Anterhaltungsblatt des vorwärts Nr. 27. Dienstag ven 9 Februar. 1999 (Nachdruck vervolea.1 2Si Das tägliche ßrot. Roman von C. V i e b i g. Ja, Mutter Reschke hatte ganz besondere Kinder, deren Tugenden sie jedem, der es hören oder nicht hören wollte, mit großer Geläufigkeit anpries.Wer haben aber ooch wat Ordentlichst for unse Kinder jetan," verfehlte sie nie hinzu- zusetzen.Was mein Mann un ik sind, wir jeben det Letzte hin for de Kinder i Schon alleene mit's Essen . Ik bin et Arturn und Truden schuldig, die jeben Kostjeld ville zu wenig is't zwar man aber wir sind ja nich von die Eltern, die druf sehnl" Ordentlich essen muß der Mensch," sagte sie zu Berta. die heute abend wieder einmal, wie schon oft, sich ber ihr über das Essen, das sie erhielt, beklagte.I du meine Jüte, Sie sind scheene dumm. Bertchen I Warum nehmen Se sich denn nischt? Steht schonst in de Bibel:Man soll den Ochsen, der da drischt, det Maul nich verbinden" hier, Ellichen, hast 'ne Schokladel Nee, meine Kinder sollen mal nich von mich sagen, det ich se nischt jejönnt habe! Immerzu, Bertchen, nehmen Se man ooch eenel" Sie hielt dem Mädchen ein Kistchen mit kleinen Preß- kohlen von Schokolade hin, und dieses langte gierig zu. Hei, wie die Dinger gut schmeckten! Inwendig waren sie mit rosa Creme gefüllt: sie schmolzen auf der Zunge und glitschten die Kehle hinunter wie Balsam. Als Frau Reschke für einen Augenblick abgerufen wurde und Elli hinter ihr drein lief, konnte Berta nicht widerstehen, noch einmal in das Kistchen zu langen; die Reschke gönnte es ihr ja. Dann noch einmall Und dann ihre blaßrote Zunge leckte züngelnd über die Lippen, ihr rascher Blick über- flog die Schokoladepreßkohlen: eins, zwei, fünfe, zehne I O, noch eine Massel Das merkte die nicht I Schon streckte sie wieder die Hand aus da ein Tritt auf der obersten Treppenstufe I Blitzgeschwind zog sie die Hand zurück, wischte sich über den Mund und stand dann ruhig da mit ihrem blonden, klaren Madonnenyesicht. Trude war's. Kam die denn jetzt schon so früh aus dem Geschäft? Erst acht Uhr durch. Schwer, langsam, wie tod- müde, kam sie die Stufen herunter. Der Hut saß ihr schief auf dem Kopf, den Schleier hatte sie nachlässig umgebunden. Sie hatte wohl geweint?! Ihre Augen sahen danach aus. 'n Abend," sagte sie mechanisch und ging, ohne zu sehen, an Berta vorüber. Nanu?" Diese hielt ihr die Hand hin.Ich habe Sie ja so lange nich gesehn, Fräulein Trudchenl" Ah Berta!" Trude stutzte, ein brennendes Rot stieg in ihr blasies Gesicht.Wie jeht es Ihnen denn? Sind Se noch in der Potsdamer Straße ? Bei Selinger. was?" Ihre Stimme erhielt einen merkwürdigen Klang, als sie den Namen aussprach.Bei Selinger. was?" Wie gepeitscht, in einer aufgeregten Hast, fragte sie weiter.Js die Frau Selinger nett? Und der junge Herr, was? Kennen Sie die Zukünftige schon? Js sie jung? Hübsch?" Ein ganzer Schauer von F'igen. Und mit jeder Frage ein flammenderes Rot auf den schmalen Bäckchen, eine angst- vollere Neugier in den verweinten Augen. War das komisch! Berta besah sie sich von oben bis unten, und dann sagte sie ruhig die Achseln zuckend: Ich weiß nich." Wird er sich denn verloben? Js was in Aussicht?!" Mir is nischt bekannt. Da kommt wohl öfter so'n junges Mädchen, Fräulein Meyer; kann sein, daß Frau Selinger da'ne Partie mit machen möchte. Aber da is gar kein Denken dran, unser junger Herr, na! Ne, ich glaube nich dran!" Warum denn nicht, warum denn nich?" stieß Trude hastig heraus. Na, der geht doch seine eignen Wege. Der läßt sich nich kommandieren!" Läßt er das nich? Wirklich nicht? So-- 1" Es klang wie ein Erlösungsseufzer. Die Trude stand, wie angenagelt. Berta ärgerte sich. Wenn sie doch nur abschöbe! Was hatte sie denn so dumm zu fragen?! Da standen die Schokoladepreßkohlen hei, noch eine in den Mund stecken! Es gab Berta förmlich einen Stich durchs Herz; die schönste Gelegenheit, noch eine zu nehmen, ging ungenutzt vorbei! Ein schielender Blick von unten herauf musterte Trudel erregtes Gesicht aha, da tvar nicht alles geheuer! So dumm war sie. die Berta, doch nicht, daß sie da nichts merkte; sie sollte ausgefragt werden. Na, der wollte sie's besorgen, ihr hier so in die Quere zu kommen! Die wollte sie jetzt wohl weggraulen I Ein böses Lächeln huschte für einen Augenblick über Bertas Mund, dann machte sie ein wichtiges Gesicht. Ja, ich weiß doch nich da fällt mer eben ein das Fräulein Meyer kommt sehr oft und unse sind auch so diel da eingeladen" Sie meinen, Sie meinen d o ch?" Trude atmete zitternd. Berta zuckte die Achseln. Js sie reich?" Schwer reich!" Jung?" Kaum sechzehn!" Und hübsch?" Wie'n Bild. Nich ganz so hübsch wie Sie. Doch- fast hübscher noch als Sie, Fräulein Trudchenl" Trude schloß für Momente die Augen, als ob ihr schwindle, und klammerte sich mit beiden Händen an den Ladentisch. Berta betrachtete sie wie ein Knabe den Maikäfer, den er am Faden hält. Hatte die nun bald genug?! Jetzt riß Trude die Augen weit auf; sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, und brachte doch keinen Laut heraus. Jetzt stürzte sie fort. Endlich! Bertas Züngelchen leckte schon die Lippen. Nein, doch zu spät! Eben öffnete Frau Reschke die Glastür, Trude prallte heftig gegen die Mutter an. Nanu? Was's denn los?" schrie die Reschke.Kannste nich ufpassen?! Du bist schonst retour?! Wat kommste denn jetz immer so früh?" Ich Hab so'ne Kopfschmerzen," sagte leise die Tochter. Du siehst ooch aus na I Daß man Der nich jerne an- sieht. Wie Weißbier und Spucke. Was's denn los? Dalli, dalli, immer fidel! En junges Mächen muß fidel sein, sonst macht se keene Partie!" Trude kämpfte mit den Tränen. Berta sah, wie ein heftiger Schmerz um die blassen Lippen zuckte, und eine ihrer plötzlichen Gutmütigkeitsaufwallungen überkam sie.Fräu- lein Trudchen is bleichsüchtig." sagte sie,«da is einem manch- mal scheußlich zu Mut. Lassen Se ihr man gleich zu Bett gehn, Frau Reschke, das is das Beste for sie. Gute Besserung, Fräulein Trudchenl" Sie reichte dem jungen Mädchen ihre warme Hand und drückte kräftig die kalten Finger. Die Reschke guckte kon'schüttelnd hinter der Tochter drein. Ik weeß nich, wat in Truden jefahren is?! Jn'n Sommer so fidel, un jetz de reene Traueresche. Et is Zeit, det sich was Passendes for ihr find't. Wissen Se wat, Berta," ver­traulich lehnte sie sich über den Ladentisch und tuschelte hinter der vorgehaltenen Handda is drüben bei Handle en neuer Komniis zujezogen, ik sage Ihnen, Berta cn Staatsmenschl Aus Kottbus is er, da hat sein Vater en cijnet Jeschäft. Er hat es jar nicht nötig, hier bei Handken zu konditzjonieren, er will sich nur mal die Jroßstadt ansehen. En reizender Mensch ne, zu reizend!" Als Berta den Reschkeschen Keller verließ, konnte sie es nicht unterlassen, auf das gegenüberliegende Trottoir zu gehen lind einen spähenden Blick in das Materialwarengeschäft zu werfen. Der neue Kommis öffnete gerade die Tür und be, komplimentierte eine Käuferin hinaus. Dies schmächtige Männchen mit den abstehenden Ohren und den großen krebsroten Händen, ein reizender Mensch?! Berta warf den Mund auf; und dann fiel ihr Trude ein, und ein spöttisches Lächeln kräuselte ihre Lippen. Die war in den Selinger verschossen, das war klar. Du lieber Gott, was sie sich alle um das bißchen Liebe hatten! Mit stolz erhobenem Kopf und raschen elastischen Schritten macht, sie sich auf den Heimweg. Manch einer sah