Zlnterhaltungsvlatt des Nr. 177. Sonnabend, den 10. September. 1910 lSaAdru» ptilettt.7 47] Der Sntgleifte. Von Wilhelm Holzamek. Er hatte Furcht. Und er dachte an das kleine Häuschen neben der Ziegel- Hütte, in dem er geboren worden war, und die Welt um ihn wurde immer kleiner und enger, und die Welt draußen wurde ihm dunkel und unheimlich. Abends wehte der Wind vom Rhein   herüber. Nun der- fing er sich in den Bäumen und wurde laut in ihnen. Sie kehrten schweigend um. Die Ferne war so klar, daß man die Berge der Hardt scharf abgezeichnet am Horizonte sehen konnte. Jeder ein- zelne trat deutlich hervor, Dürkheim  , Neustadt   und die Wein- orte dazwischen waren genau zu unterscheidm. Breit stieg nach Süden zu der Dom von Speyer   auf, nahe tmt der Dom von Worms  . Und nun blinkte ein Stück Rhein   auf. Der Rhein I" rief Philipp aus. Sein Finger wies nach dem blinkenden Silberstreifen Er war entzückt. Melanie betrachtete ihn lächelnd von der Seite und freute sich. Hat Sie der Rhein   nie in die Ferne gelockt?" Da erwachte sein rheinhessisch Blut, das nicht Ruhe hat und Seßhaftigkeit. In die Ferne? Mit tausend Segeln." Er legte ihre Hand auf seinen Arm mit einem leisen Druck. Da sagte er traurig: Früher war das." Sie ließ ihren Arm sinken und ging ein paar Schritte weiter. Lebt Ihre Mutter da?" ..Ja." Ihr Vater?" Philipp stutzte. Mein Vater hat sich im Rhein   ertränkt." Er beobachtete sie scharf. Aber sie verzog keine Miene. Er war froh. Vielleicht ist er auch durch Zufall ertrunken. Ich glaube sogar," ergänzte er. Leiden Sie daran?" Nein!" Er sagte es fest und bestimmt. Das freut mich von Ihnen und' das freut mich auch für Sie." Nun gingen sie weiter. Der blinkende Streifen Rhein  erlosch. Aber die Berge blieben klar. Es wird regnen morgen," erklärte Philipp.Diese Klarheit kündet hier stets Regen." Da fuhr unten auf der Straße ein Wirbelwind auf und tanzte in einer hohen Staubsäule die Landstraße hin. Sehen Sie, der Umschlag ist noch vor morgen da." Sie war traurig geworden. Nach einer Weile fragte sie: Da fällt unser Spaziergang aus? Vielleicht ist's dann ganz aus mit unseren Spaziergängen. O, sie waren so schön, Doktor! Ich bin Ihnen so dankbar.". Er wchrte ab. Eins muß ich Ihnen noch sagen Sie sind der erste Mensch, vor dem ich Frau fein wollte. Vor allen anderen wollte ich Künstlerin sein. Das heißt, verstehen Sie recht: ich wollte als Künstlerin in erster Linie Geltung haben. Vor Ihnen ist das zurückgetreten. Und ich glaube, es hat ein richtiges Maß angenommen: ich möchte als Frau und Künst- lerin vor Ihnen gelten." Nun war ihm, als müsse er seine Arme um sie schlingen. Es jubelte in ihm und machte ihn stolz. Sie hatte ihn so kleingedrückt heute, nun dehnte und streckte er sich wieder in die Höhe vor ihr. Aber Worte fand er keine. Sehen Sie, das ist ein Ausgleich, den ich Ihnen auch noch zu danken habe. Das hat mich als Menschen abge- rundeter, ausgeglichener, vollkommener gemacht. So bin ich unter Ihrer Hand gewachsen, und ich danke Ihnen von ganzem Herzen dafür! Ich habe in mich geblickt, und Sie haben mich mir aufgetan. Das ist so schön, so herrlich ist das. Das ist so ein Glück!" Tränen standen ihr in den Augen. Sie haben mir mehr gegeben," sagte Philipp. Nun lassen Sie's gut sein," wehrte sie und brach asi. Wir sind zu Hause. Schade, daß uns der gute Weit heute versäumt hat." 18. Am Morgen liegen die Nebel schwer auf dem Lande, in dichten Ballen im Tal und Grund, weiß wie Watte, um die Höhen ziehen sie wie Rauch. Langsam schwinden sie, am Abend kehren sie wieder. Dann sind sie grau und scharf, kühl und moderig. Philipp sieht ihrem Treiben täglich zu. Die Winzer nennen sieTraubendrücker" daheim, und er freut sich. Sie sind garstige, unfreundliche Gesellen, aber sie meinen's doch nicht übel. Sie legen einen leichten Hauch auf die Trauben, ganz zart und weich, und während ihn die Sonne außen ab­schleckt, wird es innen in den Beeren süßer und wärmer. Und ihre Haut wird ganz dünn. Dünn wie Spinneweben. Es sind die Nebel, die die Feinheit und Reife der Rebenfrucht machen, denn die Sonne bekommt eine stärkere Gewalt, eine feinere Eindringlichkeit durch sie. Und Philipp sieht ihnen zu und hängt unbestimmten Ge- danken nach. Es ist etwas Bestimmtes in seinem Sinn, dem er beständig ausweicht, das er flieht. Aber es bleibt doch da, Er greift es nur nicht fest an. er umhüllt es weich mit Un» bestinimtheiten. Seine Gedanken schweifen. Er hat so feine Dämmernisse in sich. Es ist ihm wohl dabei. Er hat so viele Ungewißheiten, in denen seine Gefühle sich verlieren können, wie sich ein leichter Hauch in der Höhe verliert. Wie der leichte Hauch in der Hohe hinfährt und immer mehr seine Form verliert und sich schließlich auflöst. Und doch will er es ja eigentlich packen und formen und es auf einen festen Kern bringen. Er ist fremd in der Welt geworden, und er steht allein in ihr. Er sieht keine Grenzen mehr um sich, nicht Zaun und Tor. Sein Sinn geht weiter und nun ist die Unbestimmt- heit schon wieder da er geht über die Berge. Da ist das Blaue, Ungestaltete, das er noch nicht kennt. Er reckt und streckt sich danach. So muß es dem Vogel im Käsig sein, dem Füllen im Pferch. Es ist irgendwoher ein Ton zu ihm gedrungen, ein Ton der Freiheit, ein Ton vom Glück. Den Wandervögeln muß es so sein, wenn der Herbst kommt. Sie wissen von einem Lande, wo Sonne ist und Frühling. Sie ziehen dem Glücke nach und ziehen dem Glücke entgegen. Denn sie brauchen das Glück. Das Glück ist der Sinn des Lebens  , und es ist der Sinn des Menschen. Im Glück sich selbst aufzuschließen, sich selbst kund zu tun. Aber hat er nicht gehört, daß es das Leid ist, das die tieferen Furchen in uns gräbt? Ach, Glück oder Leid, es ist der Mensch selbst, der alles so nimmt, wie er es notwendig hat, Und Glück oder Leid an den äußersten Enden ge- faßt er hat ja weder das eine noch das andere. Er hat nur Gleichgültigkeit. Aber ist nicht das gerade das Unerträg- liche? Ist nicht das gerade das Verächtliche, das er beständig von sich selbst fühlt, das er wie ein häßliches Muttermal mit sich herumschleppt? Seine Frau besorgt die Küche gut und hält die Stuben rein und ist stolz darauf, wie schön und sauber und geordnet es bei ihr ist. Wer kommt, ist des Lobes voll. Der Doktor Kaiser kann sich fein freuen und die Finger lecken der hat eine Frau, wie sie ein Mann braucht. Das sagen die Frauen des Städtchens, und es will was heißen. Die Männer sagen: eine Frau ist immer Lotterie gespielt. Der Doktor Kaiser hat's getroffen. Nicht zu viel und nicht zu wenig gerade recht. Faßt selbst an zu Hause und scheut vor keiner Arbeit zurück und kann sich auch sonst sehen lassen. Nicht schön, aber gesuird. Und das ist viel wert. Nur Kinder scheint sie keine zu kriegen. Nun. desto besser für den Doktor. Und die Leute wissen, wie die Frau Doktor kocht und was sie jeden Tag kocht, und daß der Doktor der glücklichste