Mnlerhaltlmgsblatt des Horivärts Nr. 32. Dienstag, den 16. März. 190L (NaSdruck perlolen.) 51] Vas tägliche Brot Roman von C. Viebig  . ..Sollt mer fehlen, noch emal Kindergeplärre," knurrte der Alte.Ne, ne, Mine, nimm's Mädel nur wieder mit nach Berlin  ." Und aus seiner anscheinenden Ruhe auf- fahrend, schrie er plötzlich:Was meenste, war das'n Spaß, als mer der Briefträger en versiegelten Brief bringt, wo drin geschrieben steht, ich soll mer gleich uf'n Amt in Schwerin  melden. Ich denk wunder was: ich Hab in der Lotterie ge- Wonnen oder der Schwager in Berlin  , der Reschke, is ver- starben und hat uns was Ordentliches vermacht. Ich war so fidel, wie dazumal, als der Maxe retur gekommen is von de Aushebung: der hätt uns scheene in der Ernte gefehlt! Und ich renne hin, was haste, was kannste: unsre junge Kuh wollt grad's erste Mol kalben, aber ich laß allens in'n Stich und denn weiter nischt, als das de Mine en Mädel gekriegt hat, und daß se mer zum Vormund ernennen von Gerichts wegen! Meinswegen! Aber sonst geht mer der Balg nischte an. Hörste, er geht mer nischte an, rein gar ntlchte! Hörste, Mutter," schrie er seiner Frau zu, die das weinende Kind beschwichtigend im Arm wiegte,leg'n hin, uf der Stell, er geht der nischte an!" Zitternd nahm Mine das Kind wieder an sich. Und nun brüllte er die Tochter an:Was stehste un kuckste? Hab ich etwa nich recht? Er gcht uns nischte an. Hast Du mer gefragt? So eens hat hier nischte zu suchen!" Damit setzte er sich hart auf den Schemel, von dem er im Zorn aufgesprungen war, langte das Brot her und schnitt sich noch ein derbes Stück ab. Große Stille im Zimmer. Die Mutter wischte sich mit der Schürze ein paar ver- stohlene Tränen ab, die Geschwister standen eingeschüchtert. Keiner wagte ein Wort. Auch Mine nicht. Langsam schritt sie zur Tür was sollte sie noch hier? Als sie schon auf der Schwelle war, traf der Blick, den sie zurückwarf, die fremde Frauensperson, die jetzt vertraulich neben Max lehnte. Wer war das? Dann fiel die Tür hinter ihr inS Schloß: sie war draußen. Die Kühle des dunklen Zicgelflurs strich wie mit kaltem Finger über ihr glühendes Gesicht. Aber sie kam noch nicht zu sich, sie war wie im Traum. Es konnte nicht sein, sie mußten sie wieder hereinrufen sie war doch zu Hause! In dem dunkelsten Winkel führte die Leiter hinauf zum Boden, da hatte sie sich oft als Kind versteckt: da kauerte sie auch heute wieder auf der untersten Sprosse. Hier fand die Mutter sie. Die war ihr nachgeschlichen: so konnte sie doch die Tochter nicht gehen lassen. Sie brachte ein Töpfchen warme Milch für die Kleine und steckte Mine ein Stück altbackenen Kirmeskuchen in die Tasche. Diese nahm alles mit wehmütigem Dank: das Kind trank glucksend, in langen durstigen Zügen. Die Mutter weinte,'s tut mer gar sehre an, Mine, daß de so von uns gehst! Aber der Heinze is jetz gar so arg beese. Daß es ooch so kommen muß, o Jeses, Jeses! Hab ich der nich gesaot: Geh ooch in de Kcrche! Dann wär alles andersch ge- kommen!" Geh ooch in de Kerche und schick fleißig heeme" ja, das hatten sie gesagt! Mine erinnerte sich noch ganz genau. Sie schauderte. Schwer stand sie auf.Wer is die, die da drinne?" fragte sie und wies mit dem Finger gegen die Stubentür. Das Gesicht der Mutter erhellte sich.Das junge Mädel meenste? Ei, das is ja de Lieschen, dem Maxe seine Braut! En schönes Mädel, en liebes Mädel! Un en gutten Groschen kriegt se mit. Der Maxe macht en Glücke! Der Vatter baut ihnen an. Michaeli is de Hochzeit. Du wirst's Wohl gesehn haben es pressiert." Ja." sagte Mine tonloS. Und dann ging sie plötzlich, ohne Adieu, ohne der Mutter die Hand zu bieten, zum Hause i hinaus 4 Draußen sah sie nicht mehr zurück sie hatte ihre Heimat verloren. 2L Herbstwind wehte. Fein und eindringlich sprühte Nebel» regen nieder. Schon begannen die Schatten der Dämmerung die Ferne zu decken. Zur Linken, im kahlen Acker, klagte ein Brachhuhn, und von der rechten Seite her antwortete ein zweites. Das Dorf lag längst hinter der einsam Wanderndem Ihre Tränen flössen nicht, sie schluckte sie alle hinunter, aber sie brannten innerlich. Ihr Gesicht blieb steinern. Wie verloren ging sie über die Chaussee, immer weiter, weiter fremd und allein. Nein, allein nicht, hatte sie nicht ihr Kind?! Sie küßte die vom Regen gefeuchteten Kinder« Wangen  . Und doch wenn das Kind nicht wäre!--- Noch nie hatte Mine diesen Gedanken gehabt, aber jetzt tauchte er ihr auf, jählings, unabweisbar. Wenn Fridche» nicht wäre!--?! Die Last des Kindes wurde plötzlich für ihre Arme zi» schwer: sie ließ sich auf einem Steinhaufen am Chausseerand nieder, zog das-Lmch um sich und Fridchen zusammen und saß so regungslos. Der Wind umwehte sie, lüftete immer wieder das TuH und zerrte an dem schottischen Mäntelchen. Mochte er wehen, herbstlich feucht und schaurig! Es war doch alles zu Ende. Eine betäubende Trauer hatte Mine ergriffen, eine lähmen?? Ratlosigkeit. Nun wußte sie nicht mehr weiter. Wie fest sie darauf gerechnet hatte, Fridchen bei den Eltern unterzubringen, das merkte sie erst jetzt. Alle Hoff- nung war hin, eine schreckliche Trostlosigkeit um sie her, dev Himmel ganz verhangen, kein Lichtstrahl alles finster. Andere Mädchen hatten doch auch schon Kinder gehabt Mine kannte ihrer mehr als ein halbes Dutzend, wie machten die's denn?! Und da war eine im Dorf, von der munkelte man, sie hätte ihr Neugeborenes auf die Seite ge« bracht. Aber bewiesen hatte es ihr keiner: sie hatte jetzt einen wohlhabenden Bauern zum Mann, es ging ihr gut. Nur sie, sie allein wußte sich keinen Rat. Keine Hilfe. Sie stöhnte und murmelte dumpf vor sich hin. Das Kind loslassend, warf sie mit einer verzweifelten Geberde die Arme in die Höhe und reckte sie in die Luft. Wohin denn wohin denn?! Trag's Mädel nur hin, wo de's hergeholt hast," hatte der Vater gesagt. Ein Schauder überlief Mine, wenn sie an die Stube in der Colonnenstraße dachte, an die verdorbene Luft, an die fremde Frau, an den Schmutz. Und da sollte ihr kleines Mädel verkommen? Wär ees ihm nicht tausendmal besser, es wäre tot?! Tot tot---! Sic vertiefte sich in diesen Ge» danken. 4 Ein fortwährendes Zittern lief ihr über den Körper oh, daß sie so etwas nur denken konnte! Sie preßte das Kind an sich und hatte augenblicklich doch gar keine Liebe zu ihm. Ihr Herz war tot. Es lag in ihrer Brust wie ein harter, kalter Stein. Sie emvfand auch keinen Zorn gegen die Ihren: Vater, Mutter, Geschwister, sie hießen so, aber sie waren es nicht. Ganz gleichgültig, fremd wie die Fremdesten waren sie ihr mit einem Male. Ihre Not war zu groß: sie fühlte nichts mehr. Sie hörte es auch nicht, daß Fridchen vor Unbehagen leise wimmerte. Das rote Ohrenmützchen hatte sich ver- schoben, das schottische Mäntelchen blähte sich im Wind und ließ die kleinen Beine frei, ein Schuhchen war auch verloren gegangen. Mine sah alles nicht. Mechanisch erhob sie sich, mechanisch ging sie weiter. Ihr Kleid streifte durch Nässe: Sand und Lehm hingen sich daran. Ohne Zweck, ohne Ziel lief sie in den dämmernden Abend hinein: schwarze Vögel schössen über sie hin, krächzten mißtönend und begleiteten mit schwer flatterndem Zickzack- flug ihren irren Gang. Sie hatte den guten Weg verloren, längst war sie von der höhergelegenen Chaussee abgekommen. Nun patschte sie in den Niedenrngen, die sich seitab, zwischen Wald und Acker, vertieften. Hier war es immer feucht: im Sommer quakten hier die Frösche und stolzierten die Störche. Da lag ein Tümpel, dort ein Tümpel stille, umbuscht»