teurer Baker, so komm, man wird Dir eine Zusammenkunst mit mir gewähren. Jetzt sitze ich unter meinem wirklichen Namen Schurimow. Schreibe an die Mutter und sage ihr, meine letzte Bitte sei, sie möchte Dich nicht verlassen und Deinem armen Kopf die Ruhe wiedergeben. Küsse Pascha und Mascha. Ich grüße alle Verwandten. Leb wohl, Papa!" Wie der Verurteilte erwartet hatte, wurde das Urteil gegen ihn vollstreckt. Wie viele Mütter, Väter, Brüder, Schwestern und Großmütter erhielten in den letzten Jahren solche Briefe. Wieviel indirektes, nicht wieder gut zu machendes, unvergeßliches Leid vollkommen unschuldiger Menschen. Der blinde Greis Schurimow, der im Kosakendorf Zymljanskaja von seinem Sohn den früher zitierten Brief erhielt, wollte seine Bitte erfüllen und fuhr nach Saratow , um eine letzte Zusammenkunft mit ihm nachzusuchen. Im fünften Kapitel schilderte ich bereits seine� Bemühungen in dieser Angelegenheit. Um nur die einfache amtliche Auskunft zu be- kommen, ob sein Sohn noch am Leben oder schon hingerichtet sei, mußte er von Saratow nach Kasan reisen, und erst nach seiner Rückkehr aus Kasan erhielt er endlich die Auskunft: Ihr Sohn ist bereits aufgehängt. Wo ist dieser blinde Greis jetzt? Lebt er noch oder ist er von diesem Schlage zusammengebrochen und seinem Sohne in den Tod gefolgt? Wir wissen es nicht.»Es find Fälle vorgekommen— schreibt der Mitarbeiter der»Nascha Gazeta", der die Qualen des alten Schurimow schilderte—, daß die Personen, die den Kriegsgerichteten nahe standen, Selbstmordversuche unternahmen. Diese Leute konnten eben die Schrecknisse eines solchen Verlustes nicht ertragen. In allen diesen Fällen der- hängt die Gesellschaft zweifellos die Todesstrafe- über den Schul» digen wie den Unschuldigen."*) Ein Mitarbeiter der Petersburger Zeitung„Retsch" hat fol- gendes Genrebild aus dem russischen Leben gezeichnet. Er fuhr am 3. bis 4. Januar mit dem Abendzug aus Stawropol im Kau» kasus. Er fuhr in einem Wagen 3. Klasse und hörte die üblichen Reden, die dort geführt werden. Auf der ersten Haltestelle trat ein Mann in einem sauberen Kostüm in da? Coupe, das im Kau« kasuS den Namen„kleinrussisches Kostüm" trägt und den Ueber- siedler aus den kleinrussischen Gouvernements kennzeichnet. Nie» mand von den Passagieren bemerkte an dem neuen Ankömmling etwas Besonderes. Es war ein alltäglicher, �ut bekannter Typ, der sofort in das gewöhnliche Eisenbahngespräch gezogen wurde: „Wer sind Sie? Woher kommen Sie? Wohin fahren Sie? In welcher Angelegenheit? Handel? Kauf oder Verkauf? Getreide, Vieh, Eier oder Butter?" Es erwies sich, daß er nach Taurien fuhr, aber sticht in Handelsangelegenheiten..... In welchen denn?" „So..., ein kleines Unglück.. Auch das stellte nichts Besonderes dar.„Jedem Menschen passiert ein Unglück."„Ohne dem geht'S nicht. Eine alltägliche Erscheinung." „Ist jemand krank." „Nein, niemand ist krank... MeinenSohn hatman aufgehängt." Alle waren durch den offenbar ruhigen Ton dieser Antwort betroffen. Die Mitteilung kam unerwartet und war nicht ganz alltäglich. Selbst unser russisches Publikum hat sich an diese„all- tägliche Erscheinung" noch nicht in einem solchen Maße gewöhnt, daß sie sie zum Gegenstand eines gewöhnlichen Waggongespräches machen könnte.... Vielleicht schenkte dieser oder jener der Mit- teilung nicht sofort Glauben. Aber der„ruhige" unbekannte zog ein Bündel„Dokumente" aus der Tasche und der Gewährsmann der»Retsch" las sie durch. lSortsetzung folgt. ü Die acolomlcbe Gefdriebte der Oftfee. Es ist üns heute möglich, aus den Gesteinsablagcrungen, die den Boden zu unseren Füßen bilden, und den in ihnen eingeschlosse- nen Versteinerungen die geologische Geschichte eines Landes zu rekonstruieren. Die Art der Gesteine, ob seinkörniger Schiefer oder grobe Konglomerate, gibt uns Auskunst darüber, ob hier einst ein Meer bis in große Tiefen hinabreichte oder an eine Steilküste an- brandete. Die Lagerung, ob gefaltet oder zerbrochen und ver- warfen, gibt uns Aufschluß über den Aufbau und die Höhe einstiger Gebirge und über die Ausdehnung der Ebenen, lind die in den meisten Sediment-(Niederschlags- oder Ablagerung?-) gesteinen enthaltenen Fossilien weisen uns auf die Entstehungszeit der Ab- lagerungen hin. Da ist es interessant, mit Hilfe dieser Methode einmal auch ein Meer wie die Ostsee in ihrem Werdegang zu verfolgen, wie es im letzten Heft der„Geographischen Zeitschrift" geschieht; zu erforschen, wie sie nach und nach aus einzelnen Teilen entstanden ist, die sich schließlich in der Gegenwart zu einem einheitlichen Gan- zen zusammengefunden haben. Selbstverständlich müssen wir dabei von den heutigen Verhältnissen durchaus abstrahieren. *)j„Nascha Gazeta". Nr. 53. 5. März 1909. Aus der Vorzeit unserer Erde ist in Nordeuropa heute noch eine große Senke übrig, die damals als Talmulde in der FaltungK, zone eines von Osten nach Westen verlaufenden Gebirgszuges gee bildet wurde. In diesem Senkungsgebiet befinden sich heute Wener» und Mälar-See ,n Schweden und der Finnische Meerbusen . An den Randzonen des alten Gebirges befanden sich damals Vulkane« von deren gewaltigen Eruptionen der sogenannte Rapakiwigranid stammt, der ausgezeichnet ist durch sehr große rote Feldspatbrocken und als Findling im norddeutschen Flachland nicht selten vorkommt. Diese vorzeitlichen Gebirge wurden dann abgetragen und der dabei entstehende Verwitterungsschutt in einem Meere, das langsam auf das untersinkende Festland hinaufiroch, zu Sandsteinen zusammen-, gebacken. Das vordringende Meer reichte schließlich, wie sich auS der Verbreitung der Ablagerungen feststellen läßt, vour hohen Norden über ganz Skandinavien und Teile von Rußland hinweg bis Pommern und Mecklenburg . Das Meer wurde immev tiefer, es kam zur Bildung von dunklen Tonen, und Koralleninselw erhoben sich in der Gegend von Gotland . Die tiefste Stelle zog sich etwa in der Richtung Petersburg-Kalmar hin, während nach Süden hin, im heutigen Norddeutschland, eine Landbrücke die Ver-, bindung mit dem böhmischen Meer hinderte. Dann folgte noch von der Steinkohlenzeit eine Gebirgsauffaltung von England herübe» bis nach dem nördlichen Norwegen , so daß die Ostsee abgeschnürt! wurde und allmählich austrocknete. In der Steinkohlenzeit ist das Ostseegebiet Festland, während in Mitteldeutschland sich die söge« nannten karbonischen Alpen von Straßburg bis in die Magde - burger Gegend auffalteten. Vom Ende des Altertums der Erde bis in die Eiszeit hineil» blieb denn der nördliche Abschnitt der Ostsee Festland, während in» Mittelalter, in der Trias und Jurazeit, das Muschelkalkmeer den südlichen Teil bedeckte. In Schonen bei Helsingborg befand sich» wohl das Mündungsgebiet großer Ströme, in deren sumpfigem Mündungsgebiet eine reidjc Vegetation zur Bildung von Kohlen« lagern führte. Das ganze deutsche und dänische Gebiet befand sich damals ständig in einer Art Schaukelbewegung, so daß bald das Meer zurückwich, bald wieder vordrang. Die Ostsee war eine Rinne, die bald nördlich, bald südlich gerückt wurde und in der hauptsäch» lich der Verwitterungsschutt des nördlichen skandinavisch-finnischen Festlandes sich ablagerte. Zur Tertiärzeit befanden sich im Gebiet der heutigen östliche» und nördlichen Ostsee ausgedehnte, sehr harz« reiche Nadelholzwaldungen, besonder? in Samland , die den Bern« stein lieferten. Am Ende der Tertiärzeit war wohl nur ein kleine»! Binnensee im westlichen Ostseegebiet vorhanden. Die wichtigste Phase für die Herausbildung der heutigen Ost« see ist die Eiszeit. Bevor die Gletscher Skandinaviens zum letzten! Mal nach Süden vordrangen, schufen gebirgsbildende Bewegungen die dänischen Inseln, Rügen und Bornholm, indem die dazwischen» liegeirden Gebiete längs großen Bruchlinien in die Tiefe sanken« Rügen und Möen zeigen in ihrem Steilabfall deutlich die Ver« werfung, die aber auch bei Kiel , Stralsund , Wollin nachzuweisen» ist. Als dann das Eis zurückwich, drang das Meer in die neuge« bildete Senke ein und bildete so die Ostsee , die aber noch mehrers Zwischenstadien durchmachen mußte, ehe sie die heutige Gestalt an- nahm, die wir als Aoldia-, Ancylus- und Litorinazeit bezeichnen, In der Doldiazeit stand die Ostsee nördlich von Smäland in Schwe- den, im Gebiet des Wener-, Wetter-, Hjclmar- und Mälar-Sees in» ostwestlicher Richtung mit der Nordsee in Verbindung. Südfinn« land und das ganze finnische Seengebiet stand unter Wasser, so daß auch eine Verbindung der Ostsee mit dem Weißen Meere, also dem nördlichen Eismeer, existierte. Das Wasser muß, den in den Ablagerungen enthaltenen Tieren nach zu schließen, sehr kalt ge» Wesen sein, was sich leicht erklärt, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Schmelzströme der Gletscher hineinmündeten und wahr« schcinlich auch kalte Strömungen vom Pol her weit nach Süden vor« drangen. Bis an die deutsche Ostseeküste scheint das Voldiameep nicht herangereicht zu haben. In der folgenden Anchluszeit schlössen sich die Tore Jütland und Finnland , die ganze Ostsee wurde vom Meere abge« schnürt und wieder in einen Binnensee verwandelt; nur im Snni» mag eine schmale Meerenge vorübergehend bestanden haben. Den Rainen hat diese Zeit von einer kleinen Süßwasserschnecke, die sich von dieser Zeit her noch in der ganzen Umrandung der Ostsee findet. Eine Landbrücke, die von Hannover über Holstein unk»1 Jütland nach Schonen ging, ermöglichte es damals der südlichen Tier- und Pflanzenwelt, in das eisfrei gewordene Skandinavien wieder einzuwandern; auch der Mensch scheint auf diesein Wego nach Norden vorgedrungen zu sein. Bornholm war damals noch durch den Adlergrund mit Rügen und vielleicht auch mit Hinter- pommern verbunden, was sich gleichfalls durch Uebereinstiinmüngen in der Flora und Fauna nachweisen läßt. Dieser Binnensee erhielt dann in der Litorinazeit Wied«« Verbindung mit dem Salzmeer; das geht daraus hervor, daß dio Nordseemuscheln sich allmählich bis nach dem äußersten Norden der Ostsee verbreiten. Die Landbrücke von Bornholm nach dein Fest- land verschwand, Sund und Belt öffneten sich als Verbindung mit der Nordsee . Zugleich trat an der deutschen Ostsee�üste eine Sen- kung ein; so befinden sich versunkene Eieren- und E-benwälder auf dem Meeresboden bei Thiessow, Hiddensee und an anderen Stellen. Auch Hünengräber und menschliche Steinwerkzeuge liegen nicht selten auf dem Meeresboden und werden ton da gelegentlich zutage gefördert.
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27 (19.7.1910) 138
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