zur Erde niederstieg und seinen Georg zusällig einmal müßigeinhergehen sah, wetterte er ihn an:„Lern!"Er selbst, immer in der Zukunst lebend, die Gegenwartund was sie darbot geringschätzeni), entfremdete sich mehr undmehr seinen Standesgenossen.. Er erwies sich ihnen gefällig,machte Arbeiten, die ihnen zugekommen wären, hatte aberdabei nur seinen eigenen Vorteil, die Verbesserung seiner Stel-lung im Auge. Tem Verkehr mit ihnen, den Zusammen-künften im Kaffeehaus und im Stammgasthaus, ging er soviel als möglich aus dem Wege. Nur selten fand er sich mitden Kollegen zusammen. Beim„goldenen Wiesel", wo dieVersammlungen der Herren Beamten stattfanden, an denenauch einige Vorgesetzte und Bekannte der Vorgesetzten teil-nahmen, da begegnete Psanner richtig jedesmal dem Manne,den er haßte, dem Kunstschlosser Herrn Obernberger. VorJahren hatte es dem als großer Vorzug gegolten, mit denHerren von der Eisenbahn im Gasthaus zusammenkommenzu dürfen. Jetzt hatte der Standpunkt sich verrückt. Seitdemdie Arbeiten aus der Kunstschlosserei Obcrnbergers erste Preiseauf den Ausstellungen erhalten hatten, seitdem er viele hun-dert Arbeiter, in seinen Werkstätten beschäftigte, im eigenenHause wohnte, im eigenen Wagen vorfuhr und das Band desFranz-Joseph-Ordens im Knopfloch trug, eilten die nieistender Herren ihm bis zur Tür entgegen, und bei Tische erhielter den Platz zur Rechten des Inspektors.Das alles hätte Pfanner hingehen lassen und sich nichtweiter darum gekümmert. Aber dieser Schlosser hatte einenSohn, und dieser Sohn trat seinem Georg im Gymnasium aufdie Fersen, konnte ihn einholen, konnte ihn überflügeln, dennder verdammte Bub hatte Talent, sein ärgster Feind mußtedas zugeben.„Talent um eine Million," wie Herr Obern-berger sagte,„aber nicht um einen Heller Fleiß.".lLortsetzung folgt)](Nachdruck verdoieu.)Die Ziege*Von Carl Busse.Sie verachteten ihn alle: es gab in der ganzen Untertertiakeinen, der ihm fremd war. Er ging immer allein, auf dem Hin.weg, wie auf dem Heimweg, obwohl in seiner Nähe viele seinerKameraden wohnten. Mit seiner ungesunden, käsigen Gesichtsfarbeund den Augen, die niemanden recht ansehen konnten, schritt erdahin, und folgte man ihm mit den Blicken, so merkte man, daßer in weitem Bogen von links nach rechts und wieder zurückpendelte, als war' es ihm nicht gegeben, eine gerade Linie zuhalten...„Sie nannten ihn Koza: die Z'ege, sei eS, weil sein VaterSchneider war, sei es, weil seine Hände und Arme lang, dürr undknochig aus den Aermeln heraushingcn. Es nützte nichts, daß dieseAermel von Zeit zu Zeit kunstvoll verlängert wurden: wie Sprossen,die siegreich aus Dunkel zum Licht strebten, drängten sich die fleisch-losen Arme wachsend bald wieder daraus hervor. Schließlich hatteder Vater sogar einen Flicken aus verschiedenem Stoff ansteppenmüssen. Selbst die Lehrer schüttelten den Kops: die Garderobedes Jungen war kaum mehr möglich. Aber sie sagten nichts; siewußten, daß es dem Schneider Majewski schlecht ging.Dieser Schneider war ein Opfer der Politik. In der gutenalten Zeit, als Deutsche, Polen und Juden schiedlich, friedlichin Polajewo nebeneinander wohnten, hatte er sein bequemes Aus-kommen gehabt. Aber ganz sachte fingen schärfere Wind? zublasen an; die Nationalitäten schieden sich schroffer; die deutschenKunden verliefen sich; die Polen, die alles daran setzten, in denStädten einen polnischen Mittelstand zu schaffen, zogen andereMeister nach Polajewo, die neumodischer und eleganter arbeiteten— genug, von Jahr zu Jahr ward es in der Werkstatt vonThaddäus Majewski stiller und leerer. Schließlich war der kleineSchneider zufrieden, wenn er etwas zum Flicken bekam. SeinHaus war ihm versteigert worden. Mit Mühe und Not hatte ihmder neue Besitzer zwei Stuben gegen billigen Zins vermietet. Dahauste er nun mit seinem Weib und fünf Kindern, saß den ganzenTag auf dem blanken Schneidcrtisch, wippte dröselnd die Pantoffelnauf den Zehen hin und her und starrte hinüber nach den altenModcbildern, die von Anno dazumal mit Reißnägeln an derWand befestigt waren. In einem Medizinsläschchen hatte er stetsein wenig Schnaps parat, und so geringe Quantitäten er davonauch vertilgte: da sein Magen öfter leer als voll war, wirkten siedoch und machten ihn schläfrig und teilnahmslos.Aber an seinem Weibe fraß der unaufhaltsame Verfall, undmehr noch an seinem Aeltesten, dem Philipp, eben der Koza derUntertertia. Wie ein Brandmal trug der Junge seine Armutund Niedrigkeit. Jeder Blick auf seine Klassennachbarn zeigte ihmden Abstand. Vielleicht wär' ihm der Unterschied minder bewußtgeworden oder nicht so schmerzlich getvesen, wenn er nicht dunkleErinnerungen an«in helleres und reicheres Leben in sich bewahrthätte.Wie Ncbelbilder zogen sie oft an seinem Geiste vorüber. Außdem Schneidcrtisch neben dem Vater zwei Gesellen— klappernd«Scheren— aufgerollte Tuchballen— Mittag für Mittag dampfendeSchüsseln— er selber Sonntags im schwarzen Samtanzug wisdie Landratsjungen— war das wirklich einst alles so?Und goldner noch strahlte ein anderes Bild, das geheimnis-voll leuchtend bor ihm auftauchte, das die Augen blendete wie dicksonnumfunkclte Monstranz, die der Priester bei der Prozessioilüber die Häupter der Knienden hob.Der Bater war in die Schützengilde eingetreten. In Reihund Glied war er ausmarschiert— nach Pfingsten— zum König»schießen... Und mit einem Male war alles in ungeheurer Auf»regung— es wurde Abend, aber er durfte ausbleiben— undiplötzlich kam es näher, die ganze Stadt rückte heran, Trompeter»bliesen, Böller krachten, funkelnde Schlangen zischten über dendunklen Himmel, Fackeln leuchteten, ein ungeheures Tosen schwoll— da brandete und brauste es um das HauS, und von Tausender?geleitet kam der Vater. Schwere silberne Ketten aus gewaltigenTalern hingen ihm über die Brust— alles präsentierte vor ihm—•wie eine riesige Wand hob sich über den Schultern der Träger diegroße Königsscheibe— und strahlend schritt der Vater die Frontab, strahlend schleuderte er Hände voll Kupfer- und Nickelmünzenunter die tosende Menge, und schließlich ward er unter Braus undJubel auf die Schultern gehoben: der Sieger, der neue König»der Meisterschütze. Und im Schein der Fackeln schien es, alsschwebe er über allen wie auf einer Wolke, und in den silberneilTalern der Prunkkette fing sich rötlich der Flammenschein.Oben auf dem Boden hing noch die große Königsscheibe. Dasiwar alles, was von dem Märchenglanz dieses Tages übrig ge-blieben war. Sie hing an einer starken eisernen Kramme, undmit Scheu und Ehrfurcht hatte der kleine Philipp Majewski oftvor ihr gestanden. Sie war rissig, zerschossen, wurmstichig, dieGirlande darum war zerfallen, aber sie war da— sie bewies, daß;nicht alles nur Traum und Trug war.Wie ein vertriebener Prinz, der im Bettlerkleid den Grenzbergbesteigt und in Weh und Groll ein Stückchen des väterlichen König»reiches vor sich liegen sieht, kletterte der Junge oft auf den Boden»stauch vor der Scheibe und fuhr mit dem Finger nach der schwarzenMitte. Es schwoll dann seltsam in ihm empor— etwas von denGroßmannssucht und Eitelkeit des Vaters, die den kleinen Schnei»der einst veranlaßt hatte, in die Schützengilde zu treten, seinenAeltesten in ein Samtröckchcn zu stecken und ihn aufs Gymnasiumlzu schicken, war dann wohl in dem Kinde lebendig und machte seinHerz empfänglich für den einstigen Glanz und mehr noch für disjetzige Dürftigkeit. Wenn Philipp Majewski vom Boden kam, warsein Geficht verkniffen, daß es um Jahre älter aussah, und nie.mals blickte er mit solchem Ausdruck der Wut, der Scham, desjEntsetzens auf seinen gestickten, verlängerten und doch zu kurzenAnzug.Unter dem Drucke solcher Verhältnisse ward er scheu, UN»gesellig und feige, und das trennte ihn noch mehr von den übrigenSchülern. O, er wußte, sie lachten verächtlich hinter ihm dreinund verhöhnten ihn heimlich: heimlich, weil sie Furcht hatten, eSlaut zu tun. Denn sie hatten nicht vergessen, daß er einst, zuplötzlicher Raserei getrieben, mit einem dumpfen Schrei um sichgeschlagen hatte wie ein Wahnsinniger. Seitdem ließen sie ihnin Ruhe, aber ihren Respekt hatte er nicht gewonnen. Sie fühltenwohl, daß dieser jähe Ausbruch nichts mit eigentlichen Mutzu tun hatte. Und tatsächlich beschrieb Philipp Majewski ganzallein seine Bogenlinien zum und vom Gymnasium.Zu Hause ward es derweil immer schlimmer. Es war ihm!bald etwas Gewohntes, daß er mit leerem Magen in die Schul«kam. Wenn er dann in der großen Paus« auf und ab schritt under neben sich die Hunderte und Aberhunderte von schmausendenJungen sah, übersiel ihn oft ein wilder Heißhunger, daß er sichihalb erschöpft an den Zaun lehnte und daß sich seine Augen, diesonst ständig scheu abschweiften, unwillkürlich in brennender Gierauf das Frühstück irgendeines Kameraden richteten.Da geschah es einst, daß er als Letzter beim Beginn der großertPause die Klasse verlassen wollt«. Als er halb achtlos zurück»blickte, bemerkte er unter einer Bank ein eingewickeltes Paketchen— es sah ganz so aus, als hätte dort jemand sein Frühstück ver»gessen. Mehr noch in Neugier als in einem anderen Gedankenging er darauf zu, nahm es auf, wickelte es aus dem Papier.„Das ist doch der Platz von Hertel." dachte er dabei.„Warumhat er's denn liegen lassen?"Aber als er das Brötchen vor sich sah, überfiel ihn wiedeödieser gierige Heißhunger. Seine Hände zitterten, die Augenquollen in dem käsigen Gesicht hervor, der Speichel rann ihm zu,sammen— 1Und plötzlich erschrak er. Schritte tönten draußen. Wem«man ihn hier sah— an Hertels Platz— und das Brötchenund— und—-Wie der Blitz war er an der Tür. Halb mechanisch Haft«er Papier und Brötchen in die Tasche gestopft. Und blöde lächeljeer den inspizierenden Lehrer an...Draußen ging er dann nach seiner Art auf und ab, die einüHand immer in der Hosentasche und sah schreckhaft und scheu voi?unten auf, als müsse etwas passieren, als würden sich hundertBlicke im nächsten Moment durchbohrend auf ihn richten, als müsse