Anterhaltungsblatt des Vorwärts Nr. 100. Donnerstag, den 26 Mal 1910 M-chdruck tatctm.) 88] Die Hrena. Roman von Vicente Blasco Jbanez. Autorisierte Uebersctzung von Julio Brouta. „Es äst wahr... so ist es..." stammelte Gallardo. der über diese Worte des Räubers nicht sonderlich erbaut war und sichtlich erbleichte. In seinem Gesicht spiegielte sich die aber- gläubische Furcht, die ihn erfaßte, wenn von Todesgefahr die Rede ging. Sein Geschick kam ihm jetzt wirklich vor, wie das dieses unheimlichen Landstreichers, der notwendigerweise irgend einmal in seinem unglückilchen Kampfesdasein unter- liegen mußte. „Aber glaubt Ihr. daß ich an den Tod denke," fuhr Plumitas fort.„Ich mache mir aus allem nichts und ziehe unbeirrt meine Straße weiter. Ich habe ebenfalls meine Lust und meinen Stolz, gerade so wie Ihr, wenn Ihr in den Zeitungen lest, daß Ihr einen Stier gut abgefertigt und eins seiner Ohrel? verdient habt. Bedenkt, daß in ganz Spanien über den Plumitas gesprochen wird, daß die Zeitungen die größten Lügen über mich und meine Taten verbreiten, daß sie sogar sagen, man werde mich in den Theatern zur Auf- führung bringen, und daß in Madrid , in jenem Palast, in dem sich die Abgeordneten zum Reden versammeln, fast jede Woche über meine Person gesprochen wird. Dazu kommt noch für mich die Genugtuung, ein ganzes Heer hinter mir her zu wissen, und zu sehen, wie ein einzelner Mann, wie ich, tausend anderen Kopfzerbrechen macht, die vom Staat be- soldet sind und einen Degen tragen. Kürzlich kam ich eines Sonntags während der Messe in ein Dorf und hielt meine Stute auf dem Platz bei einigen Blinden an. die Gitarre spielten und dazu sangen. Tie Dorfleute stierten einfältig nach einem großen Plakat, das die Sänger mit sich führten, worauf ein hübscher Bursche mit spitzem Samthut. in wunder- schönem Kostüm abgebildet war, der, auf einem prächtigen Pferde, das Gewehr über den Sattelknopf gelegt hatte, und hinter ihm saß auf dem Pferd eine hübsche dralle Dirne. Es vergingen einige Augenblicke, bis ich erfuhr, daß dieser schmucke Kerl der Plumitas sein sollte... So etwas läßt man sich gefallen. Wenn unsereins schon in Lumpen gekleidet und hungerleidend herumziehen muß, so ist es recht, daß die Leute sich das anders vorstellen. Ich kaufte ihnen das Blatt Papier ab. von dem sie sangen. Hier ist es:„Leben und Taten des Plumitas." in schöne Verse gebracht. Nicht übel. sag ich Euch. Wenn ich mich auf dem Boden ausstrecke, lese ich es, um es auswendig zu lernen. Es muß von jemand geschrieben worden sein, der es los hat." Der fürchterliche Plumitas sprach von seinen Ruhines- taten mit einem kindlickzen Stolz. Die stille Bescheidenheit, mit der er in das Wohnhaus eingetreten war. den Wunsch. seine Person vergessen zu machen, und den armen, von Hunger getriebenen Landstreicher hervorzukehren, hatte er abgestreift. Er geriet in Feuer bei dem Gedanken, daß sein Name be- rühmt war, und daß seine Taten immer sofort den Vorzug der Veröffentlichung erlangten. „Wer würde mich heute kennen." fuhr er fort,„wenn ich ruhig in meinem Dorfe weiter gewohnt hätte?... Ich habe darüber viel nachgedacht. Uns geringen Leuten bleibt nichts anderes übrig, als mit verhaltenem Grimm für andere zu arbeiten, oder den einzigen Beruf zu wählen, der Geld und Namen einbringt: zu töten. Zum Stiertöter tauge ich nicht. Mein Dorf liegt in den Bergen und bringt keine wilden Stiere hervor. Zudem bin ich korpulent und wenig gewandt... Aus diesem Grunde verlege ich mich aufs Töten von Menschen. Es ist noch das beste, was ein Armer tun kann, um geachtet zu werden und vorwärts zu kommen." Der Nacional, der bis dorthin mit stillem Ernst den Worten des Banditen zugehört hatte, hielt es für nötig, ein- zugreifen. „Was der Arme nötig hat, ist Unterricht, lesen und schreiben können." Diese Worte des Banderilleros riefen das Gelächter aller derer hervor, die sein Steckenpferd kannten. „Nun bist Du mit Deiner Wahrheit heraus, Kamerad, sagte Potage,„laß Plumitas in seinen Erklärungen fort- fahren, was er sagt, läßt sich hören." Der Räuber nahm die Unterbrechung des Nacional. den er übrigens wegen seiner Vorsicht in der Arena nicht sehr hoch schätzte, mit Verachtung entgegen. „Ich kann lesen und schreiben. Wozu nützt es mir? In meinem Dorfe tat ich mich dadurch hervor, und mein Geschick kam mir nur um so härter vor... Was der Arme nötig hat, ist Gerechtigkeit. Man gebe ihm das Seine, und wenn man es ihm nicht gibt, so nehme er es sich. Man muß ein Wolf sein und Furcht einflößen können. Die Wölfe achten sich gegenseitig, und das Vieh läßt sich sogar unter Dankes- bczeugungen abschlachten und verzehren. Sieht man Dich feige und klein, so werden sogar die Schafe Dir ins Gesicht blasen." Potage, der bereits trunken war, stimmte begeistert allen Worten des Plumitas bei. Er verstand sie nur halb, aber durch den dicken Dunst seines Rausches glaubte er einen Glanz höchster Weisheit erhaschen zu können: „Das ist die Wahrheit, Freund. Sehr gut gesagt, die ganze Welt muß Hiebe bekommen. Erzähle wester. Du bist heute ausgezeichnet." „Ich habe gesehen, wie die Menschen sind," fuhr der Räuber fort.„Die Welt ist eingeteilt in zwei Familien: Scherer und Geschorene. Ich will nicht geschoren sein, ich bin zum Scherer geboren, weil ich ein ganzer Mann bin und niemanden fürchte. Bei Euch, Sennor Juan, ist dasselbe der Fall. Durch Mut und Kraft seid Ihr von unten emporge- kommen, aber Euer Weg ist besser als der meinige." Er sah den Stierfechter lange an Urb sagte darauf mit überzeugtem Ausdruck: „Ich glaube. Sennor Juan, daß wir etwas spät zur Welt gekommen sind. Was hätten mutige entschlossene Burschen, wie wir, zu andern Zeiten alles ausrichten können! Ihr würdet keine Stiere töten, und ich wäre kein elender Wege- lagerer. Wir wären Vizekönige, hohe Würdenträger, be- rühmte Persönlichkeiten jenseits der Meere. Habt Ihr nie von einem gewissen Pizarro gehört, Sennor Juan?" Sennor Juan machte eine ausdruckslose Geberde, da er seine Unkenntnis dieses Namens, den er zum ersten Male hörte, nicht merken lassen wollte. „Die Frau Marquise weiß besser als ich, wer er war, und möge mir verzeihen, wenn ich drauf los schwatze. Ich lernte diese Geschichte kennen, als ich 5tüster war und in den alten Büchern las, die der Pfarrer aufbewahrte.... Also dieser Pizarro war ein armer Teufel wie wir, der mit zwölf oder dreizehn ebenso armen Schluckern über das Meer ging und in ein Land, wie das wirkliche Paradies, ein- drang... ein Königreich, wo sich der Ort Potosi befindet: weiter sage ich nichts. Wie viele Kämpfe sie mit den Ein- wohnern Amerikas , die Federn und Pfeile trugen, zu be- stehen hatten, weiß ich nicht. Zuletzt wurden sie die Herren und bemächtigten sich der Schätze jener Könige, und der geringste von ihnen füllte sein Haus bis unter das Dach mit Goldmünzen, und es war keiner, der nicht Marguis. Generat oder hoher Justizbeamter geworden wäre. Stellt Euch vor, Sennor Juan, wenn wir damals gelebt hätten.. Wie >väre es uns ein Leichtes gewesen, Euch und mir, mit einigen dieser wackeren Burschen, die mir zugehören, ebenso viel oder noch mehr als dieser Pizarro auszuführen..." Die Gutsleute verharrten in ihrem Schweigen, aber ihre Augen glänzten vor Erregung über diese wunderbare Ge- schichte, und kopfnickend stimmten sie den Gedanken des Banditen bei. „Ich wiederhole, wir sind zu spät gekommen, Sennor Juan. Der rechte Weg ist für die Armen gesperrt. Der Spanier weiß nicht mehr, was er tun soll. Was in der West noch zu verteilen war, haben sich die Engländer und andere Fremde angeeignet. Die Tür ist geschlossen, und wir Ehren- niänner müssen auf diesem Düngerhaufen verfaulen und uns ausschelten lassen, weil wir mit unserm Schicksal nicht zu- frieden sind. Ich hätte es vielleicht zum König in Amerika oder sons. wo bringen können, und statt dessen werde ich auf den St, aßen öffentlich ausgerufen, als ein Verfolgter und als Dieb gejagt und gehetzt. Ihr seid ein Mutiger und tötet
Ausgabe
27 (26.5.1910) 100
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten