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Er konnte nicht anders, als fich für den Inhalt zu interessieren und las daher das ganze Heft.
Der junge Autor, der zu der sogenannten ethischen oder Damenschule gehörte, predigte gegen das Lafter.
Was für ein Lafter? fragte sich der Abschreiber. Durch das wir alle zur Welt kommen? Das bei der Trauung geboten wird durch die Worte:" Vermehret euch und erfüllet. die Erde!" Und der junge Autor schrieb weiter: Außer der The sei die Vermehrung ein unheilvolles Lafter, weil die Kinder, die nicht die nötige Pflege erhalten, ein trauriges Schicksal haben. In der The dagegen sei es eine Pflicht, seinen Neigungen freien Lauf zu lassen. Dafür spreche unter anderem der Umstand, daß das Gefeß sogar das Ei des Weibes schüßt, und zwar mit Recht.
Es gibt also, dachte der Abschreiber, eine Vorsehung für eheliche, aber feine für uneheliche Kinder. Oh, dieser junge Philofoph! Und das Gesetz, das das Ei schütt! Mit welchem Recht machen sich denn die kleinen mikroskopischen Dinger bei jedem Mondwechsel Ios? Man müßte wirklich die Polizei holen, um über die heiligen Eier zu wachen!
Alle diese Albernheiten mußte er mit seiner schönsten Handschrift ins Reine schreiben.
Eine solche Menge Moral, aber nicht ein Wort der Aufklärung. Der moralische oder richtiger der unmoralische Sinn des Gedankengangs war: Es gibt einen Gott, der alle in der Ehe geborenen Kinder nährt und fleidet; einen Gott im Himmel, wahr scheinlich, aber auf der Erde? Allerdings soll er einmal auf die Erde niedergestiegen sein, um sich freuzigen zu lassen, nachdem er sich vergebens bemüht. Ordnung in die verworrenen Geschäfte der Menschheit zu bringen: er wurde nicht damit fertig.
Zum Schluß schrie sich der Philosoph heiser, der reichliche Vorrat an Weizen sei ein unwiderlegbarer Beweis, daß es teine Ueberbevölkerung gebe; daß die Lehre des Malthus falsch sei, und dazu verbrecherisch, sowohl vor dem bürgerlichen Gesez, wie vor dem moralischen.
Und der arme Familienvater, der seit Jahren kein Weizenbrötchen gekostet hatte, stand auf, um die Kinder anzutreiben, Roggenmehlgrüße und bläuliche Milch hinunter zu würgen, mit denen sie den Magen füllten, ohne sich satt zu fühlen.
Es war troftlos, nicht weil Waffergrüße das schlimmste ist, sondern weil der alte prächtige Humor verschwunden war; dieser Zauberer, der den dunkeln Roggen in goldenen Weizen zu verwandeln weiß; die allmächtige Liebe, die ihr Füllhorn ausschüttet, war nicht mehr da. Die Kinder waren Lasten geworden, und die geliebte Frau ein versteckter Feind, der heimlich verachtete und
berachtet wurde.
Und die Quelle zu all diesem Unglück? Der Mangel an Brot! Und doch stürzen jetzt die großen Handelshäuser der neuen Welt unter der Last des allzu reichlichen Vorrats von Getreide zu sammen! Eine Welt der Widersprüche! Die Art und Weise, nach der das Brot verteilt ist, muß also mangelhaft sein.
Die Wissenschaft, welche die Stelle der Religion eingenommen hat, vermag feine Antwort darauf zu geben; fie stellt nur die Tatfache fest und läßt die Kinder vor Hunger sterben und die Eltern bor Durst.
Jobannes Wedde.")
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Glauben gestorben, der ihn seine Arbeit als Menschheitsdienst empfinden ließ.
Wedde war eine fraftvoll geschlossene Persönlichkeit, ein willens Starter Ueberzeugungsmensch, der nicht ertrug, daß sein Handeln sich abseits hielt von den Wegen, die sein Denken sich eroberte. Sein ganzes Leben ist Ueberzeugungsfcmpf, Bekennertum und Selbstzucht gewesen, und mit den Früchten seiner Selbsterziehung wuchs ihm der Glaube, daß eine Erziehung der Mitmenschen möglich und notwendig fei. Er glaubte an eine Selbstherrlichkeit des menschlichen Willens seinem Träger gegenüber, und dieser Glaube gedieh ihm auch im Kampfe gegen das Los, das ihm körperlich beschieden war: er war mit verkrümmter Wirbelsäule zur Welt gekommen. Die Versuche der Eltern, das Gebrechen zu beseitigen, halfen nicht, aber der Knabe und Jüngling war stetig bemüht, den Körper gegen sein lebensfeindliches Uebel zu stählen, und es ist auch erstaunlich, welche Mühen, Entbehrungen, Strapazen er später wagen konnte. Er wagte geradezu immer das Aeußerste. Als Student ließ er plöglich bie germanistisch- historischen Studien und die Aussicht auf eine günstige akademische Laufbahn fallen, um 1864 zu staatsrechtlich volkswirtschaftlichen Studien überzuspringen: der Wirklichkeits drang überflügelte plöglich alle Luft an geschichtlicher Ver gangenheit; ein paar Jahre später brach er mit seinem Vater, einem Tuchfabrikanten in der Lüneburger Heide - Stadt Uelzen , und war nun gezwungen, sich sofort ganz auf eigene Füße zu stellen; und als ihm 1881 endlich der Ertrag fünfzehnjährigen Kämpfens ficher war, ging er auf die angebotene Herausgeberschaft einer finanziell gesicherten Kunstzeitschrift für Norddeutschland nicht ein, weil in eben Siefem Augenblide die ausnahmegefeßlich bedrängte Sozialdemo fratie Hamburgs ihm die Redaktion einer neugegründeten Zeitung für die Arbeiterschaft antrug. Er mutmaßte, sein Leben werde das fünfzigste Jahre nicht überdauern, und so sette er alles daran, diese Spanne schaffend auszunuzzen.
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Er hatte den bürgerlichen Jdealismus der dreißiger Jahre ge erbt. Romantik und Vergangenheitsfult hielten den Jüngling in Banden. Den längst entschiedenen Kampf des philosophischen Idealismus mit dem Materialismus fämpfte er für sich noch einmal und mit eigenem Ergebnis durch. Er setzte sich mit Schopenhauer auss einander, aber er war eine Natur, in der alles auf Lebensbejahung und Jchbehauptung hindrängte, und so blieb der bürgerliche Bejfimismus weitab von ihm. Der Wille galt ihm als das männliche Prinzip der Schöpfung; weibliches Prinzip war in seinen Augen die macht, von der wir die Erdenfreude empfangen, und diese Macht muß der Wille sich zur Liebe zwingen. Immer ist dem Philosophen, der einer Lösung des Welträtsels nachfinnt, der Dichter zur Seite, der Handeln erläutert und ergänzt Weddes philosophische Weltanschauung, das gedanklich Gefundene fünstlerisch- anschaulich darstellt. Weddes und dieses Handeln mündet aus in den edelsten sozialistischen Altruismus. Er wußte: in der Politik fam es an auf die Betonung der ökonomischen Abhängigkeit, für die Tatkraft des Einzelnen aber seinen Willen geltend zu machen. In Weddes auflösendem und neu war es wichtig, zu betonen, wie sehr der Einzelne Freiheit habe, bauendem Geifte bewegte sich die Philosophie der Uebergangszeit, die sich mühte, auf dem Boden der Wirklichkeit festen Fuß zu faffen.
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Ohne Belohnung und ohne Gewinn Schaffen für fünftige Ernte.
Weddes sozialistische Anfänge find utopistisch gefärbt. Sie gehen auf das Jahr 1871 zurüd. Da träumte er von einem Miniaturbild der Zukunftsgesellschaft" in einem noch nicht oder wenig bebauten Landgebiete. Zehn Jahre später zehn arbeits schwere Jahre als Lehrer, Schriftsteller, Theaterkritifer in Hamburg - haben die Träume neues Blut empfangen, nun schreibt der Dichter: Bur zwanzigsten Wiederkehr seines Todestages am 12. Januar. Wir wollen selbst der Mittelpunkt eines Kreises werden, eines Die opfervolle Zeit des bismärdischen Ausnahmegefeßes gegen Streises, der sich hoffentlich zuletzt über die ganze Menschheit auss die Sozialdemokratie steigt bei dem Namen Johannes Wedde empor. dehnen soll, wenn das freilich auch wohl erst unsere späteren Nach Sie hat die Ehrlichkeit und den Ueberzeugungsmut erprobt, bat tommen erleben. Aber geschehen foll's doch!" Das sind Worte des Charaktere gestählt und leberwinder schlagkräftig gemacht, hat unter reifen Menschen Wedde: das Leben läßt ihn das Werdende suchen den Augen des brutalen Feindes ein Massenaufgebot gerufen und und sehen, und es drängt ihn, Keime des Neuen auszustreuen, im gefchult, und in Norddeutschland, in Hamburg , hat Johannes Wedde , großen wie auch im kleinen. Seine Erdenfreude offenbart sich als Ser ein ernsthafter Denker und Dichter war, fich in dieser von Ge- Schaffensfreude. Die Sehnsucht seines mailichen Trugliedes aus fahren umdrohten Arbeit bewährt. Treu bis zum Tode! Tragik den fiebziger Jahren erfüllte sich ihm: umgibt diesen Tod. Als die Arbeiterpartei durch ein Gewaltgesetz zerschlagen werden sollte und Organisation und Presse verlor, als Ausweisung und Kerker ihre finstere Arbeit taten, trat Wedde furchtlos als Helfer der Bedrückten in die Bresche, und als er nach schweren Kampfjahren, selber ein Opfer des Schandgesezes, endlich tannte und ihr vertraute. Solche Menschen sind gläubig, und wenn Er war Erzieher durch und durch, ein Erzieher, der seine Kraft spüren und prophezeien durfte, daß in jeder Beziehung eine recht Wedde an fein Ziel glaubte, so glaubte er an nichts anderes als tüchtige Sonnenwende nicht mehr fern" sei, da warf ihn, un mittelbar vor dem Sonnenwendfiege, vor den Reichstagswahlen an feine eigene Schaffenskraft. Als Erzieher also ließ er fie walten. bon 1890, die Bismards Sturz besiegelten, der Tod zu Boden. Kindererziehung hatte ihn von je gereizt und befriedigt. Jestunterm Ausnahmegesetz sollte er sich als Voltsbildner erweisen. Im Eril starb Johannes Wedde , 47 Jahre alt, ein unermüdlicher, Seine Aufgabe hat er so gezeichnet:„ Wenn man den Leuten nur der den letzten Atemzug seiner Kraft der Sache der Arbeiterbewegung pflichtfreudig hingegeben hatte. Er ist wahrhaft für seinen fagt: So und so muß es nicht sein, und wenn man ihnen auch dieses Nein mit allem Feuer und aller Klarheit immer wieder vor Augen bringt im wesentlichen aber nur dies tut so ruft man damit *) Theodora Wedde( Weddes Schwester), Johannes Wedde , Ge- zunächst allerdings Entrüftung gegen das gebrandmarkte Verkehrte denkblätter. Hamburg 1891, Verlag von Hermann Grüning.( Geb. und hell lodernde Begeisterung gegen dasselbe hervor, aber man 1,80 M.) In demselben Verlage erschien auch eine literarische Studie erzeugt damit keine dauerhafte Stimmung des langsam unber über Wedde von dem Schweizer Albert Steck . Diese und andere droffenen Gegenarbeitens gegen das Schlechte, wie fe nur auf dem Veröffentlichungen sind jetzt von dem Verlag von Joh. Weddes stolzen freudigen Bewußtsein ruhen kann, nicht erst frei werden zu Werken", Hamburg 36, Esplanade 39, zu beziehen. Eine zweibändige Ausgabe der Werte bezieht man von A. Janssens Verlag, Hamburg . Dort auch eine Auswahl seiner Gedichte( 50 Pf.), und die sehr beachtenswerte Würdigung von Jobs. Herm. Müller: Der Sozialdemokrat Johannes Wedde als literarische Größe( 1 M.).
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wollen, sondern innerlich schon frei zu sein." Er arbeitete darauf hinaus, das moralische Vermögen im Menschen selbst zu fräftigen" und nannte dies Vermögen mit Schillerscher Gedankenwendung freien Schönheitssinn". So hatte er schon als Theaterfritifer die Bühne zur Erziehungsanstalt machen wollen. Auch den Geschichts.