Monotonen Kleidung, itjrer puritanischen Bibeljipruchrede und den gesamten gesellschaftlichen und politischen Bcdingnisscn ihrer Exi- stenz. Die erlaubte Bigamie nach Beendigung des dreißigjährigen Kriegs resultiert nebst der dazu gehörigen Sittenauffaffung ganz einfach aus der Entvölkerung des Landes; es fehlte am wichtigsten Kapital aller Zeiten, an Arbeitskräften. Also wurde das Kinder- zeugen zur obersten ökonomischen Notwendigkeit und damit zur höchsten sittlichen Pflicht. Der Bauer brauchte überhaupt immer „Arbeitskräfte". Deshalb bestimmen alte Gesetzbücher vielfach, wenn der Ehemann seine Frau nicht schwängern könne, so solle er ihr einen„Ehehclfer" beilegen. Auf derselben Grundlage beruhen auch die ländlichen„Probenächte", wo eben die beiderseitige kör- perliche Tauglichkeit konstatiert wird. Hierbei vom grünen Tisch aus über„Unsittlichkeit" zu schwatzen, ist natürlich besonders Hirn- verbrannt. Die Einführung solcher Probenächte, wenn auch in veränderter Gestalt, wird übrigens von den modernen Rassefor- schein wieder angestrebt. Solche Musterbeispiele lassen sich im kleinen gleichfalls auf- weisen. Die Zünfte verlangten im 16. Jahrhundert von den Lehr- lingen den Nachweis ehelicher Geburt; nicht als Ausfluß einer seitlichen Läuterung, die durch die Reformation in die Welt kam, wie man behauptet hat. sondern um das damals massenhaft nach den Städten strömend« Proletariat von der Erlernung des Metiers mit dem goldenen Bodensatz auszuschließen. Ein wenig früher schon war das ergötzliche Badehauslcben plötzlich für unsittlich er- klärt worden; als wahrer Grund für diese Tugendhaftigkeit hat aber nur die Syphilis zu gelten, die unerwartet ihren schaurigen Siegeszug durch Europa antrat. Wir gelangen somit unschwer zu dem Satz: Alles sittliche Ge- daren rn Theorie und Praxis entspricht bestimmten gesellschaftlichen Bedürfnissen l Da nun die EntWickelung des Privateigentums zur Scheidung in Besitzende und Nichtbesitzende führt, und weiterhin zur Bildung von Klassen, die sich gegenseitig be- kämpfen, so ist klar, daß sich niit den verschiedenen Bedürfnissen der Klassen auch eine verschieden« geschlechtliche Moral der Klassen einstellen wird. Die Handwerkerfrau des 16. Jahrhunderls ist die dienende Sachwalterin des Haushalts, am frühesten aus den Federn, am spätesten zur Ruh, sparsam, züchtig in der Gewandung, und fern von Gedanken, die einen Schritt vom Wege bedeuten ivürden. Die Frau des begüterten Kaufmanns der gleichen Zeit ist emanzipiert, weil frei von häuslichen Sorgen; sie wird zum Luxusticrchen, zur genießenden und genossenen Lebcdame; sie„re- präsentiert" den Reichtum des Mannes und hat demnach andere Aufgaben, zu denen das Kinderkriegen nur in beschränktem Maße zählt. Der Ehebruch verliert hier die Gefahren, die er beim Handwerker hat, ja es gilt als etwas Besonderes, wenn die Haus- frau cS versteht, durch galante Künste wertvolle Gäste ans Haus zu fesseln. Also Klassenscheidung und Klassensolidarität in der geschlechtlichen Moral. So kommt es weiter, daß die geschlechtliche Moral überhaupt zu einem Herrschafts- und Unterdrückung s- mittel in den Händen der oberen Klassen wird. Man gestattet sich selber alles, was man den Unteren versagt. Ein abscheuliches adliges Plättbrett darf durch ihre bis zum Nabel ausgeschnittene Hoftracht allgemeine Sehkrankheit verbreiten, während die hübsche Handwerkermadame vom löblichen Magistrat in unerbittliche Strafe genommen wird, sobald sie von dem Inhalt ihres Mieders einen Zentimeter mehr zeigt, als ihrem Stande entsprickt. Fuchs faßt, aus anderen Beispielen noch, seine Meinung kurz dahin zu- sammen: Jede Klasse erklärt das als unsittlich, was ihren Sonderintercssen widerspricht. Dies ist eine von ihm aufgefundene Gesetzmäßigkeit, der es auch nicht entgegen ist. wenn scheinbar ein- zelne Personen, wie Luther oder Rousseau , Sittcnformnlicrungen gegeben haben; diese sind eben nur prägnanter Ausdruck und Re- sultat einer ganzen EntWickelung. Schließlich folgt aus dem bisherigen noch, daß jede Acnderung der Gesellschaft auch zu einer Aenderung der Geschlechtsmoral führen muß, und zwar um so grundstürzender, je revolutionärer zene ist. Hieraus erklären sich die manchmal lange Dauer einer bestimmten Sittlichkeit, ebenso wie das schnelle Wegwerfen der alten Formen, sobald ein neues Wirtschaftsprinzip in die Erschei- mung tritt. Allerdings erlangen Formen, die große Zeiträume überdauerten, oft eine gewisse Stabilität, eine Art von Eigenleben, so daß sie auch nach Wegfall ihres ursprünglichen Grundes durch die Macht der Gewohnheit noch weiter bestehen bleiben. Ein der- artiges Hineinragen abgelebter Sittlichkeiten kennen wir Gegen- wärtigen zur Genüge. Es geht dann gewöhnlich so lange, bis die Konflikte zu groß und die Widersprüche mit nachträglicher Ge- walt beseitigt werden. Was den Ausblick in die Zukunft anlangt, so meint Fuchs, der sich als gründlicher Forscher das Prophezeien schon ein wenig her- ausnehmen darf, daß die Monogamie eines Tages zur Wahrheit werden wird, für den Mann und für die Frau? Wenn die ökonomischen Verhältnisse des alten Staatslebens die unechte Monogamie züchteten, so scheint mir damit freilich noch nicht gesagt, daß überhaupt eine echte Monogamie als Massen- erscheinung möglich ist. Zur Entscheidung einer solchen Frage wird die psychologische Untersuchung dringend notwendig. Sie hat uns bisher gelehrt, daß alle Menschen, gleick)gültig, welcher Klasse oder welchen Geschlechts, mit polygamer Reaktionsfähigkeit geboren werden, nie aber mit dem Keim der Geschlechtsliebe zu einer einzelnen bestimmten Persönlichkeit. Alfred Kind. KUUge Reformbleldung. Man macht der Reformkleidung vielfach noch den Vorwurf, daß sie nicht billig genug sei, um allgemein Eingang in den Frauen- kreisen zu finden, die bei schwerer Berufs- und Hausarbeit einer hygienischen und praktischen Bekleidung am bedürftigsten sind. Wir bofsen dielen Einwaud durch Abbildung eines Schnittes für einen Reformrock begegnen zu können, der bisher leider im Handel noch nicht käuflich ist. Der große Vorzug unseres Schnittes liegt in der außerordentlichen Stofferspar Iiis. Man braucht wenig mehr als eine Rocklänge, nämlich etwa 172 Zentimeter bei 140 Zenti- Nieter Stoffbreite. Von schmalem Stoff muß man 2� Meter nehmen und die Webekante in der vorderen Milte aneinander- nähen. ES leuchtet ohne weiteres ein, daß die Herstellung dieses ein-- teiligen Nockes so einfach ist, daß sie einigermaßen geschickten Händen keine Schwierigkeiten bieten dürfte. Zu beachten ist nur, daß der zugeschuittene Rock vor der weiteren Verarbeitung mehrere Tage frei aufgehängt wird, damit er später nicht zipfelt. Im Notfall kann nian ihn kurze Zeit am unteren Rande mit Bleiplomben bc- schweren. Der Verschluß ist in der hinteren Mitte: er wird am besten durch angenähte Schnurösen und kleine Stoffknöpfe in der Farbe des Rockes bewirkt. Wie überhaupt bei Reformröcken, so ist auch hier ein Abfüttern nicht zu empfehlen. Der Fall des un- gefütterten Rockes ist weitaus schöner als der eines mit minder- wertigein Funer ausgestatteten. Die durch Fortfall des Futters er- sparte Geldausgabe und Arbeit verwende man auf bessere Qualität des Stoffes und sorgfältige Abarbeitung des Saumes. Man setzt dem Nocksaum links ein im gleichen Fadenlaus geschnittenes Stück desselben Stoffes als Stoßkante entgegen und steppt ihn nach Ge- fallen mehrmals ab. Gebrühte Besenborte vervollständigt den Ab- schluß nach unten. Der Rock wird an ein leichtes Futterleibchen ge- näht oder geknöpft. Arbeitet man sich nun noch eine oder mehrere der so überaus leicht herzustellenden Russenblusen— möglichst im gleichen Farbenton gehalten— dazu, so hat man ein Straßen- und Berufskleid, das nicht nur gesund und praktisch, sondern auch billig und kleidsam ist. Allerdings eignet unsere Nockform sich nur ftir schlanke, durch das Korsett nicht verbildete Gestalten. Ls.— Lt. Berantw. Redakteur: Richard Barth . Berlin.— Druck u. Verlag: Borwärt« Buchdruckerci u.VertUg»austatt Paul Si»gerScTo..>verUnLVk.
Ausgabe
27 (12.4.1910) 70
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