige spielen dürfe.
Frau Rottenfußer sagte, ihr wäre es recht, und auch der alte Revoluzzer werde nichts dagegen haben.
Wer das sei, der alte Revoluzzer, fragte Sylvester. Da zwinkerte Frau Rottenfußer mit den Augen und hielt die Hand an den Mund.
Ihnen wohnt."
Net so laut! Den alten Herrn mein' ich, der neben Sie schlich auf den Zehenspißen vorwärts und büdte fich vor der nächsten Türe zum Schlüsselloche hinunter.
.Er is schon daheim und hockt wieder am Fenster mit an Buch in der Hand. Ich frag' ihn nachher gleich wegen dem Geigenspielen."
Ich möcht' ihn nicht stören," sagte Sylvester.
Na, na! Er is net so arg. Bloß daß er net unter d' Leut' geht. Wissen's, weil er bei da Revoluzzion dabei war. Mei Schwager hat ma's erzählt. Da san viele dabei g'wesen, de später de schönsten Stellen friegt hamm. Aber der Herr Schratt hats Maul net g'halten, wie er scho Assessor war. Natürli hamm f'' n pensioniert, und er mag nix mehr wissen von de Leut'. Aber wie g'sagt, er is gar net so uneben, und i frag'n no heut'."
Frau Rottenfußer meldete bald, daß der Revoluzzer gesagt habe, er höre gern Musik, besonders wenn der Herr Mang fein Anfänger sei.
Sylvester spielte nun häufig. Von seinem Zimmernachbar hörte er lange Zeit nichts mehr.
Da ging er an einem Wintertage von der Universität nach Hause. Es hatte die Nacht vorher geregnet, und dann war Stälte eingetreten, so daß die Wege mit Glatteis überzogen
waren.
Plötzlich sah Sylvester vor sich einen alten Herrn, der bei jedem Schritte ausglitt und nun hilflos stehen blieb. Er stützte ihn und führte ihn sorgsam über die gefährlichen Stellen.
Vor dem Wohnhause Sylvesters hielt der alte Herr und sprach seinen Dank aus. Da stellte es sich heraus, daß er der Revoluzzer der Frau Kornelia Rottenfußer war.
Die erste Bekanntschaft war geschlossen, und wenn Sylvester nun mufizierte, fam Schratt von seinem Zimmer herüber, hörte zu und gab durch seine Bemerkungen zu erfennen, daß er in der edlen Kunst wohl erfahren war. Das führte bald zu regerem Verkehre.
Schratt fand Gefallen an dem offenen Wesen Sylvesters, und dieser fühlte sich hingezogen zu dem Alten, aus dessem Gefichte so fröhliche Augen blickten.
Der trug eine unverwüstliche Jugend in fich herum, wie alle die Männer, welche in der politischen Sturmzeit das neue Deutschland errichten wollten. Das gärte noch unter den weißen Haaren, und sie wurden ihr Leben lang keine fühlen Rechner.
Eines Abends fragte Schratt seinen jungen Freund nach Heimat und Eltern.
Als Sylvester Erlbach nannte, wurde er aufmerksam. „ Erlbach? Das Dorf bei Nußbach?"
" Ja. Waren Sie dort?"
"
Einmal, vor Jahren. Ich besuchte den Pfarrer Held." Den Herrn Maurus Held? Kannten Sie ihn?" Ob ich ihn kannte?" Der Alte lächelte und wurde wieder ernst.
Er war mein Frevid."
Da sprang Sylvester vom Stuhle auf und schüttelte ihm die Hand und sagte, daß er den verehrten Mann wie einen Vater geliebt habe.
Es tat ihm wohl, daß er von ihm erzählen durfte, Und dann kam die hastige Frage:
1908
Er war Jhr Freund? Wo haben Sie ihn kennen ge lernt?"
„ Das erzähle ich Ihnen ein anderes Mal, Herr Mang. Seute ist es zu spät, aber wenn Sie morgen herüberkommen, will ich einen langen Faden spinnen." Sylvester ging den nächsten Abend zu Schratt, dessen Wohnzimmer fich beim Lampenlicht ungemein behaglich ansah.
Die lange Wand neben der Türe war mit einer hohen Bücherstelle verkleidet; zwischen den beiden Fenstern stand der umfangreiche Schreibtisch, und darüber hingen alte Stahlstiche in hellbraunen Nahmen, deren Leisten in schwarzen Vierecken zusammenliefen.
Einige Steindrucke in ovalen Rahmen waren dazwischen angebracht, Brustbilder von Männern in altväterlichen Einer schaute absonderlich verwegen von der Wand
Trachten.
herunter, hatte die Arme über der Brust gekreuzt und einen breitfrämpigen Hut in die Stirne gedrüdt.
Vom Hute herab wallte eine Feder mit kühnem Schwunge. Sylvester trat näher hinzu und las die Unterschrift: Friedrich Hecker seinem Freunde und Mitkämpfer Hans Schratt zur Erinnerung an den 20. April 1848.
" Der Hans Schratt war mein Bruder," sagte der Alte, aber nun feßen Sie sich. Ich will sehen, daß Madame Rottenfußer Tee bringt."
eine Silhouette neben der anderen hing; meist jugendliche Sylvester setzte sich auf das geblimte Sofa, über welchent Stöpfe mit bunten Mützen.
Frau Rottenfußer sette den Teekessel über die Spiritusflamme, Schratt stopfte seine lange Pfeife und hüllte sich in duftende Wolfen.
„ Also, ich habe Ihnen die Erzählung versprochen. Wie ich gut Freund wurde mit dem Gottesgelahrten Maurus Held. Das heißt, damals ist er noch nicht soweit gewesen. Anno 1848 gesegneten Andenkens."
Der Alte schwieg eine Weile, dann sagte er lächelnd: ,, Gesegneten Andenkens, jawohl! Troß allem, was seir her gefagt und geschrieben wurde. Die gescheiten Menschen bon heute zucken die Achseln über das tolle Jahr. Ich sage Ihnen, junger magister in artibus, die Herzen waren heiß und der Verstand nicht immer fühl damals. Aber in den Leuten war mehr Weisheit, als in den trockenen Dienern der Nüglichkeit, die heute die Nasen rümpfen und sich das bißchen Freiheit wegstehlen lassen, was ihre Väter errungen haben,-
Und jetzt nehmen Sie Lee! Er fommt aus Fufian, wie mein trefflicher Freund Sporner versichert."
Sylvester tranf und nahm eine aufmerksame Miene an. Der Alte unterbrach sich oft; in den Pausen blies er den Rauch vor sich hin.
Sechsundvierzig Jahre. Und just solange ist es her, daß ich mit dem Studiofus Held Stuhl an Stuhl in der Sneipe saß und von der rosenroten Zukunft redete. Er war noch länger als Sie. Mager, derbknochig, gute Bauernrasse aus der Tölzer Gegend. Er redete nicht viel, und ich glaube fast, daß er heimlich über die Freunde lachte, welche die Welt verteilten.
Na, es ist auch manches mit untergelaufen, was man nicht ernsthaft nehmen konnte. Obenan die große Revolution in München , die nichts anderes war, als ein bischöflich genehmigtes Haberfeldtreiben.
Die Freiheit lag damals in der Luft. So einen Vorfrühling hat die Welt nicht mehr gesehen. Es war wie eine Ahnung in die Menschen gefahren, daß diesmal mit den Knospen noch ein anderes auffeimen müßte, und wer jung war, hielt freudig die Nase in die Höhe.
Man hat unseren lieben Altbayern hinterher eingeredet, daß sie auch die Flügel rührten, als der Freiheit Hauch mächtig durch die Welt ging. Es war aber nicht so schlimm, junger. Herr Mang. Wenn Sie den Freisinger Abscheu vor den Revolutionen haben, dürfen Sie ihn nicht auf unsere braven Mitbürger ausdehnen. Sie haben nichts gegen ihre Ge