Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 164.
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Mittwoch, den 25. August.
Der Vorzugsfchüler.
Von Marie v. Ebner Eschenbach. Georg, Georg, um Gottes willen!" wiederholte die Mutter. Sie sah ihren Mann fahl werden vor Wut, sab seine Fäuste sich ballen:
1909
( Nachdruck verboten.) ein schwarzer Strich auf einem Piedestal. Georg mußte mil Gewalt alle seine Dentkraft zusammen nehmen, um sich flag zu machen: das ist der Herr Professor, der einen Vortrag hält. Er schloß die Augen, lehnte sich zurück und dachte: Ich werde heute nicht lernen können. Nach einer Weile aber wurde es besser, er vermochte sich aus dem unheimlich traumhaften Zustand, in den er geraten war, heraus zu reißen. Der zweite Vortrag hatte begonnen. Der jetzt sprach, war ein sehr be liebter, von der ganzen Schule verehrter Lehrer, der Professor der Geschichte. Er hatte einen sonst kaum mittelmäßigen Schüler aufgerufen, und der bestand mit Ehren. Georg folgte. Ach! wenn er auch so viel Glück hätte, wie sein Vorgänger Es schien beinahe. Der Professor prüfte aus dem unläng von Georg Wiederholten und sagte:
Mufit? gut, gut! Ich kauf Dir einen Leierkasten, kannst in den Häusern orgeln und auf die Kreuzer warten, die sie Dir aus den Fenstern werfen."
Georg preßte das Kinn auf die Brust und starrte zu Boden
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Pfanner sprang auf und führte einen schweren Schlag auf den Nacken des Kindes:„ Kein Wort mehr! Und das merke, komm mir nicht noch einmal mit einer schlechten Note nach Hause. Untersteh Dich nicht!"
Nein, nein," murmelte Georg. Er war jetzt ganz furchtlos. Um so besser, wenn er nicht mehr nach Hause zu kommen braucht. Der Vater wird sich nicht mehr über ihn ärgern, und die Mutter nicht mehr quälen um seinetwillen. Wäre er doch nicht auf die Welt gefommen...- oder wäre er schon Draußen wäre er tot!
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Am nächsten Morgen war der Vater von einer furchtbar dräuenden Schweigsamkeit. Die dunkeln Ringe unter seinen geröteten Augen, bei ihm das sicherste Zeichen einer schlaflos durchwachten Nacht, gaben ihm das Aussehen eines Kranken. Er frühstückte hastig, nahm seine Schriften unter den Arm, sette den Hut auf und verließ das Zimmer, ohne den Gruß feiner Frau und seines Sohnes zu erwidern. Man hörte ihn die Küchentür zuschlagen, daß sie dröhnte.
Georg ordnete die Hefte und Bücher in seiner Schultasche, war fertig, nahm Stück für Stück wieder heraus, ordnete alles von neuem, langsam und bedächtig. Die Mutter mahnte zur Eile. Er ließ plöblich alles liegen und stehen und warf sich ihr in die Arme und sie drückte ihn an ihr Herz. Sie sprachen nicht, es fam feine Anklage über ihre Lippen, aber glühend brannte sie in ihren Herzen. Wie glücklich könnten sie sein, fie zwei, wie glückselig, wenn der Ehrgeiz des Vaters nicht wäre, der blinde, törichte, der vom Apfelbäumchen, das ihm Gott in seinen Garten gepflanzt, die Triebkraft der Eiche berlangte.
Dreimal schon hatte Georg Lebewohl gesagt und brachte sich noch immer nicht fort.
" Du kommst zu spät, Schorschi," sagte Frau Agnes. Rauf jeßt, lauf! Und sei nicht so traurig," fügte sie hinzu und strich ihm über die Wangen.
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Du bist selbst traurig," antwortete er,
„ Ach das vergeht, bei der Arbeit vergeht's."
,, Also adieu," sagte er und schritt resolut der Tür zu, und über die Treppe hinab bis zum ersten Stockwerk. Dort blieb er stehen, befann sich, fehrte plößlich um und stürmte in raschen Säßen wieder zurück, und wie er oben ankam, sah er die Mutter vor der Wohnungstür stehen, auf derselben Stelle, bis zu der sie ihn begleitet hatte.
Was gibt's?" fragte sie wie aus dem Schlaf auffahrend, warf den Kopf zurück und bemühte sich, eine strenge Miene anzunehmen. Hast was vergessen?"
In der Schule fam er zu spät. Der erste Vortrag hatte schon vor einer Viertelstunde begonnen, als er eintrat und sich auf seinen Platz setzte.
,, Gut, bis auf zwei Jahreszahlen. Sie bekommen ,, Lobenswert". Ich möchte ihnen aber gern Vorzüglich geben können und stelle deshalb noch einige Fragen. Nennen Sie mir alle deutschen Kaiser bis zu Rudolf dem Ersten." Das war feine sehr schwere Frage. Voll Zuversicht be gann er sie zu beantworten und gelangte glorreich bis zu Otto III. Da verriet ihn sein Gedächtniser ließ den ge lehrten und frommen Kaiser ein hohes Alter erreichen und Heinrich II. den ersten Salier sein.
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Der Professor zudte bedauernd die Achseln und unter brach ihn:„ Das geht nicht gut. Etwas anderes! Erzählen Sie mir die Geschichte von Konradin ." O die wußte er! die hatte er seiner Mutter erzählt; so rührend, daß sie dabei weinen mußte. Konradin war ja- mun ja- war ja König Enzio... Oder nein, richtig- Enzio war Konradin ...
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Ein kaum unterdrücktes boshaftes Richern erhob sich, der Pepi lachte ihn aus. Die Augen des Professors hefteten sich fest auf ihn. Er verstand, daß diese guten, wohlwollenden Augen gang besorgt fragten:" Sind Sie bei Trost?" Er hätte schreien mögen: Nein! ganz verwirrt und fonfus bin ich!"
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,, Sie tun mir leid," sprach der Professor, aber- sagen Sie selbst welche Klasse haben Sie verdient?"
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Georg flüsterte etwas völlig Unverständliches. Dem Lehrer schien, es sei ein Dank gewesen. Der Junge wußte heute nichts, erriet aber viel, erriet das innige Mitleid, das er seinem Lehrer einflößte.
Ehe der dritte Vortrag begann, verließ er die Schule und ging langsam die Straße hinab. Es war ein Frühlingstag mit sommerlichem Sonnenschein, der Himmel wolkenlos, die Luft noch frei von Staub und Dunst. Georg schritt mit weit aufgerissenen, verglasten Augen zwischen den Menschen dahin, die sich in der Hauptverkehrsstraße der Vorstadt drängten. Einem oder dem anderen fiel auf, wie sonderbar„ berloren" er aussah. Reiner hatte Lust und Zeit, ihn zu fragen, was ihm sei. Ein Tischlerjunge nur, der einen Handwagen schleppte, und an den er angestoßen war, rief ihm zu:
Miken?"
Süo! wo hast Dein Schädel? Anbaut mit samt der Unwillkürlich griff Georg nach seinem Kopfe. Er war barhaupt, hatte seine Müze in der Schule gelassen, und auch seine Lernfachen. Daran lag aber nichts. Ihn würde nieIch hab Dir ja nicht ordentlich Adieu gesagt," und er mand nach ihnen fragen. Er konnte ja nicht mehr heim. fiel ihr um den Hals und füßte sie mit stürmischer Zärtlich- Komm mir nicht nach Hause mit einer schlechten Note!" teit. Diese Worte dröhnten unablässig an sein Ohr. Jett mußte er sie bekommen, die schlechte Note, die erste wirklich schlechte. Was würde der Vater jekt mit ihm tun? Und wie würde die Mutter sich kränken... Nein, nein, Vater und Mutter, er wagt es nicht, er kommt nicht mehr zurück, er geht, wohin schon mancher unglückliche Schüler gegangen ist: in die Unglück, Unglück," murmelte Georg und gab sich alle er- Donau . Und dieser eine Gedanke, je länger er ihn vor sich denkliche Mühe, aufmerksam zuzuhören. In seinem Kopfe fah, als das Unabwendbare, Einzige, ie mehr befreundete ging es sonderbar zu. Es summte und hämmerte darin, und er sich mit ihm. Dieser Gedanke mit dem dunklen Kerne hatte der Stimme, die vom Katheder zu ihm herübertönte sonst eine blendende Atmosphäre und fing an, eine große Helligkeit eine laute, fraftvolle Stimme, fehlte der Klang. Die zu verbreiten. Er gestaltete sich jetzt so:" Ich muß in die Worte, die sie sprach, waren nicht artikuliert, flossen inein- Donau, ich will aber auch, und gern. Wie gut ist es, tot zu ander wie Wellen... Noch etwas Sonderbares! der breite sein, nicht mehr hören müssen: Lern! Wie gut auch, wenn Saal schien sich zu verlängern ins Unglaubliche. Es war es feinen Zwiespalt mehr zwischen den Eltern gibt. Aber fein Saal mehr, es war ein langer Gang, von merkwürdig du begehst einen Selbstmord," fuhr es ihm durch den Sinn, faltem, weißem Licht erfüllt, und ganz weit am Ende stand und ein Selbstmord ist eine Todsünde." Ihn schauderte,
Wo steckst denn?" raunte der Nachbar ihm zu. Du bist aufgerufen worden und warst nicht da."