Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 112.
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Die Arena.
Sonnabend, den 11. Juni.
Nachbrud berboten.)
Roman von Vicente Blasco Ibanez . Autorisierte Uebersehung von Julio Brouta. Mit traditioneller Langsamkeit wälzte sich die Prozession Borwärts. Ganze Stunden lang wurde an Kreuzwegen gehalten, die Zeit drängt ja nicht. Es war erst Mitternacht, und vor dem Mittag des folgenden Tages sollte die Macarena nicht in ihren Tempel zurückgebracht werden. So brauchte man für die Durchquerung der Stadt mehr Zeit, als für eine Eisenbahnreise von Sevilla nach Madrid .
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Voran ging der Statuengruppe Verurteilung unseres Herrn Jesu Christi ", eine Tragbühne mit verschiedenen Figuren darauf, Pilatus auf goldenem Thron, und um ihn Herum, Henfersknechte mit vielfarbigen Röcken und federgeschmückten Helmen, den betrübten Heiland bewachend, der bereit stand, zum Blutgerüst zu schreiten und eine Tunika aus violettem, mit Stickereien beschwertem Samt und über den Dornen seiner Krone drei goldene Federn trug, die die Strahlen der Göttlichkeit darstellen sollten. Obwohl diese Gruppe überreich an Figuren und pompös ausgeschmückt war, zog sie faum die Aufmerksamkeit auf sich, da sie in den Schatten gestellt wurde durch die hinter ihr folgende Königin der volkstümlichen Stadtviertel, die wundertätige Jungfrau der Hoffnung, mit einem Wort die Macarena.
Als die Madonna mit braunen Wangen und langen Wimpern unter einem samtnen Thronhimmel aus San Gil auszog, hin und her schaukelnd nach dem Nythmus der Bewegungen ihrer unsichtbaren Träger, ertönte ein betäubender Applaus aus der Menge, die sich auf dem Blaze drängte. Wie ewigschön und jung war die liebe Frau, die holde Himmelsfönigin! Die Jahre gingen spurlos an ihr vorüber!
1910
mit goldbefranzten grünen Tüchern behangene Trompeten. Sie steckten das Mundstück durch ein Loch der Maske und vollführten ein herzzerreißendes Geschmetter. Aber dieser haarsträubende Spektakel erweckte keineswegs ein Echo in den Seelen derer, die ihn anhören mußten, und ließ nie manden an den Tod denken. Aus den schrägen Nebengäßchen, die finster und einsam brüteten, tam ein mit Gartendüften geschwängerter Frühlingshauch her, ein Geruch von Orangenblüten, das Aroma der Blumen, die auf den Balkonen in Töpfen standen. Das Blau des Himmels erblaßte unter der Liebkosung des Mondes, der sich faul über den Wolkenflaum dehnte und neugierig zwischen zwei Dachvorsprüngen her vorlugte.
Mit jedem Schritt verlor der schauerliche Aufzug etwas von seinem düsteren Gepräge. Vergeblich wimmerten die Trompeten ihre Todesklagen, weinten die Sänger beim Anstimmen der heiligen Verse; vergeblich runzelten, wenn sie Tritt faßten, die grimmen Henkersknechte ihre Stirnen. Die Frühlingsnacht lachte und berbreitete ihren berauschenden Atem. Niemand vermochte Todesgedanken Raum zu geben. Um die Jungfrau drängten sich in wildem Durcheinander die begeisterten Macarenos, Gärtner der Vorstädte mit ihren zerlumpten Weibern, die an den Händen eine Reihe von Kindern nach sich schleppten. Halbwüchsige Burschen des Stadtviertels mit einem Filzhut auf dem Kopf und die Locken glatt über die Ohren gestrichen, schwangen mit kriegerischem Eifer Knüttel, als ob sie mit der Kraft ihrer Arme die Heilige beschüßen wollten gegen äußere Angriffe und Berlegungen. Alles ging ohne jede Ordnung. In den engen Straßen wurden die Prozessionsleute zwischen der Tragbühne und den Häusern gequetscht und eingezwängt, aber sie achteten nicht darauf und richteten die Augen underwandt auf die Jungfrau, redeten sie fortwährend an und priesen ihre Schönheit und Güte in den drastischsten Ausdrücken.
Ein Mann drängte sich durch die ganze Straße hindurch bis zu den Kapuzenmännern heran, die an der Spitze des Buges mit dem Stab in der Hand marschierten. Haltet ein! Haltet ein! Hier ist der erste Sänger der Welt, der an die Jungfrau eine Saeta richten will!"
Der erste Sänger der Welt," auf einen Freund gestützt, stand da mit schlotternden Beinen, reichte einem anderen sein Glas, schritt bis zum Bilde vor, räusperte sich und ließ dann den Schwall seiner heiseren Stimme los, in der die Triller jede Klarheit des Wortes verwischten. Man verstand nur, daß er die Mutter besang, die Mutter Gottes, und beim Aussprechen dieses Wortes Mutter" bebte feine Stimme vor Rührung, mit der Empfindsamkeit der Volkspoesie, die ihr Ehrlichstes und Bestes in der mütterlichen Liebe findet.
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Der herrliche, übermäßig große Mantel, mit dicker Alle fünfzig Schritte machte das Bild Halt. Es war Stickerei in Neßform, fiel in mächtigen Falten hinter der ja nicht eilig, das Tagwerk noch lang. Aus vielen Häusern Gruppe zurück, wie der gesenkte Schweif eines Pfaues. Die heraus wurde verlangt, daß man vor ihnen stehen blieb, um Glasaugen schimmerten, als weinten sie Tränen der die Jungfrau genau ansehen zu können. Jeder Schankwirt Rührung beim Fauchzen der gläubigen Menge, und hierzu verlangte ebenfalls eine Ruhepause vor seiner Tür, indem er gesellte sich das Gefunkel der Juwelen, die ihren Körper be- feine Rechte als Anwohner des Stadtviertels geltend machte. deckten und eine zweite Ausstellung von Gold und Edelgestein über dem schwerbestickten Samt bildeten. Es waren Hunderte, vielleicht auch Tausende von Edelsteinen und Berlen. Das Ganze sah aus wie ein Regen von leuchtenden Tropfen, die in allen Farben des Regenbogens erglänzten. Am Hals hingen Perlenschnüre, goldene Ketten und Dußende von eingefädelten Ringen, die bei ihren Bewegungen magischen Glanz ausstrahlten. Die Zunifa und das Vorderteil des Mantels waren bedeckt mit goldenen, vermittelst Nadeln befestigten Uhren, Smaragd- und Brillant- Ohrringen und Fingerringen, in die riesige flammende Steine gefaßt waren. Alle Frommen sandten der heiligen Gottesmutter ihre Schmucksachen zum Tragen, um den Glanz der Macarenaprozession zu erhöhen. Die Frauen trugen in diefer Trauernacht feinerlei Schmuck. Sie begnügten sich damit zu wissen, daß die Mutter Jesu heute die Kleinodien zur Schau trug, die sonst ihr Stolz waren. Das Publikum fannte fie, weil es sie jedes Jahr sah, und führte gleichsam Buch und Rechnung darüber, wobei es jede neue Erscheinung wohl bemerkte. Die Sachen, die heute die Jungfrau an einer Kette auf der Brust trug, gehörten Gallardo dem Stierfechter. Aber noch andere teilten sich mit ihm in die Bewunderung des Volkes. Die Frauen fonnten ihre staunenden Blicke nicht abwenden von zwei enorm großen Perlen und einer langen Reihe von Ningen. Diese Juwelen gehörten einem jungen Mädchen des Stadtviertels, das vor etwa zwei Jahren nach Madrid gegangen war und als treue Verehrerin der Macarena nach Sevilla zurückkam, in Begleitung eines reichen alten Herrn, um dem Feste beizuwohnen. Hatte die Glüd gehabt!..
Mit verhülltem Gesicht und auf den Stab gestützt, der das Abzeichen seines Ranges bildete, ging Gallardo mit den Würdenträgern der Bruderschaft an der Spiße der Macarena einher. Andere Kapuzenmänner trugen in den Händen lange,
Noch hatte der Sänger seine Strophe nicht bis zur Hälfte beendet, als schon eine andere Stimme laut wurde, und noch eine, als ob ein musikalischer Wettstreit begänne und die Straße sich mit unsichtbaren Vögeln bevölkere, die krächzend, schnarrend, gröhlend, freischend, schallend, pfeifend sich bernehmen ließen. Die Mehrzahl der Sänger" berbarg sich unter der Menge in frommer Demut; andere wieder, stola auf ihre Stimmittel und ihren Stil", drängten sich vor in die Mitte der Straße und stellten sich gerade vor der Macarena auf, um sich den Blicken aller darzubieten.
Magere, welfe, ärmlich gekleidete und schlecht gekämmfe Dirnen falteten die Hände über den eingefunkenen Bauch und, die Augen verzückt in die der Heiligen versenkend, sangen sie mit dünner Stimme die Qualen der Mutter, die ihren Sohn blutbefleckt unter dem Gewicht des Kreuzes zusammenbrechen sieht.
Wenige Schritte davon stand ein junger Zigeuner, dessen braunes Gesicht von den Blattern berwüstet war und der nach schmußigen Kleidern stank, wie in Berzückung; seinen Hut mit beiden Händen haltend, leierte er gleichfalls feinen