Anlerhaltungsblatt des vorwärts Nr. 74. Sonntag oen!7 April. 1910 lZlaSdrucl verliotta.) i2] Die Hrena. Roman von Vicente Blasco Jbanez. Autorisierte Uebersetzung von Julio Brouta. Ein Herr sagte ihnen einst, um sie aufzuziehen, an der Tür eines Cafss des Calle de los Sierpes, daß sie in Bilbao viel Geld verdienen könnten: denn dort gebe es nicht so viele Toreros wie in Sevilla ; und die beiden Jungen unternahmen die Reise, ohne einen Centime in der Tasche und ohne anderes Reisegepäck, als ihre Capas, wirkliche Capas, die berühmten Stierfechtern gehört hatten, elende, für einige Realen bei einem Trödler erstandene Lumpen. Sie schlichen sich ungesehen in die Züge ein und verkrochen sich unter die Sitze, aber der Hunger und andere Bedürfnisse zwangen sie, den Reisenden ihre Anwesenheit zu verraten. Die Leute hatten schließlich Mitleid mit den jugendlichen Aben- teurern, lachten über ihr drolliges Aussehen, ihre Zöpfe und Kampfmäntel und unterstützten sie mit den Ueberbleibseln der mitgenommenen Speisen. Wenn irgend ein Beamter sie in einem Bahnhof entdeckte, so liefen sie von Wagen zu Wagen, oder versuchten auf die Dächer zu klettern, um dort in geduck- ter Stellung den Augenblick der Abfahrt abzuwarten. Oft wurden sie bei den Ohren gepackt und mußten, nachdem sie eine furchtbare Tracht Prügel erhalten, auf dem Perron eines einsamen Bahnhofs zurückbleiben, während der Zug sich ent- fernte wie eine entschwindende Hoffnung. Aber sie kamen bis Madrid , nach einer vielbewegten, oft unterbrochenen und mit Hieben reichlich gesegneten Reise. Auf der Puerta del Sol und in der Calla de Sevilla bewunderten sie die Gruppen beschäftigungsloser Toreros, höherer Wesen, die sie ohne Erfolg um ein Almosen zur Fortsetzung der Reise anzugehen wagten. Ein Knecht des Stierzirkus aus Sevilla empfand Mitleid mit ihnen und ließ sie in einem der Ställe schlafen. Außerdem verschaffte er ihnen den Genuß einer Novillada, das ist einer Corrida mit halbwüchsigen Stieren, in dem berühmten Zirkus beizuwohnen, der ihnen übrigens weniger imponierte als der ihrer Heimatstadt. Endlich kehrten sie nach Sevilla zurück, wie sie gekommen waren. Aber von da ab hatten sie den heimlichen Reisen auf der Eisenbahn Geschmack abgewonnen und ließen sich in der vorerwähnten Weise nach den Dörfern der verschiedenen anda- lusischen Provinzen befördern, wo es Festlichkeiten nebst Ca- peas gab. So gelangten sie sogar bis nach der Mancha und Estremadura , und wenn ihr Unstern sie zwang, zu Fuß zu gehen, suchten sie Obdach in Bauernbütten, deren leichtgläu- bige Insassen über ihr jugendliches Alter und unverfrorene Ausdrucksweise staunten, indem sie glaubten, es seien wirkliche Stierfechter. Bei diesem Vagabundenleben wandten sie oft Mittel an. die eines Indianers würdig gewesen wären. In der Nähe von Landhäusern schlichen sie sich, auf dem Bauch kriechend, unvermerkt heran und raubten Obst und Gemüse. Sie lauerten oft stundenlang einem einsamen Huhn auf, packten es unver- fehens, würgten es, ehe es einen Laut von sich geben konnte, und setzten eilig ihren Marsch fort, um an einer geeigneten Stelle ein Reisigfeuer anzuzünden und das erbeutete Tier halbroh und halbverbrannt, mit der Gefräßigkeit von jungen Wilden, zu verschlingen. Was ihnen eine heillose Angst ein- flößte, das waren die Wachthunde auf dem Lande. Mit diesen Bestien ließ sich nicht spaßen. Sie witterten die Landstreicher schon von weitem, liefen bellend und zähnefletschend auf sie zu, als ob sie in ihnen die Feinde des Eigentums sofort errieten. Oft, wenn sie unter freiem Himmel in der Nähe eines Bahnhofs schliefen, in der Erwartung eines vorbeikommenden Zugs, wurden sie von Gendarmen entdeckt. Wenn dann die Hüter des Gesetzes die roten Bündel sahen, die den Vaga» Kunden als Kissen dienten, beruhigten sie sich. Sanft nahmen sie ihnen die Mützen ab, und wenn sie des haarigen Anhäng- sels am Scheitel sichtig wurden, entfernten sie sich lächelnd ohne weitere Nachforschung. Es waren keine Strauchdiebe, sondern angehende Toreros, die zu den Capeas zogen. Und in dieser Nachsicht lag etwas von der allgemeinen Sympathie für das Ngtionalvergnügen und von ahnungsloser Ehrfurcht vor dem dunklen Hintergrund der Zukunft. Wer lveiß, ob <,,v i. i<.>- einer dieser zerlumpten, grindigen Buben nicht einst ein Stern am Firmament der Kunst sein werde, ein großer Mann, der Königen zu Ehren Stiere tötet, der wie ein Prinz lebt, und dessen Taten und Reden in den Zeitungen wiedergegeben werden?... Eines Tages geschah etwas Furchtbares. In einem Dorfe Estremaduras fand eine Cavea statt. Um dem ländlichen Publikum, das denberühmten Sevillaner Toreros" Beifall klatschte, noch mehr zu imponieren, beschlossen die beiden Jungen, einem alten verdrehten Stier Banderillas beizu» bringen. Juanillo heftete der Bestie ein Paar Pfeile in den Nacken und blieb dann neben dem Plankenzaun stehen, um die Ovation der Zuschauer entgegenzunehmen, die in gewaltigem Händeklatschen und Versprechen von Freiwein bestand. Ein Schrei des Entsetzens zog ihn aus diesem Ruhmestaumel. Chiripa war vom Boden des Rings verschwunden. Dort blieben von ihm nur die Banderillas, ein Schuh und die Mütze übrig. Der Stier bewegte sich, wie durch ein Hindernis be- lustigt, und eines seiner Hörner stak in einem Bündel Kleider, das wie eine Vogelscheuche aussah. Infolge einer heftigen Kopfbewegung des Tieres kollerte die formlose Puppe her« unter, einen roten Blutstrom ausschwitzend, aber ehe sie den Boden erreichte, wurde sie von dem andern Horn aufgespießt und furchtbar geschüttelt. Schließlich rollte der traurige Ballen in den Staub, und dort blieb er schlaff und unbeweg- lich liegen, indem er Flüssiges ausströmte wie ein durchbohrter Weinschlauch. Der Vichtreiber ließ seine zahmen Ochsen hinein, die den Stier mit sich in den Stall nahmen, denn niemand hätte sich an ihn herangewagt, und der arme Chiripa wurde auf einer Strohmatratze in einen dunklen Raum des Genieindehauses gebracht, der gewöhnlich als Kerker diente. Sein Kamerad sah ihn da liegen, mit weißem Gesicht, als sei es von Gips, trüben, glasigen Augen und blutgeröteten Kleidern. Vergebens waren die in Wasser und Essig getränkten Tücher, die sie, in Ermangelung von etwas Besserem, auf seine Wunden taten. Das Blut hörte nicht auf zu fließen. Leb' wohl, Schusterlein." flüsterte er,leb' wohl, Juanillo!" Und darauf blieb er stumm. Der Kamerad des Verstor- benen machte sich entsetzt auf den Weg zurück nach Sevilla . Die starren Augen und die hauchenden Abschiedsworte des unglück­lichen Gefährten wollten ihm nicht mehr aus dem Sinn. Er hatte ordentlich Angst. Eine zahme Kuh auf der Straße hätte ihn jetzt in die Flucht gejagt. Er gedachte seiner Mutter und ihrer klugen Ratschläge. War es wirklich nicht besser, das Schusterhandwerk zu er­lernen und in Ruhe zu leben?... Diese Vorsätze aber dauere ten bloß, so lange er sich allein sah. Kaum war er in Sevilla angekommen, so verfiel er wieder dem eigentümlichen Einfluß der Umgebung. Die Kameraden drängten sich um ihn, und er mußte ihnen den Tod des armen Chiripa in allen Einzelheiten schildern. Die Berufstoreros fragten ihn auf der Campana aus und äußerten ihr Bedauern über das tragische Geschick jenes Gassenbuben, der ihnen oft Gänge besorgt hatte. Juan nutzte die Umstände aus, um sich wichtig zu machen. Er ließ seiner furchtbaren Einbildungs- kraft die Zügel schießen und erzählte, wie er sich auf den Stier gestürzt, als er den armen Gefährten erfaßt sah, wie er die Bestie beim Schwanz gepackt und eine ganze Reihe von Helden- taten vollbracht hatte, trotz denen der andere in die Ewigkeit befördert worden war Der Schreckenseindruck verwischte sich schnell. Torero, nichts als Torero wollte er werden. Andere waren es; warum sollte es nicht auch er werden? Er dachte an die ver- dorbenen Bohnen und an das harte Brot seiner Mutter, an die Erniedrigungen, die ihn jede neue Hose kostete, an den Hunger, den er auf all seinen Zügen leiden mußte. Außerdem fühlte er eine unbezwingliche Begierde nach allen Gütern und Genüssen des Daseins; er blickte mit Neid auf die eleganten Equipagen: er blieb nachdenklich stehen vor den Toren der vornehmen Häuser, durch deren Gittertüren er Patios(Höfe) von orientalischer Pracht erblickte, mit Arkaden und bunten Wandfliesen, Marmorboden und sprudelnden Fontänen, die Tag und Nacht ihre flüssigen Perlen in die mit Blumen um- gebenen Becken herniederriefeln ließen. Dex Würfel war