�Wsr Lalent f)«?, das findest Tu selbst, kann auch, was er Nicht gelernt hat. Ich Hab vielleicht gar kein so großes Talent zum Lernen in der Schule. Aber vielleicht zu etwas anderm... Das Singen in der Volksschule hat mich so gefreut. Da Hab ich immer einen Einser gehabt... und— weißt Du noch, die Flöte! Ach, wenn ich hätte lernen dürfen Flöte spielen, oder gar Violine... Jetzt Hab ich halt nichts mehr als nur— soll ichs Dir sagen? Soll ich? Ja?-- Bleib sitzen— ganz ruhig." Er stand auf und ging in den dunkelsten Winkel des Alkoven, und leise schwirrten von dort her die Töne der Nachti- gall zu der Mutter herüber, und sie staunte und hörte zu und überhörte, daß die Küchentür geöffnet wurde, und nun auch die Zimmertür. „Halb elf," sprach Pfanner, eintretend,„und Du bist noch auf, und wo ist der Bub?" ; Er war in schlechter Laune. In der Versamnilung war ein Antrag, den Pfanner und einige ältere Beamten eingebracht hatten, abgelehnt worden. Beim gemeinsamen Abendessen hatte sich dann Obernberger eingefunden, einen Flaschenkorb in der mächtigen Rechten, und hatte Bordeaux und Champagner mit so guter, bescheidener Manier serviert, daß selbst der Herr Direktorstellvertreter sich herbeiließ, ein Gläschen anzunehmen. Nur Pfanner lehnte schroff ab. In Gift hätte sich ihm ein vom„Schlosser" kredenzter Trunk verwandelt. Bis zum Ueberdruß renom- mierte der wieder mit seinem Pepi und gab die tollen Streiche des Burschen so stolz und behaglich zum Besten, daß Psanner zuletzt nicht mehr an sich halten konnte! „Wenns der meine so treiben tat, der sollt mich kennen lernen." Da waren dann gleich Entschuldigungen Pepis nachge- kommen und ein zärtliches Lob des guten Kerls, der er sei, bei all seinem Uebermut, und was für ein goldenes Herz er habe und— ein Talent! Die Herren Professoren zweifelten gar »ücht daran, daß er in diesem Jahre Primus werden würde. .(Fortsetzung folgt.» C3Ja<6brui verboten.) Die Ziege. Bon Carl Busse . Aber immer, wenn ihn jetzt hungerte, mußt' er an das Bröt- chen denken, daß er in der dunkeln Kammer verzehrt hatte. Nie- mals hatte etwas so gut geschmeckt; er fühlte es in der Hand knistern, er spürte es auf der Zunge. Und wie von geheimer Macht vorwärtsgestoßcn, ging er auf dem Wege, den er ein- geschlagen, langsam weiter. Zögernd verließ er als Letzter die Klasse. Wie hungrige Luchse revidierten seine Augen die Bänke — meist ohne Erfolg. Eines Tages hatte sich das Frühstücksbrot seines Nachbars unter der Bank bis in seine Nähe geschoben. Er fieberte. Er berührte es mit den heißen Fingern, zuckte zurück, zog es näher, steckte cS ein. Im selben Moment siel sein Kopf fast vornüber. Alles Blut brauste nach der Stirn. Er hörte nur verworrene Laute. Der Professor erklärte, die Schüler saßen schläfrig da, sein Nachbar malte Buchstaben und Kringel aufs Papier und drehte dann Kähne und Generalshüte aus den Seiten— es war alles wie sonst. Und auch später er- eignete sich nichts. Zwar schlug der Junge, dem sein Butterbrot fehlte, in der Pause Hallo, aber die andern lachten ihn aus. Sie lachten auch noch in der Folgezeit. Doch allmählich kam ein Raunen und Murmeln und Mißtrauen in die Klasse. Dem kleinen Schneider ging es immer schlechter, sein Söhnchen, die Ziege, ward immer magerer. Niemand wußte, wer es aufgebracht hatte, aber eines Tages hieß es: die Koza frißt nicht nur Gras! Halblaut lief es von Mund zu Mund. Und jeder glaubte es sofort und streifte in Neugier und Verachtung mit kurzem Seitenblick das käsige Gesicht des dürren Burschen. „Das ist keine Petzcrei," sagte der Primus.„So was muß man melden. Vesser , wenn er rauskommt!" „Und die Beweise?" fragte der lange Modlin höhnisch, der sich ständig mit dem Primus zankte.„Erst müssen wir ihn doch fassen. Und dann verhaun wir ihn erst mal." So ward Philipp Majeivski in der nächsten Zeit von dreißig Augenpaarcn überwaht. Immer, wenn er nach seiner Art von unten aufsah, begegnete er einem forschenden Blicke. Und er fühlte dumpf, wie sich Haß und Verachtung der andern wie Kerkcrwände um ihn hcrumstellten. Da duckte er sich scheu, aber -in seinen Augen glomm manchmal ein Funke auf, als wollt' etwas Verzweifeltes nach oben stoßen, die Dämme brechen, alles niederschlagen und wäre nur noch nicht stark genug. Vor der Könisscheibe oben auf dem Boden wuchs es am raschesten. Da verzerrten sich jählings vnd krampfartig die Züge des Knaben, das häßliche Gesicht ward noch häßlicher, und die Arme reckten und streckten sich, als wär' er ein Simson, als könnt' er rechts und links die Pfosten umfassen— die Pfosten des Gymnasiums —, daß donnernd der mächtige Bau über ihm selbst, aber auch über allen andern zusammenschlüge und jedes Leben zerschmetterte. Es war ihm manchmal, als stünde er allein und verlassen in einer Schar wilder Bestien, die jeden seiner Schritte belauerten, und als könne er diese Spannung nicht lange mehr aushalten, sondern müsse sich selbst mit einem rasenden Gebrüll, in dem seine Angst aufschrie, auf die Feinde stürzen. Aus den Aermeln hingen ihm die Arme, die„Zicgenknochen", immer dürrer. Es schien fast, als strecke der Hunger die Glieder des Jungen. Und sein Hunger war unstillbar. Die Kartoffeln mit der Leltunke, die er zu Hause bekam, hielten nicht vor. Aber in der Klasse ließ niemand mehr etwas liegen. Niemand mehr? Der lange Mvdlin kniff ein Auge zu— der Primus sollte sehen, wer schlauer war. Als Philipp MajewSki wieder mal langsam zur Tür pendelte, durch die sich lärmend die andern Schüler nach außen drängten, stutzte er. Er hatte eS gar nicht drauf abgelegt, der Letzte zu sein— es war doch um» sonst. Aber da— da... unter der dritten Bank... etwas an den Rand gedrückt... „Nimm's nicht!" sprach etwas in ihm. Aber seine Augen suchten schon brennend an dem roten Papier herum, der ganze Mund war voll wässrigem Speichel, es kniff und schnitt in seinein Magen... und niemand war da... keiner auf dem Korridor. keiner hinterm Katheder... er sah extra noch dahinter,,. und zitternd trug er seine Beute ins Frei« Mit einem Blick hatte der lange Modlin am Schluß der Pause gesehen, daß das rote Paketchen fehlte. Er gab der Klasse ein Zeichen. Seltsam unruhig begann die neue Stunde. Die Unruhe wollt' nicht weichen und aufhören. Bis plötzlich ein Blitz über alle Gesichter fuhr: die Koza meldete sich und verließ das Zimmer. Es war nicht gestattet, daß zwei Schüler gleichzeitig hinau?» gingen. Aber als in der nächsten Minute der lange Modlin da? Taschentuch vorS Gesicht drückte und Nasenbluten vorschützte, winkte der Lehrer ärgerlich. Der Lange sah gerade noch, wie die„Ziege" hinter der Turn» hall« verschwand. Da wüßt' er Bescheid. Kein Sternchen rollte unter seinen Füßen; der Kies knirschte nicht. Aber wie der lange Bursche mit angehaltenem Atem vorwärtsging, hatte er plötzlich selber eine geheime Beklemmung, als wäre er auf unrechten Wegen. Nasch ging es vorbei. Und in der nächsten Minute riß«tz mit einem Sprunge die Tür des Schuppens auf. In eine Ecke gekauert, das rote Papier in der einen Hand, die Butterstulle in der andern, mit vollem Munde kauend, saß Philipp Majcwski da. „Psia krew— Koza! Dieb? Freundchen! Haben wir Dich!" schrie der lange Modlin triuniphierend auf. Aber er prallte im Augenblicke zurück. Blitzschnell hatte sich die„Ziege" aufgerichtet. Doch als ver» sagte dem Jungen einen Moment jeder Wille und jede Kraft, lehnte er grauweiß wie die Kalkwand sich zurück, die Augen quollen aus ihren Höhlen, aus dem käsigen Gesicht sprang spitz die Nase vor, die Kiefer mahlten und kauten noch sekundenlang, während die eine Hand krampfhaft das Papier zerknitterte und die andere das Brot zerquetschte. Und dann,— noch ehe der lange Modlin ihn packen könnt'—> ein furchtbarer Schrei— nein, ein Gurgeln, wie aus ErstickungS» gefahr, aus dem noch vollen Munde brechend,— ein sinnloses Herumschlagen mit den Armen— der rote Papierball, in Ver- zweiflung geschleudert, klatscht dem andern gegen die Stirn, da? zerquetschte Brot desgleichen— wie ein Klotz fliegt der lang« Modlin gegen den Türpfosten, und mit einem Aufbrüllen, das er nie vergißt— gerade als hätte die„Ziege" jetzt den Mund frei bekommen—, stürzt der Dieb an ihm vorbei. „Majcwski!" schreit der Lange erschrocken. Nicht„Koza", sirn« dern Majewski k Ader der packt schon den hohen Zaun des SchulhofeS. Wi» lange Affenarme recken sich die Knochen aus den kurzen Aermeln, die Hände greifen höher, und wie ein Affe klettert der Junge — klettert— schwebt droben— springt— ist verschwunden. Der lange Modlin starrt ihm nach und schüttelt sich, als hätt' er ein Grauen. Er geht nicht gleich in die Klasse zurück. Mit un» sicheren Augen sucht er nach dem roten Papierball, steckt ihn ein. „Majewski!" ruft er. Und halb fcheu:«Mach keinen Un- sinn!", Keine Antwort. Stille. Man hört die Bäume. Da geht der Wind durch. Und geduckt, fast angstbcklommen schiebt sich der lange Modlin vorwärts— auf das Gymnasium zu. Aller Augen drehen sich nach ihm, als er die Klassenstube wieder betritt. In allen lebt die Frage: Hast du ihn? Unmerklich für den Lehrer schüttelt er den Kopf. Er selber wundert sich darüber. Und mit einer gewissen Enttäuschung wen- den sich die Blicke der Lektüre zu. Nur der Primus schmunzelt: er gönn! dem langen Modlin den Reinfall. Die Stunde schleicht hin.„Wo bleibt denn Majewski?" fragt
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26 (19.8.1909) 160
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