Nnterhaltungsblalt des vorwärts Nr. 141. Freitag, den 22. Juli. 1910 HloAUttS wtseteM 111 Der Entgleiste. Von Wilhelm Holzamek. Die Buben ärgerte es, daß ihre Nadeln nicht genügend verletzten. Sie sannen auf spitzere. Nun meinten sie etwas gefunden-zu haben, was wirken müßte. Einer sagte:„Du bist ja ein viel zu großer Esel, daß Du Schulmeister werden könntst. Dir reicht's grad für die Ziegelhütt, weiter nit!" Das saß. Der Philipp geriet in Wut. Die Mutter lachte ihn aus:„Sei kein Esel. Wenn man keiner ist, haben's die andern lang gut sagen I" Es bohrte in dem Philipp. Es saß ihm beständig im Sinn, daß er zu dumm dazu wäre, etwas zu lernen und zu werden. Das trieb ihn an. Nun wollte er. Nun wurde es ganz fein Wollen und Streben. Nun stand das Schullehrerwerden nicht mehr vor ihm wie etwas Seltsames und Fremdes, nun war es sein Eigenes, darum er ringen wollte und damit er beweisen wollte, was er könnte. Er hatte ein Streben, er hatte einen Trieb, die Gleichgültigkeit hatte er abgelegt. Er lernte mit Eifer. Der alte Krafft sah es mit Behagen. Er erbot sich, den Philipp auch ein wenig im Klavier zu unterrichten. Ganz umsonst. Und er riet der Klar, ihm auch Violinstunden geben zu lassen. In Mainz bei einem Militärmusiker. Die Klar befolgte seinen Rat. Am folgenden Sonntag ging sie mit dem Philipp nach Mainz , kaufte ihm eine Geige und suchte den empfohlenen Militärmusiker auf, der für fünfzig Pfennig die Stunde den Violinunterricht übernahm. Nun ging der Philipp zweimal in der Woche nach Mainz , zu Fuß, die lange Straße hin, seine Geige in einem grünen Sack auf dem Rücken. Manchmal war das Feld so weit und leer, und er fürchtete sich am hellen Mittag. Dann kam er in die belebte Stadt und fühlte sich wohl. Oester aber tat es ihm wohl, durch die Ruhe zu schreiten und seinen Gedanken nachzuhängen. Er beobachtete das Feld, die Wiesen, die Bäume. Die Wolken und den Flug der Vögel— die Raben, die im Winter nach dem Dorfe zu sich zogen, die Stare, die im Herbste in die Weinberge ein- fielen, die Spatzen, die in den Kirschbäumen zankten. Und das ganz Seltene: die Schneegänse, die vorbeizogen. Kein Mensch im Dorfe, der sie gesehen. Aber der Philipp hatte ihnen nachgeguckt und hatte sie an dem Dreieck erkannt, das sie im Fluge bildeten. Einmal hatte er sogar Kraniche ge- sehen, die das Selztal entlang flogen. Er kannte bald jeden Baum, jeden Acker, und bemerkte die geringsten Veränderungen in der Farbe, in der Form, in den kleinsten Einzelheiten. Und manchmal kam er in Mainz an, ohne recht zu wissen, wie er hingekommen war. Er hatte die zwei Stunden richtig verträumt. Und wenn er sich recht erinnerte, so wußte er trotzdem alles, was er gesehen hatte, wer ihm begegnet war, und es fiel ihm sogar ein, was er bei diesem und jenem Anblick, bei dieser und jener Gelegen- heit gedacht und vor sich hingesagt hatte. Denn das hatte er von seiner Mutter geerbt, er neigte zu Selbstgesprächen. In der Musik war er nicht berühmt. Es ging ihm schwer. Und seine Geige wollte den Kratzton absolut nicht verlieren. Es lag wohl auch an der Geige ein bißchen. Die Mutter hatte sich eine böse Schachtel aufhängen lassen. Nun, er tat sein Bestes, was er konnte, und was er nicht fertig brachte, das ließ er sich nicht allzusehr bedrücken. Er neigte ein bißchen zum Leichtsinn. Er konnte es nicht lassen, seine Sputzen und Narrenstreiche zu machen. Es war im Grunde wieder etwas von seiner Mutter. Die ließ auch leicht Gott einen guten Mann sein, und ließ liegen, was sie nicht auf- heben konnte. So kam wieder die Fastnacht. Dem Philipp juckte es. Und er hatte in Mainz alle Fastnachtsvorbereitungen ver- folgt. Manches davon trug er heim ins Dorf, und es wurde angenommen, ohne daß man gefragt hätte, wer's gebracht habe. Aber an Fastnacht wollte der Philipp was ganz Bs« fonderes machen. Und nicht umsonst hatte er ja auch sein» Geige. Sie schimpften ihn den„Studenten" und den„Danz- doch". Nun, er wollte ihnen mal zeigen, daß er beides war. Er machte sich von Papier eine grüne Studentenmütze, strich sich mit roter Farbe ein paar Schmisse ins Gesicht, wie er sie in Mainz wiederholt gesehen hatte, zog seinen Ueber- zieher links an und klebte sich einen Schnurrbart unter die Nase. Dann nahm er seine Geige und ging auf die Straße. Er fiedelte und tanzte. Die Mutter stand am Hofe und sah ihm nach und schlug sich die Arme zwischen die Beine vor Lachen. Im Nu hatte der Philipp ein Rudel Kinder hinter sich. Sie johlten und schrien. Und er fiedelte und machte seine Bocksprünge. Es war ja Fastnacht. Der Philipp hatte sich ein Liedchen gemacht. Wußte es der Teufel, wie es ihm eingefallen war. Er fang: „Hack der Katz den Schwanz ab, hack ihn nor net ganz ab, loß en noch e Stickche stehln), daß se kann spaziere geh(n)." Das gröhlte er und kratzte es auf seiner Geige. Und die Kinder sangen es mit, bald laut und leise, wie er eS angab. Es dauerte nicht lange, so war das Lied im ganzen Dorf. Und der Philipp war nun auch ins Dorf hineingedrängt. Wie dem Rattenfänger folgten ihm die Kinder. Ein paar Leute sagten, er sei verrückt geworden. Anders freuten sich und lachten. � Als die Klar am Thomas seinem Haus an dem Weg, weiser stand, wo noch einige Männer beisammen standen, trompetete der Schnellbachs Michel ganz laut durch seine stockverschnupfte Nase: „In Lebtag wird aus dem nix. Maurer, Ziegler, das vielleicht, aber sonst nix. Der reinste Narr." Die Klar drehte sich um. „Nun, wann er sonst nix werden kann, Schnellbachs Michel kann er noch immer studieren. Dazu ist er nit Esel genug. Oder meinst Du, dazu müßt man so ein großer Esel sein, daß er auch das nit studieren könnt?. Freßbauer, dummer!" Sie ging und hatte die Lacher auf der Seite. Aber obgleich es Fastnacht gewesen war, wo jeder Spaß erlaubt und geduldet, ja belobt wurde, dem Philipp wurde er doch nicht verziehen. Die Leute hatten nur eine Gewißheit mehr, daß er kein Lehrer werden konnte. Er war verrückt, Er hatte einen Sparren für sie. Und wohin der Philipp kaiw der Spott wurde hinter ihm hergehetzt. Sein Katzenlied wurde benützt, ihm Katzen«' musiken zu bringen. . 9. Den Eulenmüllerbuben ging es im Dorfe ähnlich wre dem Philipp. Sie wurden als nicht zugehörig angesehen und deshalb abgestoßen. Sie fuhren auch beide nach Mainz in die Schule, waren anders gekleidet, sprachen nicht den Dialekt des Dorfes, Grund genug, sie zu verachten und zu verfolgen. Zuzeiten ging der Haß gegen sie soweit, daß sie sich aufs schlimmste gefaßt machen mußten. Steine reichten nicht mehr aus. Da waren die Katapulte, in Leder ein- genähte eiserne Kugeln, die an einer starken Kordel befestigt waren und geworfen werden konnten, ohne das sie verloren gingen, denn die Kordel war am Handgelenk festgebunden. Es waren die Waffen, die im Kriege gegen die Sörgenlocher und Zornheimer Buben erfunden worden waren und an» gewandt wurden. Denn die Jugend dieser drei Orte lag jahraus, jahrein in heftiger Fehde. Kleine Plänkeleien fanden immer zwischen ihnen statt, dann, wenn der eine oder andere der kriegerischen Bubenschaft nach dem einen oder anderen dieser Dörfer zu irgendeiner Besorgung gehen mußte. Das war nicht selten höchst gefährlich. Tie Eulcnmüllerbuben wohnten nun nach Sörgenloch zu, und wenn man richtigen Zorn gegen sie hatte, behandelte man sie als Sörgenlocher. Sie hatten schließlich kein anderes Mittel mehr, sich zu er- wehren, als jedesmal ihren großen Bernhardiner mit inS Dorf zu bringen. Auch wenn sie in die Kirche gingen. Die Schlachten fanden jedesmal nach dem Nachmittagsgottesdienst.
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27 (22.7.1910) 141
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