Nnterhaltungsblatl des vorwärts Nr. 107. Sonnabend, den 4. Juni. 1910 lLaKdr»« verböte».! 461 Vie)Zrena. Roman von Vicente Blasco Jbanez. Autorisierte Uebersetzung von Julio Brouta. Meistens sprach der Doktor allein, und während er sprach, sah ihn' er National unverwandt mit stiller Bewunderung an. Was dieser Mann alles wußte! Aon seinem politischen Eifer entflammt, entzog der Banderillero Don Joselito, dem Ichullehrer, einen Teil seines Vertrauens und fragte den Doktor, wann die Revolu- tion ausbrechen werde. „Und jvas geht das Dich an? Deine Wünsche haben sich auf die Kenntnis Deines Metiers zu beschränken, damit Du der Gefahr entgehen und recht oft auftreten kannst, um Deiner Familie Geld ins Haus zu bringen." Der Ntfüonal protestierte gegen diese Zurechtweisung. Er sei ein Ttaatsbürger wie jeder andere, ein Wähler, den die politischen Persönlichkeiten in Wahlzeiten aufsuchten. „Ich glaube, daß ich berechtigt bin, eine Meinung zu haben. Wenigstens will es mir so scheinen... Ich gehöre zum Komitoe meiner Partei, ja wohl! Daß ich ein Stier» fechter bin? Oh, ich weiß, es ist ein niederes und rückschritt- liches Gewerbe, aber das hindert mich nicht, meine eigenen Ansichten zu haben." Er bestand auf dem Ausdruck„Rückschritt" mit An- Wendung auf das Stierfechten, ohne den Spott Don Jos6s zu beachten, da er nur für den Doktor sprach. Die Schuld an allem trage Ferdinand VI !., jawohl, jener Tyrann, der die Universitäten schloß und dagegen die Stierfechterschule in Sevilla errichtete, wodurch er diese Kunst verhaßt und die Stierfechterei überhaupt lächerlich gemacht habe.„Verdammt sei der Tyrann, Doktor!" „Und woraus sdtfießt Du denn, daß es ein Rückschritt ist?", fragte der Doktor,„Du bist ein guter Mensch, Nacional, und hast die besten Absichten von der Well, aber Du bist auch ein Unwissender." „Gewiß", rief Don Jos6 aus,„das stimmt. Im Komitee ist ihm von �en vielen Predigten und Brandreden der Kopf verdreht worden." „Die Stierfechterei ist ein Fortschritt," fuhr der Doktor lächelnd fort.„Hörst Du wohl, Sebastian? Ein Fortschritt in den Sitten und Gebräuchen unseres Landes, eine Besserung in den öffentlichen Belustigungen, denen sich die Spanier in früheren Zeiten hingaben, in jenen Zeiten, von denen Dir Dein Don joselito oftmals erzählt haben dürfte." Ruiz hielt em Glas in der Hand und redete in einem fort weiter, indem er nur anhielt, um einen Schluck zu tun. „Wenn behauptet wird, die Stierkämpfe seien uralt, so ist das eine gewaltige Lüge. In Spanien wurden von allers her zum Vergnügen des Volkes Bestten getötet, aber das Sttergesecht, so wie wir es heute kennen, existierte früher nicht. Der Cid griff Stiere mit Lanzm an, zugegeben. Die maurischen und christlichen Ritter vergnügten sich in den Reitbahnen, aber Stierfechter von Beruf gab es damals nicht, und die Stiere wurden auch nicht auf ritterliche Weise und nach bestimmten Vorschriften getötet." Der Dottor griff in die jahrhundertelange Vergangen- heit des nationalen Schauspiels zurück. Nur bei sehr ver- einzelten Gelegenheiten, etwa wenn die Herrscher Hochzeit hielten, ein Friedensvertrag abgeschlossen, oder eine Seiten- kapelle einer Kathedrale zugebaut wurde, veranstaltete man Stiergefechte zu Feier dieser Ereignisse. Diese Festlichkeiten wurden nicht regelmäßig wiederholt, und man kannte auch keine berufsmäßigen Kämpfer. Die staatlichen Ritter auf ihren prächtigen Pferden und in Glanz und Seide gekleidet sprengten in die Bahn, um die gehörnten Bestien in> Ange- sichte der Damen mit Lanzen anzustechen oder Spieße nach ihnen zu werfen. Wenn es dem Stier gelang, sie aus dem Sattel zu werfen, zogen sie das Schwert und töteten das Tier mit Hilfe ihrer Knappen, indem sie ihm Wunden beibrachten, wo sie konnten, ohne irgendwelche Regel zu befolgen. War das Schauspiel für das Volk bestimmt, so stieg die Menge in die Bahn hinab und griff den Stter massenweise an, bis e» ihr gelang, ihn niederzuwerfen, worauf er mit Messerstichen getötet wurde. „Die eigentlichen Stiergefechte existierten damals nicht," fuhr der Doktor fort.„Es gab nur Hetzen wilder Tiere. Di> Leute hatten, genau bettachtet, andere Bcschäfttgungen und verfügten über andere zeitgemäße Vergnügungen, so daß sie nicht nöttg hatten, dieses Schauspiel zu vervollkommnen." Der kriegerische Spanier hatte als Mittel zum Empor« kommen die unaufhörlichen Kriege in verschiedenen Ländern Europas und die Eroberung Amerikas , die immerwährend tapfere Leute erforderte. Zudem verschaffte die Religion häufig aufregende Schauspiele, bei denen fremde.Qual wollüstige Schauer erzeugte und obendrein als Sündenablatz dem Seelenheil zugute kam. Die Ketzergerichte mit nach« folgender Verbrennung bei lebendigem Leibe waren drastisch« Augenweiden, die die Veranstaltungen mit gewöhnlichen Stteren in den Schatten stellem Die Inquisition sorgte für große Schauspiele. „Es kam jedoch eine Zeit," fuhr Ruiz mit einem feinen Lächeln fort,„wo die Inquisition ihre Allmacht verlor. Alles überlebt sich auf dieser Well. Auch die Inquisition starb schließlich an Altersschwäche, lange bevor sie von revolutio« närm Gesetzen abgeschafft wurde. Sie war lebensmüde ge« worden: die Welt hatte sich verändert, und die Ketzerverbren« nungen waren ungefähr, was heute etwa ein Sttergesecht in Norwegen , zwischen Eis und trübem Himmel sein würde. Es fehlte ihnen die Lebenslust. Die Menschen fingen an, sich dieser Veranstaltungen mit ihrem ganzen Apparat an Predigten, lächerlichen Verkleidungen, Abschwörungen usw. zu schämen und Ekel zu kriegen. Die Inquisition wagte es schließlich nicht mehr, Ketzergerichte abzuhalten. Wenn sie es nötig hatte, zu zeigen, daß sie noch existtere, begnügte sie sich damit, die Prügelsttafe bei geschlossenen Türen anzuwenden. Zu gleicher Zeit waren wir Spanier es müde geworden, in der Well umherzustteifen und Abenteuer zu suchen, und wir blieben zu Haus. Es gab keine Kriege in Flandern und in Italien mehr. Die Eroberung Amerika ? mit ihrem fort« währenden Auszug von Abenteurern nahm ein Ende, und das war der Zeitpunkt, wo die Kunst des StierfechterS ihren Anfang nahm, und ständige Arenen gebaut wurden, wo sich Cuadrillas von Berufsfechtern bildeten, der Kampf nach bindenden Regeln geführt und die verschiedenen Abteile und Gänge, wie wir sie heute kennen, angeordnet wurden. Die große Menge fand das Schauspiel sehr ihrem Geschmack ent- sprechend. Indem das Stierfechten zu einem Beruf wurde. demokratisierte es sich. Die Ritter wurden durch Leute auS den niederen Volksklassen verdrängt, die dafür, daß sie ihr Leben riskierten, bezahlt wurden, und das Volk strömte haufenweise zu den Zirkussen als alleiniger Herr und Richter über sein Tun und Lassen, da es sogar von seinen Plätzen aus die Behörden ausschimpfen darf, die ihm sonst Respekt und Furcht einflößen. Die Nachkommen derer, die mit strengem religiösen Sinn dem Verbrennen der Ketzer und Juden bei» wohnten, scheuten nun unter lärmenden Kundgebungen dem Kampf zwischen Mensch und Tier zu. bei dem nur in sehr schlimmen Fällen der Tod an den Kämpfer herantritt. Ist das nicht ein Fortschritt?" Ruiz hielt an seiner Idee fest. In der Mitte des acht» zehnten Jahrhunderts, als Spanien sich auf sich selbst be» schränkte und den fernen Kriegen und neuen Eroberungen endgültig entsagte, als aus Mangel an Lebensbedingungen die kalte, religiöse Grausamkeit einging, da war es, wo di« Stierkämpfe auskamen und zur Blüte gelangten. Der im Volk steckende Blutdurst und sein latenter Tatendrang brauchte neue Mittel und Wege, um zur Befriedigung zu ge- langen. Der wilde Instinkt der an Feste des Todes gewöhnten Menge brauchte ein Ausgangsventil. Die Ketzergerichte waren durch die Sttergefechte ersetzt worden, und der Spanier, der ein Jahrhundert zuvor Soldat in Flandern oder Konquistador in der Neuen Welt geworden wäre, ward nun Stierfechter. Das neue n ttonale Schauspiel bot eklen Ehrgeizigen, die Mut und Kraft besaßen, Gelegenheit, zu Ruhm und Glück zu gelangen. „Das war ein Fortschritt, zweifelsohne." redete der Doktor weiter,„deswegen schäme ich mich nicht, als ent-
Ausgabe
27 (4.6.1910) 107
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten