Nnterhaltungsblatt des vorwärts Nr. 188. Dienstag, den 28. September. 1909 lLoMuck verboten.; 23] Xta fjaine» Novelle von S. I u s ch k e w Z t s ch. (Schluß.) Ita, die sich von ihr freigemacht hatte, vackte mit beiden Händen ihre Haare und riß daran, was sie nur konnte. Da- bei schrie sie wie eine Wahnsinnige, schrie mit gedehnter. tiefer, wildklingender Stimme und stampfte mit den Füßen. Ihr Schreien lockte sofort eine ganze Menge Leute heran. Alle drängten sich heran und fragten einander, was geschehen sei und ruhten nicht eher, als bis Esther ausführlichen Be- scheid gab. Ita aber fuhr fort, in bloße wilde Laute auszu- stoßen-, Worte konnte sie nicht finden, um ihrem Schmerze Ausdruck zu geben. Dabei hämmerte sie sich mit beiden Fäusten auf den Kopf. Ringsum ertönten aufgeregte Reden und jeder tat etwas, um ihr zu helfen. Der eine brachte eine Zitrone— es roch bereits nach Salmiakgeist—. ein anderer hatte ein Taschentuch fest um Jtas Arm gebunden, um eine Ohnmacht zu verhindern. Sie aber schrie ununter- brachen weiter, als ob das, was ihre Stimme regierte, nicht mehr funktioniere und ihr Wille nicht stark genug sei, diesen Tönen Einhalt zu gebieten. Plötzlich verstummte sie und fiel bewußtlos um. Einige der Anwesenden hoben sie auf und trugen sie borsichtig hinauf in die Küche. Dann blieben sie noch im Hofe, in der Erwartung, ob nicht vielleicht ihre Hilfe noch nötig sei. Esther und die Köchin bemühten sich um Ita, um sie zur Besinnung zu bringen. Die Hausfrau, von dem Lärm aufmerksam gemacht, trat in die Küche, sah die toten- blasse, auf der Bank ausgestreckte Amme, erkundigte sich, was passiert sei und blieb einige Minuten neben Ita stehen. Ahr Gesicht drückte Mitleid aus. Dann verließ sie die Küche, sehr verstimmt durch den Gedanken, was für eine Wirkung der Kummer Jtas auf das von ihr gestillte Kind wohl haben werde. „Wenn es zwei Wochen später gewesen wäre, hätte man das Kind abgewöhnen und sie gehen lassen können.'� Noch verstimmter ward sie aber, als sie an die Not- wendigkeit dachte, heute Nacht sich selbst mit dem Kinde ab- geben zu müssen. Mittlerweile kam Ita nach und nach wieder zu sich. Mit großen, wilden Augen blickte sie im Zimmer umher und schrie laut auf vor Schreck, als sie Esther bemerkte, die sie aber an- sangs nicht erkannte. Esther begann sofort ihr zuzureden, bemüht, ihre Stimme sanfter zu machen, und unter Beihilfe der Köchin fing sie an, eine Menge schöner und lehrreicher Geschichten als Beispiele dafür anzuführen, wie gut es fei, wenn Kinder so früh sterben, ohne die Schrecken des Lebens kennen gelernt zu haben. Ita hörte sie mit stumpfer Ver- zweiflung an, weinte und lauschte wieder ihren Reden, bis das Schmerzgefühl unmerklich nachließ. Als sie wieder zu sprechen begann, klang ihre Stimme matt und wie erkältet; sie bat Esther, ihr ausführlich die letzten Lebensaugenblicke des Kindes zu erzählen. „Ich konnte heute gar nicht loskommen, um es noch ein- mal zu sehen," schluchzte sie und erinnerte sich plötzlich, wie es sie gerade heute nach dem Krankenhaus gezogen hatte. „Die„Gnädige" wollte mich absolut nicht gehen lassen. Aber ich habe mich beruhigt, weil Sie niemanden zu mir geschickt haben." Esther begann alles bis.ins kleinste hinein ausführlich zu erzählen und vergaß auch nicht, über den Tod jener zwei Kinder zu berichten, deren Mütter Ita gestern am Fenster der Baracke gesehen hatte. Ita aber unterdrückte gewaltsam das sich aus der Brust ringende Schluchzen, um für alle Ewigkeit diese schrecklichen, aber doch so teuren Einzelheiten von den letzten Stunden ihres Kindes zu behalten. „Wann wird es begraben?" mischte sich die Köchin ein. Ita weinte, sich hin und her wiegend, dumpf auf und schlug die Hände vors Gesicht. Esther aber antwortete ge- schäftig: „Natürlich morgen," und fuhr besorgt fort:„Man muß nicht vergessen, ins Begräbniskontor zu gehen und dort die Sache in Ordnung zu bringen, Sie müssen früh aufstehen, Ita, um Zeit zu gewinnen. Wenn man sich nicht beeilt, können sie das Kind zerschneiden. Dort zerschneidet man sis wie Kraut, wenn man nicht früh genug kommt." „Ich möchte Sie darum bitten, teure Esther," sagte Ita schüchtern, die Hände vom Geficht haltend, und trocknete die Augen.„Mein Kopf ist jetzt zu nichts nutze. Ich kann jetzt nichts tun. Nehmen Sie es auf sich. Erweisen Sie dem Kind den letzten Dienst." „Ich habe zwar morgen viel zu tun. das ist immer so� Aber für das Kind tue ich alles. Haben Sie Geld?" „Ja, ich geb' es Ihnen." „Nun, so können Sie ruhig sein. Mit Geld kann man» alles rasch machen. Ja. was ich Ihnen sagen wollte, Ita, Ich will mich nicht loben. Das mögen andere tun. Aber der Gerechtigkeit halber mutz ich sagen, daß ich für meine Mühe vieles verdient habe. Ich habe Zeit und Mühe verloren, aber reden wir nicht viel davon. Belohnen Sie mich selber, Ich verlasse mich ganz auf Sie, Sie werden selber wissen, was ich verdient habe." Ita sah ihr fest in die Augen, aber sie war die erste, die ihren Blick senkte. Sie ging zur„Gnädigen", um sich Geld zu erbitten. Erst nach einer Viertelstunde, die mit langen Auseinandersetzungen erfüllt war. kam sie mit dem Geld zurück. Esther taute auf bei ihrem Anblick. Ita zählte ihr sofort auf den Tisch, was sie verlangte, ließ sich noch ein- mal alle Einzelheiten vom Tod ihres Kindes erzählen und würde gern die ganze Nacht dagesessen und gelauscht haben. Aber Esther hatte hier nichts mehr zu erwarten und rüstete sich ohne weiteres zum Gehen, unter dem Vorwand, es sei schon sehr spät. Die Köchin riet auch, Esther nicht aufzuhalten, damit sie ja nicht verschlafe, und Ita ging seufzend darauf ein. Sie verabredeten sich, morgen früh im Kranken- haus zusammenzutreffen. Als Esther dann gegangen war, begab sich Ita schweigend auf ihr Ziinmer, verbarg ihr Ge- ficht in den Kissen und blieb lange unbeweglich liegen, ihr Leben leise beweinend. Das Kind war nicht im Zimmer, seine Mutter fürchtete sich, es für diese Nacht Ita anzuver- trauen, und Ita fühlte doppelt schwer ihre Einsamkeit, ihre Ucberflüssigkeit in dieser Welt. Mitten in der Nacht wurde die nagende Trauer, das Gefühl des Verlassenseins so un- erträglich, daß sie sich entschloß, bei der„Gnädigen" um das Kind zu bitten, um in ihrer Liebe zu ihm neuen Mut zu schöpfen. Aber sie wollte das Kind nicht hergeben und Ita schleppte sich noch gedrückter als zuvor auf ihr Zimmer zurück. wo sie dem, was sie quälte, freien Lauf gab. Die Zähne fest in die Kissen gebissen, schrie sie mit der Wollust des Leidens aus voller Kraft, als ob sie Hals. Lungen und Herz sprengen wollte, um den seelischen Schmerz zu betäuben. Wie lebendig stand vor ihren Augen ihr Kind und lächelte und streckte seine Händchen aus, so rosig, frisch und glatt, und sein Bild, so. lockend und verführerisch, rief in ihr eine Verzweiflung wach. daß sie am liebsten ihrem Leben ein Ende gemacht hätte: so langweilig, zwecklos und unnütz schien es ihr jetzt zu sein« Auch an Michel dachte sie. Der werde sich den Teufel um ihren Schmerz kümmern, ihm werde der Tod des Kindes nuv von Vorteil sein. Sie empfand das Verlangen, zu ihm hin- zugehen und ihn so zu ärgern, daß er sie totschlüge. Aus dem Tiefsten der Seele aber stieg durch alle Trauergedanken hin- durch die wuchtige, graue, schwere Wirklichkeit hervor und flüsterte ihr frechgrinscnd zu, daß sich nichts verändern, daß ihr künftiges Leben eine lange und sinnlose Wiederholung des in diesem Jahr Erlebten sein werde. Aber dann dachte sie, daß die gegenwärtigen Gefühle sich nicht lange in all ihrer Frische erhalten würden, daß sie sich mit der Zeit abstumpfen würden, daß sie sich schließlich an sie gewöhnen würde, wie sie sich an all ihr Unglück gewöhnt hatte, daß die Erinnerung an all das Schlimme nach und nach verblassen und von dem immer neuen Streben ersetzt würde, ihr Leben zu durchleben, um seine harten Schläge weniger zu spüren und unmerklich bis ans Grab zu kommen, das alles zur Ruhe bringt, alles verschwinden läßt. Wozu denn weiter leben, o Gott, dachte sie., Gibt es denn keine Hoffnung mehr? antwortete sie sich selbst. _ Hoffnung! Sie vergaß einell Augenblick lang all jhrett
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26 (28.9.1909) 188
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