Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 148.

18]

Der Entgleifte.

Dienstag, den 2. August.

KNagdrud berboten.)

Von Wilhelm Holzamer .

Drei Buben stecken die Köpfe zusammen. Sechs Augen blinken und lichtern- sechs Lippen glühen und werden feucht. Ein Herz ist wach geworden eine Blüte streckt sich aus der Knospenhülle hervor und blickt in die Welt- in die lachende, träumende, schwärmende, glückliche Welt.

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Die Schwarze Emilie!" sie hatten sich fest um­schlungen die dreie, und der größte erzählt. Er hat sie ge­troffen an Seiberts Garten er hat ihr die Hand gedrückt er hat sie wieder getroffen, wieder getroffen, wieder ge­troffen. Er hat ihr Veilchen gepflückt in den Wiesen.

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Es klingt, es fingt. Helle Füße durch das grüne Gras. Und wenn der Abend kommt und der Mond scheint oder besser noch wenn der Mond hinter den Wolfen sich berbirgt dann treffen sie sich.

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Sie steht hinter Seiberts Hollerbaum und erwartet mich!"

1910

Dann kroch's ihm hart ans Herz und bedrückte ihm die Brust. Er würgte und schluckte daran. Die Tränen wollten ihm in die Augen schießen- er biß sich auf die Zähne. Und dann fühlte er sich so allein und unglücklich, und fühlte so sein Armsein und Geringsein und kam ordentlich feindlich zu Hause an.

Aber die rauhe Stimme riß ihn aus allen Verschwom menheiten heraus, und er machte sich tapfer an seine Arbeit. Der fleine Herz kannte nichts anderes als arbeiten. Er lag dem Philipp beständig in den Ohren, in das Gymnasium überzutreten.

Du kannst dann werden, was Du willst. Die Welt steht Dir offen. Was kannst Du aber mit Deiner Realschule an­fangen? Nichts. Wenn Du nicht Schullehrer wirst, kannst Du Weinreisender werden. Schullehrer ist nichts, und zum Weinreisenden taugst Du nicht. Willst Du ein Parfümerie hengst werden und nach Seifen stinken? So viel Respekt wirst Du doch noch vor Dir haben, daß Du das nicht werden willst. Nun, was denn?"

Wenn alle im Coupé lärmten, saß das kleine Herzchen in einer Ecke und las. Er studierte immer. Er wußte alles- aber er sagte nie etwas. Er sprach nur mit dem Philipp. Den bekam er bald ganz in seine Gewalt. Der Philipp saß Gefüßt? Aff! Auf den Mund! Mitten auf den Mund!" in der Ecke bei ihm und lernte mit ihm. Der kleine Herz " Und sie Dich?"

,, Und Du hast sie schon gefüßt?"

Und sie mich!"

" Bravo!"

Bravo! hätt dabei sein mögen."

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Zwei stoßen heimlich einander an. Ein bißchen Spott zwinfert in ihren Augen- ein bißchen Neid- ein bißchen Unverständnis bleibt auf ihren Stirnen wie ein Schatten. Aber der Größte merkt's nicht, er erzählt noch. Die andern fichern.

Ihr seid Esel- Affen seid Ihr!"

" Pst," sagt der Bruder, wenn Du frech wirst, sag ich's, warum Du jeden Abend noch im Feld herumstreichen gehst und so spät heimkommst. Und schon zweimal übers Zürchen gestiegen bist. Gelt, da hast Du Courage. Aber sonst bist Du ein Hasenfuß."

lehrte ihn Latein und Griechisch.

Wenn Du im Anfang ein bißchen zurück bist, das tut nichts. Dafür bist Du in Mathematik und Naturwissenschaft vor. Zwei Jahre hab ich noch, da kann ich Dir immer nach­helfen, wenn's fehlen sollte."

Der fleine hinkende Jude hatte etwas Merkwürdiges; wenn er etwas erklärte, war er wie ein Mann. Man mußte ihm folgen und aufmerken. Er verschwendete kein Wort. Und er beanspruchte nie etwas für sich. Was er tat und gab, tat und gab er in purer Freudigkeit. Er war wohl dem Philipp dankbar, daß er ihn beachtete und sein Freund blieb. Niemand beachtete ihn. Er war zu klein und unansehnlich, ärmlich gekleidet, hinkend aber der Primus der Klasse. Das ärgerte die meisten Gymnasiasten noch besonders.

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Zwei Jahre, jeden Tag die dreiviertel Stunden Fahr­dem Schulgang, arbeitete der kleine Herz mit dem Philipp Latein und Griechisch. Und dann sagte der Philipp eines Tages zu seiner Mutter:

Still," beschwichtigt der Philipp, ich hab mein Ehren- zeit, und morgens im Wartesaal noch eine Viertelstunde vor wort gegeben. Du bist still, Otto, und darfst nichts verraten. Freund Fränzchen, Du darfst Dich nicht abschrecken lassen. Wer lieben will, muß kämpfen. Das ist der schönste Gewinn der Liebe, der Kampf. Sieh es bei Schiller . Der Jüngling reift zum Manne. Wir verraten nichts, wir stehen Dir bei. Das ist ja die Freundschaft, daß sich einer auf den andern berlassen kann. Hand hoch, Otto! In aller Not und Gefahr, wir halten treu zusammen! Das ist unser Rütlischwur!"

Der Abend ging über die Wiesen und wehte seine Wolken über das Selztal hin. Und den drei Jungen war's eine tiefe Stimmung und eine heilige feierliche Stimmung. Sie schwuren einander die Treue im Liebesabenteuer des ältesten Freundes.

,, Emilie!" sagte der Philipp.

Und Emilie!" besiegelten die anderen den Schwur. Dann gingen fie Arm in Arm die Wiesen hin, immer tiefer hinein, bis da, wo das Wehr der Selz mächtig rauschte. Da waren sie allein und das Nauschen des Wassers ver­schlang ihr Ried:

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Rund-, Runde, Rundgefang und Gerstensaft Lieben wir ja alle,

Darum fauft mit Jugendkraft

Schäumende Bofale

Bruder deine Liebste heißt?"

Emilie!"

,, Emilie, fie foll leben, soll leben, soll leben! lebe hoch!!!"

Emilie

Und Arm in Arm, von einer großen Tat erfüllt, fehrten sie heim, nach der Eulenmühle zu.

Mutter, ich tret jett ins Gymnasium über." Mach, was Du willst aber Du bist verrüdt." Es ist gescheiter so."

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" Bum Weiterstudieren haben wir aber kein Geld." ,, Wenn ich mit dem Gymnasium fertig bin, kann ich auch Lehrer werden, wenn's sein muß."

Meinetwegen, mach, was Du willst."

Dann hatte der kleine Herz seinen stolzesten Tag. Sein Schüler Philipp Kaiser Kam in die Obersekunda des Gymna­fiums und hatte die Aufnahmeprüfung gut bestanden. Es war ein großer Tag. Die beiden blieben zum legten Zuge in Mainz . Sie fuhren nach Biebrich und aßen da in einer Wirt­schaft am Rhein zu Abend, dann rauchten fie Zigaretten und fuhren mit dem Boot zurück. Der kleine Herz war Unter­primaner, der Philipp Obersekundaner, ganz wie es der Herz ausgerechnet hatte, und sie waren beide sehr froh und stolz. Der Philipp hatte durch die Herbstklasse noch dazu ein halbes Jahr gewonnen so fonnte er ein Federchen in die Luft blasen.

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,, Was wirst Du einmal, Herzchen?" ,, Was ich werde frag mich nicht! Ich weiß es nicht. Judenlehrer nicht ich fönnte nicht schächten- Rechtsanwalt reichen vielleicht die Mittel nicht, und ich bin auch zu un­ansehnlich dazu Arzt ist mir gegen die Natur- ich muß es wohl einmal mit der Schriftstellerei versuchen. Das ist das einzige, das mir nicht ganz verschlossen ist. Dann könnte ich vielleicht auch verdienen und dabei weiter studieren. Wir sind ja so arm- und ich habe noch sed, s jüngere Geschwister." Da kam's dem Philipp zum ersten Male über die Lippen:

Dem Philipp aber war es auf dem Heimweg, als füsse und ficherte es in allen Büschen, und als flüstere der Bach nur den einen Namen, den Namen von der Liebsten seines Freundes, und als sei der Abend von warmen Wundern er- ch bin ja auch arm." füllt, die ihn hoben und trugen, gleichwie der Abendwind die Das hab ich gewußt." Wolfen trägt und über die ganze Welt mit ihnen hinfährt. Daß weiß man?"