822 Die Kantine war überfüllt. Es wurde getrunken, ge- sungen und gebrüllt. Alle hatten schon Zivilanzüge an. Tie Unteroffiziere ließen sich nicht blicken. In ihren Stuben hatten sie sich eingeschlossen. In zügellosem Jubel wurde mit den Reservestöcken der Takt zu den Liedern geschlagen. Zum Possen wurden die Spinds umgekippt, die kleinen Putzkasten zerschlagen. In den Stuben lag alles wie Kraut und Rüben durcheinander. Die Betten wurden umhergeworfen, eine Unmenge Kleinig- leiten, die für die Abgehenden wertlos waren, wie Putz- läppen, Putzgabel», abgenutzte Wichsbürsten und Putz- schachteln lagen auf dem Boden.umher. Die Reservisten holten die junge Mannschaft aus den Betten. Auf Kosten der Fröhlichen mußten sie mittrinken. Greskser war schon halb betrunken. Wie ein Tier brüllte er und schlug mit seinem betroddelten Reservistenstock um sich. Auf dem Korridor hatten sich einige zwanzig Mann gruppiert, um mehrstimmig Reservistenlieder zu singen. Jeder gab sich die größte Mühe, so laut zu singen, als der Brustkasten nur zuließ. Die Fensterscheiben zitterten bei- nahe bei den ersten Strophen. Aus den Stuben kamen die anderen hinzu. Die Zahl der Sänger wuchs mit jedem Ton. Alle Lieder der Reihe nach! Wie ein einziger, mächtiger Freudendonner hallten die Worte von den Kasernenmanern wider: Und der Tag ist da, den wir so manches Mal Erhofft, erhofft! Und endlich ist er da! ist er da? Gegen Morgen, mit dem Erwachen des Tages, wurde es ruhiger. Um sechs Uhr ließen sich die Unteroffiziere blicken. Ter Feldwebel händigte den in Reih und Glied an- getretenen Reservisten die Papiere aus. Dann kam der Hauptmann, der die letzte Ansprache hielt. Kaum war er fort, begann der Jubel von neuem. In einzelnen Trupps wurden sie dann von den Unter- offizieren zum Bahnhofe geführt. Volter hatte bei seinem Feldwebel um die Erlaubnis ge- beten, allein reisen zu dürfen. » Wie er am Nachmittage mit seiner Braut auf dem Bahnhose ankam, waren alle Militärzüge schon längst ab- gefahren. Ein wunderbarer Tag! Die Sonne strahlte heiter vom klaren Himmel. Auf den Straßen zum Bahnhof war ge- gewöhnlicher Tagesvcrkehr. Soldaten sah man gar nicht. Sonst hatte man immer da und dort eine Ordonnanz erblickt. Eine gewisse Leere inachte sich in der ganzen Stadt bc- merkbar. Wie verlassen kani Volter jedes Haus vor. Ueberglücklich war seine Braut! Mit verklärtem Auge mußte sie Volter immer wieder ansehen. O, wie wohl tat die Freiheit. Heraus aus dem Zwang, aus dem Soldatenleben, ein freier Mann! Beiden war das Herz so voll, daß sie mit keinem Wort ihr tiefempfundenes Glück schmälerten. Stumm saßen sie nebeneinander iin Wartesaal, bis das Glockenzeichen beide hastig aufspringen ließ. Sie stiegen ein, beide allein in ein Coupch Volter lehnte sich zum Fenster hinaus und blickte zur Stadt zurück, die er fast ganz überschauen konnte. Wie be- kannt, und doch wie fern, wie fern kam ihm das alles vor. Deutlich konnte er die verschiedenen 5kasernemcnts unter- scheiden. Weit hinten, am Ende der Stadt, sah er das Lazarett. Welche Erinnerungen tauchten da m ihm auf. Und dort, dicht daneben standen die hohen, dunklen Mauern des Festungsgcfängnisses. Er sah im Geiste durch die Mauern dem Treiben der Gefangenen zu. Wie er als Rekrut im inneren Hof als Posten stand, was hatte er da empfunden! Polowsky!-- Dann dort, der Friedhof! Schlaf wohl, Meiner!" entfuhr es seinen Lippen.Tu armer, lieber Kerl! Daß Du einen solchen Tag nicht er- leben durftest." Tief aufatmend schloß er wie abwehrend die Äugen. Grell ertönte das Pfeifen der Lokomotive. Langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Volter wandte den Blick nicht von der Stadt ab, bis ihm bei immer größer werdenden Geschwindigkeit des Zuges der Ort so vieler bitterer Erinnerungen am Horizont verschwand. Langsam schloß er das Fenster und setzte sich dicht neben seine Braut. Fest drückte er ihr die Hand, ganz erfüllt von dem Gedanken an das neue Leben ein Leben in Freiheit, für die große Freiheit der Zukunft und Erlösung, deren Vorkämpfer er jetzt, wie so viele, sein wollte. Das gelobte er sich in diesem Augenblick. Als er in die Augen seiner Geliebten sah, strahlte ihm Liebe und inniges Verstehen daraus entgegen, und seine Seele jubelte auf! 14 Jahre Ieluit. Der ehemalige Jesuit Paul von Hoensbroech beginnt seine Memoiren zu veroffentlickien*) Wer glaubt, aus ihnen sehr viel Neues zu erfahren, wird bald enttäuscht: Wir erhalten nichts als ein durch langatmigegrundsätzliche" Erörterungen leidlich ausgefülltes Kalendarium der ersten 26 Jahre des Grafen. Wir wissen nicht, was die kommenden Bände an persönlichen Er» sahrungen bringen werden. Dieser erste, an dessen Schluß Hoeerr-- broech noch gar kein Jesuit ist, rechtfertigt sein Unternehmen ganz und gar nicht. Ewige Wiederholungen,«ine unsympathische Kälte im Stil, Mangel an Anschaulichkeit und eine oft schulmeisterliche Art der Berichterstattung machen die Lektüre schwer. Dazu kommt ein aufdringliches Betonen seinernationalen" Gesinnung, seiner Preußen- und Bismarckschwärmerei, die nicht nur sozialdemo- kratischen Lesern unerträglich sein wird. Nur eins zeichnet das Buch aus: eine lächcrlicki-peinliche Genauigkeit in geographischen, genealogischen, chronologischen, überhaupt allen Daten, mit denen seine formalistische Wissenschaft ihre Triumphe feiert. Das Buch hat eine zweiseitigeInhaltsübersicht" und gleich dahinter ein vicrzehuseitiges(!)Inhaltsverzeichnis". Dazu verspricht der Per» fasser für den zweiten Band noch dreiVerzeichnisse": ein Sack-, ein Personen- und ein Ortsverzeichnis. Alle jesuitischen und nicht- jesuitischen Gelehrten werden den Verfasser wegen dieses Tabellen- Talentes beneiden. Trotz dieser zweifelhaften Vorteile und unzweifelhaften Nach- teile dielet das Werk natürlich schon wegen seines Themas manche interessante Züge und Anregungen. Weniger persönlicher Art freilich, zu einer Psychologie des Jesuitismus hat Hoens - broech nur sehr geringe Beiträge geliefert. Auch ist das aske» tische Tagebuch, das er im Orden geführt hat und dem sicherlich eine ganze Reihe von religiös-psychologisch interessanten Dingen zu entnehmen voäre, ja leider im Ordenshaus zurück- geblieben. Wohl aber hat«r, der aushöchstem" Adel stammte und mit den angesehensten Familien des Rheinlandes und des Reiches verwandt ist, aus diesem Milieu eine ganze Reihe von Zügen und Begebenheiten aufbewahrt, die für die Psychologie der Klassen charakteristisch sind. Diese und selbstverständlich auch einige Bemerkungen zum Wesen des Jesuitismus rechtfertigen ein längeres Verweilen auch von unserer Seite, die wir ja nicht nach Art gewisser Leute auf alles Jesuitische wie der Stier auf das rote Tuch zu reagieren pflegen. Graf Hoen-sbroech stammt aus dem niederrheinischen Adel. An stumpfem Fanaiismus übertrifft letzterer alles, was sonst auf die katholische Fahne schwört. Es fehlt ihm das lebenslustige rheinische und weiterhin romanische Element, das den Katholizismus anders- wo noch erträglich macht. Charakteristisch für diesen nieder- rheinilcken Adel ist sein Antipreußentum, das in dem Haß gegen alles Protestantische seinen Grund hat. Obwohl seine stark be» tonte Christlichkeit ihn nicht hindert, die Standes- und Klassen» unterschiede nach unten überall geltend zu machen, haßt dieser Adel, wie ihn Hoensbroech zeichnet, die protestantischen Junker Preußens bis zur Lächerlichkeit. In Hoensbroechs Vaierhause wurde eine Zeitlang die Kreuzzeitung gelesenweil es eben das adelige Blatt per excellenee war". Aber es bedurste nur einiger Wühlereien eines katholischen Grafen Stolberg(der übrigens von dem alten Wilhelm I. immer nur als vondem alten hart- gesottenen Sünder" sprach), um sie mit höchst charakteristischer Zeremonie für immer aus dem Hause zu verbannen: Vier adelige Jungfrauen, darunter die jetzt noch lebende Gräfin Praschma, formten ein Exemplar desmit jedem Mittel kämpfenden und hetzenden Parteiblattes", wie H. es jetzt nennt, zu einer mensch- lichcn Figur, hängten es am Kronleuchter auf und verbrannten es feierlichst, wie ihre Ahnen die Ketzer verbrannt hatten. Dieser Haß gegen die andersgläubigen Klassengenosscn zeigte sich auch unverhohlen gegenüber dem sonst loyal verehrten Herrscherhause: Als die alte Königin Augusta sich einmal tel«graphisch bei uns zu Besuch ankündigte, ließ mein Vater unverzüglich anspannen und fuhr mit uns allen auf ein jenseits der nahen holländischen Grenze gelegenes, ihm gehöriges Gut. An das Hofmarschallamt ) 14 Jahre Jesuit. Persönliches und Grundsätzliches von Graf Paul von Hoensbroech . I. Teil. Das Vor» leben: Die ultramontan-katholische Welt, in der ich aufwuchs. (Verlag von Brestkopf u. Härtel, Leipzig .)