Das SHachfen in der]Sfatur» Eine der auffälligsten Erscheinungen des Lebens ist die Migleit der Organismen, zu wachsen, d. h. an Masse und Umfang zuzunehmen, also größer zu werden. Sie tritt im allgemeinen bei den Pflanzen mehr hervor als bei den Tieren i bezeichnet man doch die Pflanzen vielfach geradezu als Gewächse. Die Lebewesen wachsen im allgemeinen nur, solange sie.jung" sind, also nur während der Zeit ihrer Ent- Wickelung. Haben sich ihre Organe ganz entfaltet, so sind sie.aus- gewachsen". In Wirklichkeit wachsen sie allerdings noch weiter, aber nicht derart, daß sie selbst größer werden, sondern in abgeänderter Weise: sie wachsen über ihr individuelles Maß hinaus, d. h. sie pflanzen sich fort. Das Wachsen des Körpers wird also bei den Lebewesen von der Fortpflanzung abgelöst. Bedingt ist diese Ab- lösung durch die Tatlache, daß die Lebewesen Organismen sind. Je höher organisiert ein Lebewesen ist, d. h. je zahlreicher und kom- plizierter seine Organe find, desto präziser erfolgt sie. Der Pflanz- liche Organismus ist im allgemeinen einfacher als der tierische. Wir sehen daher vielfach die Pflanzen noch weiter wachsen, auch wenn sie sich schon fortpflanzen, z. B. Buche, Eiche und andere. Doch erfolgt jetzt das Wachsen in einem entsprechend langsameren Tempo als zur Zeit, da sie noch jung waren. Achnlich wie die Pflanzen verhalten sich die niederen Tiere, insbesondere die Pflanzentiere des Meeres, die demnach nicht allein in ihrer Form, sondern auch hierin der Pflanze nahe kommen. Der höher organisierte Ticrkörper, z. B. der Wirbeltiere und des Menschen, wächst aber gern nur so lange, bis er die Größe und den Organismus seiner Art erreicht hat. Wächst wirklich ein- mal ein solches Wesen über das individuelle Maß hinaus, so ist seine Fortpflanzungsfähigkeit vermindert oder ganz ausgeschaltet. Be- kanntlich haben die Riesen unter den Menschen meist keine Nach- kommen. Da die Wachstumsfähigkeit bei der Pflanze im allgemeinen mehr ausgeprägt ist, so gelingt es ihr auch leichter, sich durch Wachsen zu ergänzen. Der abgeschnittene Zweig eines Baumes� in die Erde gesteckt, wächst sich zu einem Baume aus. Eine Kartoffelknolle, selbst nur ein Stück einer solchen, wächst zu einem ganzen Stock heran und liefert nebst dem Kraut, der Blüte und der Frucht auch noch zahlreiche neue Knollen. AchnlicheS sehen wir bei den Steck- zwiebeln. Auch dadurch unterscheidet sich das Wachsen der Pflanzen von dem der Tiere. daß jene im allgemeinen schneller wachsen als diese.— DaS Gras soll sogar zuweilen so schnell wachsen, daß man eS hört; doch gelingt diese Wahrnehmung nur den Schlauen unter den Menschen, dem gewöhnlichen Sterblichen ist sie versagt.— Luch bei ein und demselben Lebewesen ist die Intensität de? Wachsens in den verschiedenen Teilen ver- schieden. Die Blüte einer Pflanze wächst schneller heran als das Blatt und dieses wieder schneller als der Stamm oder die Wurzel der Pflanze. Bei dem sich entwickelnden Embryo der Wirbeltiere wächst anfangs das Gehirn und Rückenmark viel schneller als der übrige Körper. Durch diese Tatsache ist die eigenartige, nach der Bauch- feite gekrümmte Form des Einbryo bedingt. DaS Wachsen ist nun eine Eigenschaft nicht allein der lebenden Natur, sondern ist auch in der leblosen zu beobachten. Das Wachsen der Kristalle z. B. ist bekannt. Aber das Wachsen der lebenden Materie und das der Kristalle sind doch zwei grundsätzlich verschiedene Vorgänge. Denken wir uns zwei Kugeln, die eine aus kristallischer, die andere auS lebender Materie bestehend. Es wächst nun die Kristallkugel, indem sie ihrer Masse gleichartige Maffe von außen anfügt(.Wachstum durch Apposition"), die lebende Kugel aber wächst durch Ansetzen von ihr gleich- artiger Maffe von innenher).Wachstum durch Jntussuskeption"). Der grundsätzliche Unterschied tritt noch mehr hervor, wenn wir sagen, die Kristallkugel setzt neue Maffe an ihre Oberfläche an und die Lebekugel in ihrem Mittelpunkte. Doch ist die? zweite nicht ganz richtig, denn die Lebekugel setzt nicht nur in ihrem Mittelpunkte, sondern in allen ihren Teilen neue Maffe an. Aber der obige Gegensatz kommt doch insofern zum Ausdruck, als das Wachsen in der Lebekugel in der zentralen Partie am schnellsten erkolgt und nach der Oberfläche hin fortschreitend immer langsamer wird. Auf dieser Verschiedenheit in der Raschheit des Wachsens beruht bei den Lebensgebilden die besondere Erscheinung, daß sie. falls sie über ihr individuelles Maß hinaus wachsen, sich vom Mittelpunkt her zu teilen beginnen, so sehen wir die Zellen, diese einfachsten Gebilde des Lebens, bei ihrer Teilung(Fortpflanzung) damit in ihrer Mitte be- ginnen; denn zuerst teilt sich der Kern und dann erst die ihn um- gebende Maffe der Zelle, der Zellkörper. DaS Wachsen der Kristalle und das der Lebensgebilde unterscheidet sich noch weiterhin dadurch, daß diese die aufzunehmende Maffe sich erst chemisch her- stellen,„assimilieren", während bei den Kristallen die ueuanzusetzende Masse in der sie umgebenden Flüssigkeit vorhanden ist. Es gibt aber auch in und an dem Körper oer Organismen Gebilde, die ebenso wie die Kristalle wachsen, nämlich durch Ansetzen neuer Mafien von außen her, also durch Apposition. Durch interessante Versuche hat man unzweifelhaft festgestellt, daß dies bei den Schalen der Muscheln, dem äußeren Skelett der Insekten und dem Innern der Wirbeltiere, also bei den Knochen, der Fall ist. Diese Gebilde bestehen ja in der Haupt- fache auS anorganischen Stoffer.(Salzen), uno au« ihrem besonderen Verhalten bei ihrem Wachstum, das dem oer Lebeiissul'stanz direkt entgegengesetzt ist, läßt sich der Schluß ziehen, daß dies» Salze der Lebenssubstanz eigentlich fremd sind und ursprünglich dem Lebe- Wesen nicht eigen waren. Schalen, äußeres und innere? Skelett find Gebilde, welche die im Laufe vieler Jahrmillionen erfolgte Ent« Wickelung der Lebewesen diesen erst beschert hat. Dr. Emil König. kleines feuilleron. » Erziehung und Unterricht. „Wider das Schulelend."") Gleichsam als eine Er- gänzung zu seinem Buche„Große Männer" erschien vor kurzem eine kleine Broschüre von Profesior Ostwald, die sich mit unseren heutigen Schulzuständen auseinandersetzt. Wie muß unsere Schule ausgebaut sein, damit die kommenden „großen Männer" in ihr eine gründliche Stütze von Anfang an finden? Denn bis heute ist eS so, daß sich in unserer Jugend nicht durch, sondern trotz der Schule die bedeutenden Geister entwickeln. Dies gilt vor allem von den Gymnasien und höheren Mittelschulen. Der Einwand, daß jene Schulordnung, die den Bedürfnissen früh« reifer Gehirne— denn Frühreife ist eine erste biologische Erscheinung, die den späteren Größen zukommt— angepaßt ist, den anderen Schülern zum Schaden gereicven müsse, kann im Ernst nicht aufrecht erhalten werden, weil kein Meister je vom Himmel fällt und auch das Genie die Bildung angemessener Gedanken erst lernen muß. Daraus ergibt sich die erste Forderung: Die jährliche oder halbjährliche Klaffenversetzung nicht mit aller Strenge zu wahren, sondern mehr Raum für Ausnahmen zu gewähren. Daß wenigstens die Schüler höherer Klassen die Unterrichtsfächer und Lehrer frei wählen dürfen, ist eine Forderung, die ganz der natür» lichen Verschiedenheit geistiger Beanlagung und der pädagogischen Bedeutung der Sympathie entspricht, während heute, in einer Zeit höchster Differenzierung�- die Schule eine allgemeine, scheußliche Bildungsgleichmacherei beireibt. Und dies bei anders dadurch, daß sie einen so großen Wert auf die Erlernung von Sprache» legt..Aber die Sprache ist ja doch an sich ein Bildungsmittel!... DaS ist eben der grobe Irrtum. Die Sprache ist ebensowenig ein Bildungsmittel, wie die Eilenbahn, sondern em Verkehrsmittel. Und wenn man behauptet, daß sie die verkörperte Logik sei. so tut man der Logik ein schweres Unrecht. Vielmehr ist die Sprache der verkörperte Widerspruch, und sie kann nach ihrer Entstehung nichts anderes sein....." Das gilt von allen Sprachen, dem Latein und Griechisch der humanistischen Gymnasien ebenso wie vom Französischen und Englischen der Oberrealschulen; beides ist eine schädliche Zeitvergeudung..In dem zehnten Teile der Zeit, welche ein Schüler darauf vergeuden muß, lernt ein Kaufmann oder Kellner fließend englisch oder französisch sprechen." Wer könnte dem etwas Wesentliches entgegenhallen? Ellva die Beschäftigung mit der Literatur in den einzelnen Originalsprachen? Wer von uns hat Gorki, Ibsen , Maeterlinck . Tolstoi usw. im Original gelesen? Aber wie vielen von uns wurde auf ewig Homer und Horaz ver« ekelt, ebenso wie Schiller und Moliöre? Mit Recht fordert Professor Ostwald nach amerikanischem Muster Abschaffung des Religions» Unterrichts. Wir modernen Menschen hallen das griechische und römische Erziehungsideal für rückständig, weil eS den Anforderungen unserer Gegenwart in keiner Weise genügt. Lehr- und Lernfreude sollen in die Schule einziehen. Ver» gangene Zustände können niemals als Ideal gelten.<S. 24.) Wir erziehen unsere Kinder dazu, daß sie unsere Kultur nicht nur über- nehmen, sondern zu weiterer Höhe steigern können; das ist die Auf« gäbe.(S. 21.) Wir wollen aus unseren Kindern kraftvolle Menschen machen, die frei und kühn der Zeit ins Auge schauen und sich fähig fühlen, in ihr und mit ihr zu ringen.(S. 27.) Um die Reform zu beginnen, fange man mit der Beseitigung dieses Geist und Kratt zerstörenden Unsinns an, der Abiturienten- examen heißt.(S. 47.) Um sie auszuführen, bedenke man. daß wir den Männern, unter deren ausschließlicher Leitung die Schule in solchem Grade hat entarten können, nicht die Eigenschaften hat zutrauen können, die nötig sind, um sie zu der richtigen Beschaffenheit zurück- zuführen.(S. 7.) Nur eine Rcformforderung behandelt Profcffor Ostwald nicht. In seinem Buche.Große Männer" geht er des näheren vdrauf ein festzustellen, daß der eigentliche Nährboden für alle künftigen Größen hauptsächlich die mittlere soziale Schicht, das Bürgertum sei. Wenn der Herr Professor auch nur einen Augenblick sich vergegenwärtigt hätte, welche Jntelligenz-Energien der Gesamtheit verloren gehen durch die ungerechte Zurückhaltung der proletarischen Schicht von- den höheren Bildungsmöglichkeiten, er hätte diesen Punkt irgendwie be- rührt. Man erwartet es geradezu; und daß diese Erwartung sich nicht erfüllt, zeigt mehr als alles Reden den bürgerlichen, kleinhirn- lichen Geist der heutigen Schulreforma'oren. Um so lauter und energischer fordern wir bor allen Reformen Gerechtigkeit: die Möglichkeit, die eigene, natürliche Beanlagung zur Entfaltung zu br-iitgen, für alle. G. H. •) Ostwald.„Wider das Schulelend". Leipzig . Akademische Verlagsgesellschaft m. b. H. Perantw. Redakt.: Wilhelm Düwell, Lichtenberg.— Druck o. Verlag: Vorwärts Buchdruckerci».VerlagianstaltPaul Singer LcEo.. Berlin LlV.
Ausgabe
26 (8.7.1909) 130
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten