Mnterhaltungsblatt des Horwärls Nr. 11. Sonnabend den 15 Januar. 1910 lNachdrui! vervolt».) 10 Im j�amen des Gefctzcs. Von Hans Hyan . 6. An einem regnerischen Julitag ging in der Münchs- berger Straße ein Mädchen auf und ab. das einen weiß und schwarz gewürfelten Mantel trug und unter dem Schirm «nmer wieder hervorlugte, ganz offenbar in der Absicht, hier jemand abzufangen. Wohl eine Stunde lang ging sie hin und her. Endlich kam eine Frau aus dem Hause, eine große, etwas gebeugt gehende Frau, die den Typus und die Kleidung der Arbeiterfrauen aus den Vorstädten hatte, wo die größte Last stets auf der Mutter ruht. Frau Hellwig war's und, die nun rasch auf sie zu- stürzte, ihre Tochter. „Ja, Mutta", das Mädchen vermied es, die Frau gerade anzuschauen,„ich wollte doch mal sehen, was Du machst I" Der Frau stürzten die Tränen aus den geröteten Augen. „Ueber acht Tage biste wech! Un nich eenmal haste Dich sehen lassen! Wo wahste denn? Sage doch, was haste denn die janze Zeit jemacht?" „Ach, Mutta", sagte Ella, die jetzt neben der Frau her- ging,„frage ja nich danach... ich wohne jetzt bei Mieze..." Das Gesicht der Frau, die zu weinen aufhörte, wurde ganz ängstlich: „Bei Mieze Blankenstein? Aber, Kind, die arbeit' doch ja nich! Wohin soll denn dis fiehren? Wenn De mit so eine jehst, denn denken de Leute schließlich, Du bist ooch nicht anders.. „Ich jeh ja Wieda ins Jeschäst..." „Was, Du bist nich mehr?" Ella schüttelte den hellblonden Kopf, der auffälliger als früher frisiert war. Der Hut, den sie trug, aus mattblauem Stroh, mit großen weißen Chrysantemen garniert, war nicht mehr neu, sah aber dafür desto herausfordernder aus. Da Ella schwieg, fragte Frau Hellwig kopfschüttelnd weiter: „Was is denn? Haben Se Dir entlassen?" Ella nickte und die Mutter bemerkte, wie ihre Augen dabei feucht wurden. Sie fragte sie nicht weiter. Sie ahnte so etwas, das der Wirklichkeit nahe kam. Und sie hätte es nicht fertig gebracht, ihr armes Kind, dem die Schamröte selbst das kleine Ohr färbte, noch mehr zu verwirren und zu quälen. Was hätte es auch geholfen, wenn sie erfahren hätte, daß Ellas Chef, als sie nach jener Nacht bei dem Rechtsanwalt eine Stunde zu spät ins Geschäft kam, zu seiner Angestellten sagte: „Ich seh' mir das nun schon'ne ganze Zeit stillschweigend mit an, Fräulein Hellwig. Sie bekommen bei mir hundert Mark monatlich, damit kann ein junges Mädchen auskommen. besonders wenn es bei seinen Eltern wohnt. Sie scheinen ja anderer Ansicht zu sein... wenigstens tverden Sie an Orten gesehen, wo anständige Mädchen nicht Verkehren. Ta3 paßt mir nicht. Um so weniger, als Ihre Leistungen in letzter Zeit erheblich nachgelassen haben. Was ja auch kein Wunder ist bei solchem Leben.... Ihr Zuspätkommen gibt mir den Grund zur Entlassung, die am nächsten Ersten fo wie so erfolgt wäre, denn ich kann den anständigen Müd- chen, die bei mir in Kondition sind, nicht zumuten. r Da hatte der Mann, der sonst kein übler Arbeitgeber lvar, innegehalten— Ella Hellwig war mit lautem Auf- schluchzen in die Garderobe gelaufen. „Haste denn wenigstens Geld?" fragte die Mutter zaghast. Ella nickte. Der Chef hatte sie, als sie halb sinnlos hinausstürzen wollte, aufgehalten und ihr das volle MonatS- gehalt in die Hand gedrückt. „Es tut mir leid, aber ich kann nicht anders, Fräulein Hellwig." Mehr hörte sie nicht, sie war schon draußen, so elend und unglücklich, wie nie in ihrem jungen Leben. Dieselbe Empfindung, nur vielleicht noch stärker, überkam sie jetzt wieder an der Seite ihrer Mutter, der sie nicht sagen durfte« daß sie an jenem Morgen noch einen weiteren Fünfzigmark? schein in der Tasche trug— als Lohn ihrer Schande. Denn so empfand sie es selbst, daß Martin Zander ihr, als sie verstört neben ihm am Kaffeetisch gesessen, gesagt hatte: „Ich bin nicht so reich, liebe Ella, daß ich mir ein dauerndes Verhältnis anschaffen könnte... und besonders nicht ein Mädchen, das solche Ansprüche machen kann, wie Du, liebes Kind... Aber wenn Dein Herz Dich mal wieder zu mir treibt, wenn Du Dich nach einem Menschen sehnst, der es wirklich aufrichtig und ehrlich mit Dir meint, dann komm' zu mir! Meine Tür steht Dir immer offen... und im übrigen, es ist selbstverständlich, daß ich Dir jetzt, wo Du in der Klemme bist, aushelfe, hier..." Er hatte ihr eine Banknote in die Hand stecken wollen, aber Ella hatte sich wie eine Rasende dagegen gewehrt. Alles was noch still und heilig war in ihrer Seele, das zer- trümmerte die heuchlerische Brutalität seiner Worte, das zerstob vor dieser verlogenen Grausamkeit, mit der er ihr erklärte, daß sie, die nicht anders glaubte, als sie sei jetzt seine Geliebte geworden— daß sie ihm gerade nur für eine Nacht gut genug gewesen sei.... Wie eine Irre war sie im Zimmer herumgelaufen und hatte nach ihren Sachen gesucht. Und das hatte er benutzt, um ihr den Fünfzigmarkschein schnell in die Handtasche zu stecken. Wie sie jetzt fest überzeugt war. nur um später sagen zu können, er habe sie bezahlt. Ella sah ihre Mutter verstohlen an. Und die, in der» selben Regung, fing den Blick ihrer Tochter auf. Aber die Augen dieser beiden Frauen, so trostbedürftig ihre Herzen auch waren, flohen vor einander. „Was ist denn mit Georch?" fragte Ella leise. Und mit weinerlicher Stimme sagte die Frau: „Er sitzt in Untersuchung... weil er von den Wiese 'ne Uhr jekriecht hat..." Sie erzählte umständlich und verworren ihres ältesten Sohnes Leidensgeschichte.' Und Ella, die so sehr den Wunsch hatte, teilzunehmen an dem Schmerz ihrer Familie, brachte kaum ein Mitgefühl auf, als sie hörte, was alles über ihre Eltern hereingebrochen war. „Du kannst doch ruhig raufkommen!" meinte schließlich die Mutter,„der Kleene fragt immerwährend nach Dir und Mascha ooch...!" Ella schüttelte energisch den Kopf: �„Nee, Mutta, nee, nie Wieda !...!... So lange Vata da is, Hab' ich nischt mehr bei Euch zu suchen!"... Sie stieß ein hartes, die feinen Nasenflügel blähendes Lachen aus, „ich soll ma wol Wieda den Kopp zerschlagen lassen und die Sachen von' Leibe reißen?... nee, nich in die Hand!... Die Mutter wagte offenbar nichts zu erwidern, wenn- gleich sie, den. Zwange alter Gewohnheit folgend, ihren Mann gern entschuldigt hätte. Auf Ella schien diese Erwähnung erkältend gewirkt zu haben. Sie sagte in kühlem Ton: „Ich muß nu geh'n, Mutta...." Da hielt Frau Hellwig ihre Hand fest, und die ganze Angst, die Furcht des Mutterherzens, ihren Liebling für immer zu verlieren, bebte aus ihren Worten: „Du mußt aber wiederkommen, Ella! Du weißt doch, bei mir... ich Hab Dir doch nie was jetan!"... Und da fielen sich die beiden Frauen unter Ellas Schirm weinend um den Hals und küßten sich unter Tränen. Ein Junge blieb stehen und sagte: „Na, regnet et denn nich so wie so schon jenug?" Sie schracken zusammen, genierten sich und Ella ging schnell weg, während die Mutter zögernd und immer noch ihrer Tochter nachsehend, in einen Grünkramkeller hinab- stieg.... Sie hatte ganz vergessen, zu fragen, wo Ella den Mantel und den Hut herhatte, aber wahrscheinlich von Mieze. Ah! Bei dem Gedanken an dies Mädchen krampste sich Frau Hellwigs Herz zusammen. Sie hatten noch draußen auf drm Gesundbrunnen ge- wohnt, als sie und Miezes Eltern auf einem Flur zusammen hausten. Der Mann war ein 3 ourensäufer, ein schöner, großer Mensch, reizend, wenn er nüchtern war, aber wie ein Vieh in der Besoffenheit. Dann schlug er alles kurz und kleiw und die Frau und die beiden Kinder, ein Junge und ein
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27 (15.1.1910) 11
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