Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 46.
Sonnabend. den 6. März.
( Nachdruck berboten.)
Endlich war sie angelangt. Vergnügt eilte Mine die Treppen hinauf. Auf dem zweiten Stock schon glaubte sie Fridchens Stimme zu vernehmen; ei, frähte das kleine Ding nicht vergnügt? Sie hatte sich doch getäuscht; als sie oben im vierten Stod anhielt, um vor dem Eintreten Luft zu schöpfen vom eiligen Steigen, drang ein Wimmern an ihr
Ohr.
Fridchen weinte?! Rasch, ohne anzuflopfen, öffnete sie die Tür.
Mathilde stand übers Bett gebeugt und machte:" Su su." Jezt richtete sie sich auf.„ St!" Sie legte den Finger an die Lippen und flüsterte dann, die Augen weit aufreißend:„ Es is frank. Jottchen, ich ilaub, es hat de Krämpf!"
Die Kaffeedüte und die Kuchenschnecke entfielen Mines Hand; rasch trat sie näher.
Da lag in dem großen Bett das kleine Kind, zwischen Sen schweren, blaurot gewürfelten Kissen fast verschwindend. Sein Mündchen stand offen, seine Augen waren auch geöffnet, aber der gläserne Blick sah nicht die Mutter.
Fridchen! Fridchen!" Sie rief das Kind an und schüttelte es; dann raffte sie die Kuchenschnecke auf und hielt sie ihm dicht vors Gesicht:„ Kuck mal, Fridchen, fuck mal!" Und führte sie ihm an die Lippen:" Beiß mal, Fridchen, da beiß mal!" Aber die kleine Zunge leckte nicht; die Händchen, zu Fäusten geballt, den Daumen eingefniffen, streckten sich nicht aus.
"
„ Es is frant," sagte Mathilde mit ihrer sanften Stimme. Ach Jottchen, so war meins auch, eh's starb; nur daß das noch fleiner war."
Jeses," flüsterte Mine; sie fonnte gar nicht laut sprechen, die Stimme versagte ihr. Seit wann is se denn krank?" Sie sank vor dem Bett auf die Kniee.
" So an acht Tag. Immer abwechselnd, mal so, mal so. Se friegt de Augenzähnchen. Stunden is se janz munter, da frabbelt se auf'm Boden rum. Heut zu Mittag hat se noch von mein Kaffee jetrunken und von meine Wurststulle ieKnabbert. Nu is' s wieder nich zum besten mit se. Ja, ja, so ' ne Kinderches sind jleich weg, wie jarnischt!"
Mine sagte fein Wort; sie hob das kranke Kind aus dem Bett und fühlte in das offene Mäulchen. Ihr arbeitsharter Finger strich über das heiße geschwollene Zahnfleisch. Wimmernd preßte das Kind die Lippen aufeinander, bäumte sich und zuckte mit den geballten Fäustchen; sein ganzer brennender Körper zuckte, seine glasigen Augen verdrehten sich.
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Mine stieß einen tiefen Seufzer aus frank! Und sie hatte sich so auf ihr Fridchen gefreut! In einer Aufwallung heißer Zärtlichkeit drückte sie ihr Kind an die Brust. Als ob es sich da wohler fühlte, so hörte es auf zu wimmern; das Bucken hörte auch auf, ruhig lag es.
Sie trug es ans Fenster, setzte sich auf den Stuhl beim Myrtenstock und prüfte, angstvoll befühlend, jedes einzelne Glied.
Nein, sehr abgefallen war Fridchen noch nicht! Besonders der kleine Bauch war dick. Und die Bäckchen auch noch schön dick, wenn auch ein wenig blaß. Sie drückte schallende Küsse, rechts und links, auf das gedunsene, schwammige Fleisch, und, als besäßen diese Küsse Zaubermacht, so fixierte sich jetzt der umberrollende Blick des Kindes er heftete sich auf die Mutter.
Nun fing Mine an zu weinen. Und unter Tränen stammelte sie: Fridchen, nu freu der! Ich bin bei der, Fridchen, Deine Mamma!"
Das Mündchen verzog sich; sie nahm's für ein Lächeln. Glücklich ließ sie das Kind auf ihrem Arm tanzen.
1909
gelchen zeigte, scharfgezeichnete, blaue Adern an den Schläfen und über der kleinen, aufgeſtülpten Nase.
Stunden vergingen ſo. Schon längst schien die Sonne schräger auf den Myrtenstock. Kein Laut. Niemand im Hof, niemand auf der Treppe, das Haus wie ausgestorben; jeder hatte heute das Freie gesucht.
Mathilde hatte sich aufs Bett gelegt, die legten Nächte waren ihr durch des Kindes Unruhe schlaflos verstrichen; aber auch jetzt schlief sie nicht. Die Blicke starr gegen die Stubendede gerichtet, träumte sie mit offenen Augen und lauschte dabei doch mit allen Sinnen in die Stille. Bald mußte„ er" kommen- bald, bald! Das Buch sagte es ihr ja täglich, immer wieder, so oft sie' s auch fragte.
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Mathilde!" rief Mine; sie hörte nicht. Das lange stumme Blicken auf die Züge ihres Kindes hatte die Mutter ängstlich gemacht; es dämmerte schon, und das ungewisse Licht ließ das bleiche Gesicht noch bleicher erscheinen. Sie war froh, als Mathilde jetzt endlich angeschlorrt kam.
Ob wer doch nich lieber mal mit ihm bei den Herrn Dokter gehn?" wisperte Mine.
Mit wem denn?" Mathilde war gänzlich zerstreut. ,, Na, doch mit Fridchen! Ach Gott !"
„ Aber nei! Was weiß so' n Dokter! Ich bin damals auch nicht bei' n Dokter jegangen.' 3 Buchchen weiß besser Bescheid, das wer' ich mal fragen."
,, Oder wenigstens ins Klinik," sagte Mine ängstlich. ,, Da fost's ja nischte!"
,, Wer leben soll, der lebt; un wer sterben soll, der stirbt. und von Klinik friegen Sie' s Kindchen jar nich wieder, da behalten sie' s sleich da."
,, Ne, ne, denn ja nich!" Mine preßte ihr Kind so fest an sich, daß es mit einem Aufschrei erwachte. Aber es war wohler, blieb aufrecht ſizen, griff mit matten Händen um sich und ließ sich von der Kuchenschnecke ins Mäulchen stopfen.
Mine war ganz versunken in ihr Spiel mit Fridchen. Sie lachte und schäferte mit dem Kind; ohne recht zuzuhören, ließ fie Mathildes wunderliches Geschwäß an sich vorüber gleiten. Die war heute seltsamer denn je; nicht einmal einen Kaffee hatte sie gemacht. Unaufhörlich sprach sie von ihrem Friedrich, von der Trauung in schwarzer Seide, von der Hochzeitskutsche, und dann von dem Grab, darin die Schwester begraben war. Sie riß die Tür auf bei jedem Geräusch, das die heimkehrenden Nachbarn auf der Treppe verursachten, und fuhr hoch auf bei jedem Ruf, der vom Hofe herauf schallte. Sie war von einer fröhlichen Geschwäßigkeit, einem zwischen tindischer Wichtigtuerei und geheimnisvollem Ernst schwankenden Wesen.
Voller Mond schien schon durchs Fenster, als sich Mine erinnerte, daß sie ja um zehn zu Hause sein müßte. Es war schon fast so spät. weh, wie würde die kleine Irma nach ihr schreien!
Hastig legte sie ihr Kind nieder. Schreiben Se mer ooch," bat sie Mathilde.
Wenn ich nur Zeit hab," sagte diese verträumt. ,, Na denn, wenn's Fridchen gutt jeht, brauchen Se mer ja nich zu schreiben; aber wenn se wieder krank wird, ach, nich wahr, dann schreiben Se mer gleich?! Denn komm ich. Sonst erscht in vierzehn Tagen. Se vergessen's ooch nich, Mathilde, nich wahr? Mathildchen!" Sie rüttelte die Versunkene. " Ja, ja."
Mine stürzte fort. Nicht einmal zu einem Kuß auf Fridchens dicke Bäckchen hatte sie sich mehr Zeit gelassen!
Und doch, als sie die Treppe schon fast hinunter war, zögerte sie sollte sie noch einmal umkehren? So sauer war ihr der Abschied noch nie geworden.
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Ganz traurig ging sie nach Hause. Jekt eilte sie nicht einmal sehr, das Herz war ihr so eigentümlich schwer, sie hatte daran zu schleppen. Fröhlich schwaßende Menschen, vom Vergnügen heimkehrend, streiften sie auf dem Trottoir; ach, so bergnügt war sie heute auch ausgegangen! Mit der vera kehrten Hand wischte sie sich unter der Nase her und dann über die Augen. Das hätte sie nie geglaubt, daß ihr so bange nach dem Rinde sein könnte!
Mathilde kam und brachte ein Kissen, Mine wickelte Fridchen hinein und hielt sie dann auf ihrem Schoß und wiegte In der Eisenacher Straße wurde sie schon sehnsüchtig er. sie sacht hin und her und summte dazu, bis die matten Aeugelchen zufielen. Das Kind schlief. Die Mutter wagte feinen wartet. Da fie feinen Hausschlüssel besaß, hatte sie noch eine Laut. Unverwandt sah sie nieder auf das dicke Gesichtchen, gute Weile stehen müssen und warten, bis zufällig ein Hansdas eine Leichenfarbe trug und tiefe Schatten um die Aeu- bewohner aufschloß; die fünfundzwanzig Pfennige, die der