Nnterhaltungsblatt des Horwärts Nr. 43. Freitag den 5 März. 1909 (N-SdruL btiteten.7 ü] Das tägliche Brot» Roman von G. V i e b i g. Die ganze Nacht träumte Berta von Fräulein Haber- korns strafendem Blick und ihrer alten schwarzen Leder- tasche. Auch Mine träumte, wilde, beängstigende Träume, aus denen sie plötzlich jäh erwachte. Es mochte gegen Morgen sein, ein bleicher Schimmer des sich lichter färbenden Himmels fiel gerade auf das Bett. Ihr war sehr schlecht. Von einer peinvollen Angst getrieben, stand sie auf, tappte mit bloßen Füßen an ihren Korb und suchte ihre notwendigsten Habseligkeiten zusammen, daß sie nur ja alles beisammen hatte, wenn sie zu so einer Frau mußte! Sie fühlte es: ein ungeheures Etwas bereitete sich in ihr vor. Ein schrecklicher Frost trieb sie wieder ins Bett zurück. Da kauerte sie, halbaufgcrichtet, in kalten Schweiß gebadet, die Knie krampfhaft heraufgezogen, die Ellbogen an die Seiten gepreßt, mit verzerrtem Mund. Als die Sonne kam, Weckte sie Mathilde, die ruhig neben ihr schlief. Ein Sonnentag war angebrochen, ein letzter Maitag, so warm, so golden, daß der Sommer schon da schien mit reifender Fülle. Es wurde drückend heiß. Die wilden Akazienbäume am Tempelhofer Feld, die des Morgens noch in Knospen gestanden, blühten am Mittag. Als der Sonnenball sich endlich neigte und ein erlösender Lufthauch die Schwüle des Tages milderte, ertönte oben in Mathildes.Kammer ein dünnes, schmerzliches Stimmchen der erste Schrei! Es war ein Mädchen. 21. Im Mietsburcau in der Jägerstraße hatte Mine den Dienst gefunden. Herr Müldner selber hatte sie gemietet. In seinem etwas schäbigen Ueberzieher und dem blank gebürsteten hohen Hut war er rastlos durch die überfüllten Räume des Vermietungs- lokals gestrichen. Unter all den Mädchen und Frauen, die sich drückten und stießen und vordrängten, hatte er sie heraus- gefunden, sie, die bescheiden in einer Ecke stand und krampf- Haft fest ihr Zeugnisbüchelchen in der Hand hielt Er hatte sich ihre Atteste angesehen, während sie verlegen an ihrer Schürze zupfte glänzend waren die ja nicht! Aber er hatte init keiner Wimper gezuckt. Wenn man keine großen Mittel hat, darf man keine hohen Ansprüche niachen, noch dazu, wenn fünf Kinder im Hause sind. Mit heimlicher Besorgnis hatte er sie beobachtet würde sie sich's übernehmen?! Daß das Jüngste erst acht Tage alt war, verschwieg er. Mit heimlicher Besorgnis hatte auch sie einen scheuen Blick auf ihn gewagt würde er sie nehmen! Trotz der Zeugnisse?! Wenn er sich schon daran stieß, wo sollte sie dann wohl einen Dienst herbekommen? Und sie mußte doch einen Dienst haben! Alles Blut wich ihr aus dem Gesicht, zitternd stand sie auf ihren Füßen, die noch schwach waren von der Ent- Hindling und geschwollen von der Anstrengung des weiten Weges und des langen Stehens. Ein Last fiel ihr vom Herzen, als er sagte:Ich gebe sünfundvicrzig Taler!" Sie atmete tief auf. Da sie nicht sofort sprach, nahm er an, sie zögre. die Fünf- imdvierzig seien ihr nicht genug, und so setzte er hastig hinzu: Fünfzig! Das ist aber auch das Alleräußerste." Sie waren beide froh, daß sie sich gefunden hatten. Gern hatte Mine ihre letzte Mark an der Kasse bezahlt und dann den Mictstaler. den Herr Müldner einem dünnen Portemonnaie entnommen, wie ein Riesengeschenk mit glücklichen Augen be- trachtet.---- So war Mine nun schon über ein Jahr im Müldncrschen Hause. Die blasse Frau Müldner, die ein ctoiger Husten quälte, hatte noch kein so gutmütiges Mädchen gehabt. Hier war Mine ganz an ihrem Platz: von der ersten Stunde an, in der sie mit dem schweren Tritt ihrer knarrenden Sckuhe an das Lager der noch kranken Frau getreten und dieser das schreiende Kind ans dem schwachen Arm genommen, bis heute, da sie noch immer mit der gleichen Unermüdlichkeit Windeln wuscht Herr Müldner hatte bessere Tage gekannt: guter Leute Kind, hatte er ein eignes Geschäft besessen: es war nicht seine Schuld, daß es damit bergab gegangen war. Er hatte Un» glück gehabt: trotz allen Fleißes ließen sich gchabte Verlust« nicht ausgleichen. Und er war, wie praktische Leute tadelnd sagten, von einer unglaublichen Vertrauensseligkeit, die sein« sonstige Tüchtigkeit lahm legte. Dazu fünf Kinder, ziemlich rasch hintereinander, und eine kränkliche Frau! Er mußte froh sein, jetzt eine Stelle im Statistischen Bureau gefunden zu haben. Die Müldnersche Wohnung war nur klein, parterre, in einem sogenannten Gartenhaus der Eisenacher Straße gelegen: es war immer ziemlich dunkel dort uird auch etwas feucht. Im größten Zimmer, das durch eine Gardine in zwei Hälften geteilt war in der einen Hälfte wurde gegessen, schliefen Frau Müldner und die drei ältesten Ksinder. Auf dem Flur, in einer dunklen Kabuse, stand Herrn Müldncrs Bett. In einem kleinen Stäbchen, neben der Küche, schlief Mine mit den beiden Jüngsten. Dann hatten sie noch den Salon mit den hellblauen Ripsmäbeln: der war ein Heiligtum. Mine hatte sich nach und nach zu einer gewissen Autorität aufgeschwungen, die Kinder hingen ihr cm wie die Kletten und fürchteten doch den Schlag ihrer arbeitsrauhcn Hand, durch den sie oft die schwache Mutter vertrat. Hier in dem arbeitsvollen Einerlei eines beschränkten Haushaltes hatte sich Mine entfaltet: nicht zu einer Blume, wie sie in freier Luft und Sonne gedeiht, aber zu einem harten, zähen Gewächs, das Hitze und Kälte gleich gut verträgt, das auch hinter Mauern, auf dem kleinsten Fleck Erde fortkommt. Wenn Mine sich an ihrem AusgangSsanntag in dem Spiegel sah, wunderte sie sich selber, daß sie erst Mitte Zwanzig war. Schon so viel Falten in der Stirn! Die Hüsten   stark, der Rücken breit. All ihre Kleider hatte sie mit Mühe und Not weiter gemacht, denn Neues anzuschaffen, dazu langte es jetzt nicht. Nur ihr �schtvarzwollncs Staatskleid, in dem sie einmal einen seligen Sonntag verlebt, war noch unverändert. Das hatte sie in den Schrank der Herrsckwft hängen dürfen: an der Wand ihrer Kammer wäre es sonst stockig geworden. Sic holte es nur vor, um es. wegen der Motten, ab und zu zu klopfen. Sonntags es anzuziehen, wenn sie, mit sämt« lichen Kindern und dem Kinderwagen, in den Tiergarten zog, dazu war es ihr viel zu sckwde. Und an ihrem freien Sonntag, wenn sie in Mathildes Stube ibr Kind auf dem Schoß wiegte, da tat es auch noch das alte Golmützer Blaue, dessen Taille sie ganz ausgelassen und mit dunkleren Flicken unter den Armen ausgebessert hatte: dem schadete es nicht mehr, wenn es auch einmal naß gemacht wurde. Mines kleine Frida MathildesBräutigam" hieß Friedrich, daher der Name war ein munteres Mädchen, und wenn man sagte:Fridchen, kille, kille," und sie mit zwei Fingern vorn am Hälschen zwicke, quiekte es laut vor Ver- gniigen. Sie konnte schon lange lachen. Und wie dick sie war! Ordentliche Hängcbacken. Viel dicker, als die kleine Irma von Müldners: und sie war doch nur vierzehn Tage älter als die. Mine verglich im stillen immer die beiden Kinder mit emander. Und dann wußte sie noch nicht, ob sie sich so darüber freuen sollte, daß ibre Frida dicker war als die Irma: sie liebte beide. Auch klüger war Fridchen. Wunderbar genug: denn während sie sich Tag und Nacht mit der Irma beschäftigte, mit ihr schäkerte, ihr vorsprach und vorsang, lag Fridchen die ganzen Vormittage allein in ihrem Kissen in der ver- schlossenen Stube. Mathilde hatte sich entschließen müssen, eine Aufwarte- stelle für den halben Tag anzunehmen: das, was Mine geben konnte und sie gab alles,»vas sie verdiente reichte nicht für beide. Heut brachte Mine einmal wieder ihren Monatslohn hin: dann ging sie immer mit besonderer Freudigkeit. Sie konnte es sich nicht versagen, unterwegs ein balbes Pfündchen Kaffee für Mathilde und eine Kuchenschnecke für ihr Kind zu kaufen. Da die Läden heut, am Sonntag nachmittag, geschlossen waren, ließen der Kaufmann und der Bäcker sie hinten herum herein. So lief sie mit ihren Schätzen nach der Colonneustraße, ! Es war gar kein so weiter Weg, kleine dreiviertel Stunden» > aber heute kam er ihr endlos vor. Sie war so freudig un-