Das war sein letzter bewußter Eindruck. Dann folgte ein toller, rasender Wiibel, ohne Bewußtsein für Personen und Gefühle, nur voll Schrecken und Mitleid. Die Menge stürzte vorwärts und stieß Arsenjew. Es riß ihn bald hier, bald dort hin. Das Pferd und der Soldat ver- schwanden plötzlich, als hätte er sie im Traum gesehen. Die Kirchenfcchnen flatterten über dem Kopf und verdeckten den Himmel und die Gesichter. Auf allen Seiten bewegte sich und tobte eine gleichsam- dem Erdinnern entsprungene vielgesich- tige, unordentliche Menge mit erschütterndem Geheul und Getöse. Krampfhaft gespannte, verzerrte rote und blasse Ge- sichter huschten schnell vorüber. Wie in einem Strudel drehte sich Arsenjew um sich selbst, wich zur Seite, drängte rückwärts und wieder vorwärts. Schreckliches Gekreisch erschütterte die Luft und machte das Herz erstarren. Ihn fast niederwerfend, brandete die Menge heulend mit verzerrten Gesichtern, in denen sinnlose Augen weit aufgerissen waren, mit fürchterlicher Kraft vor- wärts. Halb besinnungslos rannte Arsenjew in panischem Schrecken zurück. An der Straßenecke wurde er gegen die Haus- wand gedrängt, und sah plötzlich Pferdeköpfe mit entblößten Zähnen, graue Soldatenmäntel und durch die Luft zuckende feine scharfe Säbel. Haut siel... Haut siel..." schrie jemand mit feiner, durchdringender Stimme hinter deni Rücken der Soldaten. Fürchterlicher Schreck ergriff Arsenjew. Eine Minute war ihm, als wenn er sterbe: in den Augen drehte sich schon alles. Sie waren nur wenige, ein kleiner Menschenhaufen, der, von allen Seiten eingekreist, gegen die kalte Steinwand gedrängt wurde. Vorn stand mit erhobenem Kopf und vor- quellenden Augen ein sehniger, langhalsiger Mensch, über dem das lange schmale Tuch einer Kirchenfahne flatterte. Untersteht Euch nicht.untersteht Euch nicht, zuzuhauen!" fchrie er mit unmenschlicher Stimme auf die Soldaten ein und schwenkte dabei seine Fahne. Die Pferde bäumten sich, stiegen in die Luft, kalter Schneestaub flog ins Gesicht: die Soldaten hatten blasse, sonderbare Gesichter, in denen sich fürchterliche Wut und töd- licher Schreck vermischten. Sie schwenkten krampfhaft die Säbel über den Köpfen, stürzten wie zu schrecklichen Hieben vorwärts, ließen die Säbel aber nicht herunterfahren. (Fortsetzung folgt.) (Nachdruck vcrdulctU 121 Der Totengräber. Von Josef Ruederer  . Des is der Mörder I Mei einzige Stütz', den Buben, hat er mir g'nommen, nun will er mich in'n Tod treiben." Und dann hinkte auch der Andredl aus seinem Gefängnis herbei und jammerte wieder herzzerbrechend, daß die Luft zitterte. In Teufels Namen!" murmelte der Totengräber.Mir soll'S recht sein." Er fegte die Blätter zusammen, und mit voller Wucht schleu- derte er sie dem Gerippe in die Fratze. Wenn ihn alleS im Stich ließ, dann wollte er sich selber helfen und Spielkarten und Toten- schädcln die geifernde Zunge fletschen. Lebendig kommst mir net'rein," murmelte er und steckte da? Messer zu sich. So lehnte er an die Türe und wartete, stumm und unbeweglich wie ein Soldat der auf Wache steht. Lange stand er oa und trieb sich die Nä�el in die festgeschlossenen Hände. Er meinte jeden Augenblick. letzt müsse es klopfen und der Alte zum Fenster hineinblicken. Aber nichts rührte sich. Totenstill blieb es im ganzen Hause, während die Stunden langsam dahinzogen. Da plötzlich war es dem Friedl, als wäre die Zeit stehen» geblieben. Die furchtbare Ruhe ängstigte ihn und legte sich mit Zentnerschwere auf seinen Körper, daß er kaum atmen konnte. Und da fühlte er mit schrecklicher Gewißheit, daß etwas Ent­setzliches vorgegangen sein mußte, so grausig schlich es auf einmal durch die Stube von den stummen Gräbern herein. Die Hand auf das klopfende Herz gelegt, horchte der Friedl. Jetzt erst merkte er. daß der Regen etwas nachgelassen hatte. und als er noch eine Weile wartete, schrak er furchtbar zusammen. Nein, das War keine Täuschung! AndreMS Jammer oben in der Dachstube war verstummt. Wie lange schon? Das besann er sich nicht mehr. Ein böser Verdacht stieg in ihm auf. Hatte vielleicht die Mutter den Jungen ins Freie gelassen, damit er den Großvater Wieder zur festgesetzten Stunde wohl und unversehrt ablieferte? Bei diesem Gedanken konnte der Friedl nicht länger auf seinem Posten bleiben. Er zündete eine Laterne an und stieg hinauf ins Dachgeschoß. Dort schlich er leise vor die Türe. Sie war ab- geschlossen, genau so wie er sie verlassen hatte. Aber drinnen regte sich kein Laut. .Andredl!" rief der Totengräber. Alles blieb so still wie zuerst. Andredl!" rief er lauter. Wieder nichts. Jetzt öffnete er und leuchtete vorsichtig hinein. Die Kammer war leer! Aber dort hinten unter die offene Dach- luke war eine hohe Kiste geschoben. Eiskalt ging es dem Friedl durch Mark und Knochen. Entweder stand jetzt der Andredl in Sturm und Wettet auf dem steil abfallenden Dache oder...! Der Friedl wollte es noch nicht ausdenken. Andredll" brüllte er in die Nacht hinaus.Andredl! hörst mi net?" Nichts antwortete ihm als ein heftiger Windstoß, der heulend über das Tal fegte. Friedl zog den Kopf zurück. Jetzt wußte er, daß er den Knaben als zerschmetterte Leiche an irgend einer Ecke vor dem Hause finden mußte. Wie ein Betrunkener taumelte er die Treppe hinunter .Wer kommt da?" schrie er, als er im Flur ein Licht sah. Ich bin's," tönte es furchtsam. Es war seine Frau. Totenbleich starrte sie ihn an. Wo is der Andredl?" fragte sie. Hast Du gTjorcht?" O, mein Gott, i wart scho zwei Stund, daß er wieder schreit." Er winkte matt mit der Hand. Der schreit nimmer." Warum? Warum?" Er is fort." Fort? O, mein Herr und Jesus  !" Er deutete auf die Eckstube. Geh'nein," sagte«r dumpf.I komm' glci wieder." Wenige Augenblicke darauf, trug er den toten Andredl herein. Der schwarze Peter hatte nicht gelogen. Er hatte gut prophe- zeit und ihn besser bedient als der Herr Meier, der jetzt gespenstig über der Leiche zur Höhe ragte, die man ihm als schuldigen Tribut zu Füßen gelegt hatte. J friedl ließ den Kopf sinken und blickte unablässig auf das ige Bild. Dort lag der Junge mit zerschmettertem Hinter- köpf, und sein Blut färbte die verstreuten Spielkarten, die sein Schicksal prophezeit hatten. Daneben kniete im lockern Nacht- gewand die Frau des Totengräbers, wimmernd und stöhnend. Sie hatte eine Kerze angezündet und betete in abgerissenen Sätzen. Von den Wänden aber grinsten alle die Totenschädel herab auf das Elternpaar, das die nächtliche Leichenwach« hielt, und die Weihivasserkessel utid Grabornamente, die phantastisch aus dem Dunkel herauswuchsen, gaben dem düsteren Raum das Ansehen einer fauligen, modernden Gruft, die alles zu verschlingen drohte, waS darin atmete. Draußen hatte der Regen aufgehört, nur dann und wann rieselte es noch heimlich vom Dach auf die Tümpel und Hecken. Vater und Mutter aber weilten immer noch vor dem Andredl. und Friedl wandte kein Auge von dem Toten. Fest und ficher stand er da, keine Wimper zuckte. Jetzt huschte daS Licht der flackernden Kerze über das wächserne Gesicht deS Knaben dahin. Deutlicher konnte der Friedl die Augen sehen. Sie waren halb geschlossen wie der kleine, neugierige Mund, auf dessen bleichen Lippen noch die Frage ruhte, die letzte deS KindeS: Wo is der Großvater?" Wo is der Großvater?" So draNg es wie ein zweischneidiges Schwert von dem Toten herüber plötzlich durch FriedlS Brust. Wie versteinert hatte er bis jetzt an der Leich« des Kindes ge» standen, nun kam er langsam wieder zu sich, und als pflanz« sich die Frage von der Leiche hinweg von Mund zu Mund, flüsterte jetzt das unglückliche Weib, daS immer noch am Boden kniete, mit ängstlichen Augen: Wo iS der Großvater?" Friedl schüttelte den Kopf, aber zugleich stieg in thm die unumstößliche Gewißheit empor, daß der Großvater nunmehr dort angelangt war, von wo er nicht mehr zurückkehrte. Jetzt war es geschehen. Er wußte keine Stund« mehr, der ermattet« Toten- graber, aber das Unermeßliche an Zeit, was in dieser ewigen Nacht an ihm vorübergezogen war, sagte ihm, daß der Alte von den Wassern verschlungen ward. Morgen, am unteren Wehr, da würden sie ihn herausziehen und tagS darauf mit dem Enkel in die Grube hinabsenken. Ein tiefer Atemzug erleichterte Friedls Brust. Er blickte zum Herrn Meier hinüber. Der gräßliche Kampf war geschlagen, und er, der Friedl, hatte die Schlacht gewonnen. Aber daß er des Sieges jemals sich freuen könnte, das glaubte er nicht. Zu Tode erschöpft stand er vor seinem Gegner, und tief im Innern blutete er an einer heimlichen Wunde, dre wohl niemals vernarbte. Das fühlte er deutlich im Augenblicke seines Triumphes, denn je länger er den stummen Andredl betrachtete, um so mehr trat ihm der Erstgeborene vor die Seele, und er meinte, in der nächsten Sekunde müßte das HauS in Flammen aufgehen wie damals in der gewitterigen Sommerszeit. Trüber und trüber wurde es vor Frivdls Augen, je näher der Morgen kam. Schwerfällig ließ er sich auf die Ofenbank nieder. Eme bleierne Müdigkeit legte sich in seine Glieder, und die auf- gerissenen Hände begannen wieder zu schmerzen. Noch einmal hörte er die stumpfen Gebete seiner Frau, noch einmal riß er krampfhast die gläsernen Augen auf und blickte gedankenlos zu