Nnterhallungsblatt des vorwärtsNr. 59.Donnerstag ven 24. März.1910<Nachdrui! cetDoten.)4]JVIutters F)ändc.Zwei Bilder von Björn st jerne Björnson.Da hielt er inne, ganz bleich, atmete so schwer, daß wiralle es hörten. Endlich trank er mehr Wasser. Es dauerteeine Weile, bevor er wieder reden konnte. Alle sahen ihnan, einige flüsterten zusammen.Bis jetzt hatte er gesprochen, wie eine schwere Maschinedie ersten unregelmäßigen Schläge mit Unterbrechungenniacht. Aber jetzt erhob er sich, und als er wieder sprach,war er nüchtern. Ich sage Dir, er war ganz nüchtern.Der Mann, der jetzt dastand... ja, laß mich es stück-weise nehmen. Du wirst es sonst nicht verstehen.Sein Vortrag— weißt Du, womit er zu vergleichenwar? Mit einer Fuge von Bach. Etwas Brausendes, aberreich; etwas ununterbrocknmes Reiches, und oft so milde.Aber der groß« Unterschied war der,, daß, wenn er drinnenwar, suchte er oft nach Worten, wechselte die Worte undwechselte sie wieder. Ununterbrochen und brausend trotzdem,das war das Seltsame. Ein unaufhaltsamer, ein hinreißen-der Eifer und eine Hast. Man fragte sich verwundert, obnoch mehr vorhanden sei; und es kam immer noch mehr, undbeinahe alles bemerkenswert.Kch hatte Leute so oft als von einer Naturmacht besessencharakterisieren hören, aber ich hatte es nie gesehen. Amallerwenigsten bei Hofe; dort gibt es kaum ein« Jndividuali-tät. Hier saß ich endlich vor einer solchen! Der da mußtereden— wahrscheinlich so. wie er vor einem gutbesetztenTische trinken mußte. Ich wußte, daß er selbst seine beidenGüter verwaltete und selbst mitarbeitete, wenn er Zeit dazuhatte; und mir war, als wenn ich diesen Riesen sähe, wie ersich in der Arbeit erfrischte: aber ich sah deutlich, daß derKopf das Arbeiten trotzdem nicht aufgeben wollte, so daßKopf und Hände wetteiferten, wer von ihnen den anderenmüde machen könnte.Von der Arbeit redete er. Fing damit an, daß dieKönigin jetzt hier sei.„Wer ist sie?" fragte er. Er antwortete dann mit einpaar guten, warm empfundenen Worten über sie. Aber dannfragte er wieder:„Wer ist sie?" Er antwortet« wieder miteiner Frage:„Verdient sie selbst ihr Brot?"Dies, meinte er, sei die erste Lebensanforderung an alleerwachsenen Menschen, die dazu imstande seien. Das sei daserste Maß, mit dem wir uns gegenseitig messen sollten.Verdient sie selbst ihr Brot? Verdienen die das ihre,die in ihrem Gefolge sind?Nein, antwortete er, sie verdienen eS nicht selbst, sieleben von dem,>vas andere verdient haben und von dem,was andere verdienen.Was treiben sie denn? Tun sie Geistesarbeit? Nein,sie leben von der Geistesarbeit, die andere getan haben undvon der, die andere tun. Wie bringen sie denn den Tagjstn?Im Genuß, im geistigen wie im körperlichen— beständigvon dem, was andere getan haben und was andere tun. InBerschtvendung, in Raffinement, in Müßiggang, in Gesell-schalt, in Huldigung, auf Reisen, im Ruhen leben sie. Eränderte hier fortwährend die Worte, und änderte wieder, aberes kam heraus.Ihre höchste Anstrengung, meinte er, sei neue Gesellschaftund immer neue Huldigungen zu empfangen. Ihre höchsteGefahr, meinte er,, sei eine Erkältung oder überlastete Vcr-dauung,Und um sicher zu sein, daß die Frucht der Arbeit andererihnen nie genommen werden könne,— was taten sie da?Sie widersetzten sich allem, das mit einer anderen Ord--nuna draht: ste wiedersetzten sich auch jeder notwendigen Um-igestaltnng. Sie widersetzten sich der Befreiung jener, die nichtserreicht haben. Sie lMndeln, als sei die Gesellschaftsordnungvon aller Ewigkeit an für sie gemacht. Bis hierher undnicht weiter.Du begreifst, ich habe alle diese Gedanken aus meinemZusammenloben mit ihm; ich könnte m>f meine Weise alleseine Reden halten und jedenfalls fließender. Aber ich glaube.daß sein Aendern der Worte und sein fortwährendes Stotterndabei bewirkte, daß das schließlich Gewählte bedeutungsvollerwurde. Ich meinerseits habe es aufgeschrieben; alles inunserem kurzen Zusamenleben habe ich Aufgeschrieben."„Alles?"„Ich sage Dir. alles, was Inhalt hatte. AllcS, alles.Er schrieb ja nicht eine Zeile; er habe keine Zeit, sagte er.Er verachtete es. Als der Tod ihn dann mir und uns allennahm, was hatte ich da Besseres zu tun?— Nein, sag nichts,jetzt mußt Du mich erzählen lassen!— Er erörterte denselbenGedanken von der religiösen Seite. Es war seine Art, einenGedanken von allen Seiten zu nehmen. Er sagte, heute seier bei einer alten Frau gewesen, die klagte, sie könne nicht indie Kirche gehen, sie habe keine Schuhe. Es sei ein endloserSpektakel gewesen, Schuhe für sie zu besorgen, denn die beidenLäden, die fertige Schuhe hatten, wollten am Sonntag nichtverkaufen. Aber sie bekam'Schuhe. Er habe sie später zurKirche gehen sehen— genau gleichzeitig mit der Königinund ihrem Gefolge.Da habe er gedacht, es sitzen sehr viele in der Kirche mitsehr schlechten Schuhen und viele sind zu Hause, die sich nichthin wagen; sie haben zu elende Schuhe und sind auch imübrigen zu elend gekleidet. Wer sind denn die, welche be»sonders so schlechte Kleider und Scknihe haben? Die, welcheam meisten gearbeitet haben, gcanbeitet, bis sie unheilbarkrank geworden sind.Aber die, die nicht gearbeitet haben, die hotban zehn PaarSchuhe, sie könnten tausend Paar haben. Und Kleider eben-falls im größten Ueberfluß. Er sei nicht in der Kirche ge-Wesen, sagte er, aber er wisse, daß gepredigt worden wäre,als sei es die natürlichste Sache von der Welt,, daß die, welcheSchuhe hätten, jenen geben sollten, die keine hätten. Eswurde gepredigt, als ob Jesus sie gerade dies gelehrt habe.Jesus sei gekommen, um sie alle glücklich zu machen, unddies sei ja die beste Art.„Er ging einher und tat das Gute,"steht geschrieben.Aber aus der Kirche gingen sie alle heim, wie sie in dieKirche gekommen waren; sie tauschten die Schuhe nicht. Dereine ging zurück zu seinem Ueberfluß und seiner Ruhe, derandere zu seiner Armut und feinen Entbehrungen. Die welchenicht gehen konnten, weil die Armut zu groß war. die sitzennoch, wo sie vor dem Gottesdienst gesessen, sind.So ist unser Christentum nämlich, sagte er. Und erhatte ein Recht, darüber zu reden, kann ich Dir sagen, denner gab von seinem„Ueberfluß".„Aber Ihr lebtet doch ein gewisses Wohlleben?"„Ja, er meinte, das sei das Recht aller Menschen. Wersich berufen fühle, auch das Wohlleben zu opfern, möge eStun; aber für die meisten gebildeten Menschen sei das Wohl-leben die Bedingung für Arbeit und Hilfe, die Grundlagefür Freude. Es läge auch der Zug zum Schönen darin, unddas ist ein seltener Sporn.Nein, was er verlangte, war. daß jeder, der es könne,sich selbst ernähren solle hörst Du, meine Tochter!— unddaß jeder, der Ueberfluß habe, ihn in Arbeit umsetzen solle,die fruchtbar für andere. Er nannte die Kirche feige undschamlos, die dies nicht verlange, ohne Ansehen der Person."„Also wie Tolstoi?"—„Rein, ste waren sehr verschieden. Tolstoi ist vomslawischen Volk geboren. Iwan der Grausame und Tolstoi,alle beide; denn sie sind die Gegensätze darin, die einanderbedingen. Der eine tat alles mit Gewalt, der andere willnicht einmal Widerstand leisten. Der eine mußte jeden Willenunterjochen, um Platz z» bekommen: der andere will ihmdenselben gutwillig geben, stcher, daß dann die Begierdestirbt. Der slawische Tyrannendranm die leidenschaftlicheGrenzenlosigkeit nach beiden Seiten. Geboren von demselbenVolk und von denselben Verhältnissen.Alle Freiheit, die wir in Westeuropa besitzen, habenwir dadurch errungen, daß wir Grenzen innehalten, nichtfür uns selbst allein, sondern für andere. Also indem wirWiderstand leisten. Das Schwache ist grenzenlos; dasStarke setzt Grenzen und hält sie."„Aber die Bibel lehrt doch auch—"„Allerdings: aber sie ist ja auch von den Morgenländern.Die Abendländer handeln gegen die Bibel.mm