als Zeuge eines neuen Wollens. als Prophet eines kommen» den Geschlechtes. Und wie steht es mit der Arbeiter-Wohnung? Ist sie mehr als ein dürstiger Abklatsch dessen, womit der Bourgeois sich mas- kiert? Es entbehrt in der Tat nicht einer herben Komik, dah der Arbeiter zwischen Möbeln wohnt, die durchms ein Spiegelbild der kleinbürgerlichen Instinkte der Zeit nach 1870 find. Wo kommen denn die„schönen" Muschelmöbel, die nutzbaumenen Trumeaus, Bertikos, Paneelbretter, all die besäulten und mit Ornamenten überladenen Ueberslüssigkeiten, die auch in den Wohnungen der Arbeiter stehen, eigentlich her? Es sind die letzten Reste jener ent- arteten Unkultur der G r ü n d e r j a h r e, da die plötzlich zu Geld gekommenen Spietzbürger im Protzentum sich selbst erstickten. Das Bürgertum hat schon begonnen, sich von diesen Zeugen einer üblen Vergangenheit zu befreien. Die Bewegung, die seit Jahren immer weitere Kreise zieht und bereits zu bedeutsamen Erfolgen führte, die Bewegung, für die Künstler, wie van de Velde, Peter Behrens, Bruno Paul , Hermann Muthcsius ihr Können einsetzen, steht blank und hoffnungsvoll da, den schäbigen Resten feiger Geschichtsklrtte- rung Trutz bietend, der Gesinnung und dem Temperament eines neuen, von falscher Pietät gelösten, der W e l t k u l t u r ergebenen Menschen dienend. Und da sollte es nicht an der Zeil sein, daß auch der Arbeiter nun endlich seiner Art und seinem Wesen eine eigene Formcnsprache, eigene Häuser, eigene Möbel findet und schafft, zum mindesten fordert? Wahrlich, die Stunde ist da, daß der Arbeiter im Bewußtsein des ihm zukommenden Einflusses den braven Möbclhändlern, die ihn mit bürgerlichem Abfall speisen wollen, rund heraus sagt: Behaltet euren Kram! wir wollen unsere eigenen Möbel: Möbel, von denen einst die Geschichte sagen soll, daß sie Dokumente der Lebensauffassung und der Energie des zu sich selbst gekommenen Proletariats find. Das also ist dos Problem, darum es sich handelt, wenn daran gegangen werden soll, die Arbeiterwohnung von den zerbröckelnden Resten des sterbenden Spießbürgertums zu befreien und statt dessen sie zu einem Symbol des jungen, gesunden, aufsteigenden Volkes zu machen. Was da im einzelnen zu tun ist, das wird die Diskussion der nächsten Zeit erwägen und feststellen. Vor allem aber wird durch Taten ein Anfang zu machen sein. Muster» Wohnungen müssen zur Aufftellung gelangen, in großem Maßstabe wird die Fabrikation einzusetzen haben, wie das übrigens hier und da, wenn auch nur schüchtern, bereits geschehen ist. »• • Mit'der Propaganda solcher Ideen und Absichten wollte der Berliner Berein von Frauen und Mädchen der Arbeiterklaffe letzte? Tage sein Winterprogramm eröffnen. Leider war ihm als Mentor ein noch sehr jugendlicher und unerfahrener Gelehrter beschieden, der noch nicht gelernt hat, die wirtschaftlichen Wurzeln, die materialistische Basis des ideellen Geschehens zu sehen. ES bleibt nur zu hoffen, daß die Zuhörer sich dadurch nicht irre« machen lassen. Die Sache, um die es sich handelt, ist gut, sie ist es wert, daran Arbeit zu setzen, Robert Breuer. Im Irenen Botamfeben Garten» (Geöffnet: Dienstag, Mittwoch, Freitag, Sonntag von 2 Uhr ab.) Noch zeigt der Kalender Sommer an, und bisweilen scheint es, als ob seine letzten Wochen gut machen wollten, was der Wettergott uns auferlegt hatte. Aber es sch e i n t nur so, denn bisher verliefen alle diese Versuche im Sande oder richtiger ge- sagt: im Regen. Die Schnur der Jahreszeiten hat sich inzwischen wieder ein mächtiges Stück weiter abgewickelt, und das häufig der- dunkelte Licht des Tages fällt über ein verändertes Bild. Das volle saftige Grün des Frühjahres ist nicht mehr, und in den Baum- krönen kommen gelbliche und bräunliche Töne auf. An Blumen freilich fehlt es noch immer nicht. Während sie im Freien aller- dings erheblich nachzulassen beginnen, treten sie in den Gärten und Laubenkolonien w erstaunlicher Fülle aus. Ganze Garben von übermannshohen gelbblühcnden Rudbeckicn(aus Nordamerika ) schießen neben Sonnenblumen in die Höhe, Dahlien blühen in fast allen Farben, Chrysanthemen, Zinnien, Phlox , Tagetes und wie die beliebten Zierpflanzen alle heißen, haben zu ungezählten Tau- senden ihre Blüten entfaltet. Auch im Botanischen Garten bei Dahlem können wir dieses Bild genießen. Auf dem Wege vom Portal zu den Gewächshäusern ist alle? vereinigt, was als gärtnerische Botanik bezeichnet werden kann: Ziergewächse in Blatt und Blüte. Prächtig machen sich dabei die roten Fuchsschwänze unter milderen Farben. Im eigcnt- lichen Garten blüht hier und dort noch manch schönes Gewächs, im allgemeinen aber herrscht die Zeit der Fruchtreise vor; sie gibt uns Anlaß, an den Gewächshäusern vorbei zu der Abteilung der Nutzpflanzen zu schreiten. So manches, was wir sonst nur durch Gaumen und Magen kennen lernen, sehen wir hier noch im Werden und Reifen. Tie Spaliere mit den wunderlich geformten Melonen und Kürbissen fallen uns sogleich aus, aber auch die stattlichen Stauden der Nizinuspflanzen und des Hanfes machen sich bemerkbar. Der Tabak steht in voller Blüte, der Schlafmohn , dessen Samen unser Backwerk ziert, reift seine dicken Kapseln. Neben Salat und Endivien können wir die beliebte Zichorienpflanze in voller Blüte beschauen; wir werden sie dann im Freien, tvo sie an jedem Feldwege wild wächst, um so leichter tviedererkenn«t. Erwähnt seien die reifen Schoten, die der spanische Pfeffer (Paprika) entwickelt hat, und die Tomaten, die hier in überreicher Fülle geradezu an den Stengeln faulen. An einer anderen Stelle bilden Nutzgräser ein Rondell. Bis zu doppelter Mannshöhe ragt der Mais hier auf. Bei dieser Pflanze sind die Geschlechter ge- trennt auf demselben Stamme. An der Spitze reifen in schweren Nehren aus� weiblichen Blüten die großen Maiskörner. Tiefer herab am Stamm sehen wir aus keulig verdickten Blattscheiden große Büschel dünner Fäden heraushängen: die verwelkten Staub- fäden, die ihren Dienst längst getan haben. Hier steht auch die Zuckerhirse, die Durrah oder Mohrenhirse und manches andere sehr stattliche Grasgewächs. Nicht weit von dieser Abteilung kom» men wir zu den Agavengewächsen, die noch im Freien stehen. Die große.AFuve americana, die sogenannte hundertjährige Aloe, von! der wir vor längerer Zeit berichteten, daß sie in Blüte stehe, hat erst jetzt, durch das rauhe Wetter verzögert, ihre gelben Blumen stattlich entwickelt wie ein riesiger Armleuchter. Sie wird ihre Früchte bei uns nicht reifen und vielleicht aus diesem Grunde weiter leben; denn wo sie ihre Früchte reift, stirbt sie ab. Beim Wandern in dem Garten sehen wir manches schöne Bild; so dort, wo an einer sumpfigen Stelle unter einer Silberweide das Kolbenrohr in Menge seine braunen Kolben entwickelt hat. Gehen wir weiter gegen Nord» Westen, so kommen wir in Baumbestände; wir treffen die Weiden , dann die Birken und Erlen in verschiedenen Arten. Schauen wir hier schärfer zu, dann fallen uns bald an diesem, bald an jenen» Baum zahlreiche Kätzchen aust Blüten für das kommende Früh» jähr. Die Schuppen fest aneinandergeschlossen, werden sie den grimmen Winter erwarten, ihn unberührt überdauern und dann ein neues Blütenjahr einleiten. So zeigt auch die Wanderung im Botanischen Garten, wie Tod und Leben untrennbar ineinander greifen._ L. L. Kleines feuilleton* Kunstgewerbe. Riesenglocken. Bei Gelegenheit her Leichenfeier für Eduard VH. von England wurde die Aufmerksamkeit vorübergehend auch auf eine andere große Persönlichkeit gelenkt, nämlich auf eine der grüßten Glocken der Erde, die sogenannte»Big Ben " im West- minsier-Palast. Es hat sicher eine Zeit gegeben, da diese Glocke in Europa überhaript nicht ihresgleichen hatte. Sie hat in der Oeffnung einen Durchmesser von 2% Metern und ist in London selbst gegossen worden. Ihr Gewicht belauft sich auf 13 800 Kilogramm. In dieser und jeder Beziehung etwa» unterlege» ist ihr die Glocke der berühmtesten Kirche von Paris , Notre-Dame ; diese Glocke ist auf den Nanien„Emmanuel" getauft, hat 2,7 Meter Durchmesser und 12 500 Kilogramm Gewicht. In der ftanzöfischen Stadt S e n S gibt es noch eine Glocke, die sogar einen etwas größeren Durchmesser als der„Emmanuel" hat, aber im Ge» wicht ein wenig geringer ist. Man kann sich wohl vorstellen. welch außerordentliche Arbeit es für einen Glockengießer sein muß, eine solche Metallmenge in einem Guß in.die Gestalt einer wohlklingenden Glocke zu verwandeln. Ein Mitarbeiter der Pariser Wochenschrift„Cosmos" erinnert nach alten Berichten daran, daß schon zu einem Guß einer weniger großen Glocke, die sich gleichfalls m der Kirche Notre- Dame befindet, im Jahre 13S6 nicht weniger als 120 Menschen nötig waren. Der damals regierende König ge» nehmigte die Beibringung aller Blasbälge, die in der Hauptstadt zu finden waren. Freilich gab eS damals in ganz Paris nur siebzehn Gießereien. Heute sind solche Umstände freilich nicht mehr nötig, und sogar der„Big Ben " von London hat einen Nebenbuhler er- halten, der ihn sogar besiegt hat. Es ist dies der„Große Paul", der in der Paulskathedrale in London aufgehängt ist: zweifellos die größte Glocke von Großbritannien . Sie wiegt über 17 Tonnen und hat einen Durchmesser von beinahe 3 Meter. Gegossen wurde sie im Jahre 1881 für etwa 70 000 M. Nur wenige Glocken find auf der ganzen Erde zusammenzubringen, die noch größere� Maße und ein noch schwereres Gewicht haben. Da ist zunächst eine Glocke von Olmütz mit mehr als 18 und eine Glocke in Wien mit fast 18 Tonnen Ge- wicht. Alle werden aber übertroffen durch die Riesenglocke der großen Uhr in der ftanzöfischen Stadt Rennes . Diese Glocke hat den Namen„Savoyarde" und ist der Gegenstand vieler begeisterter Schilderungen gewesen. Ihr Gewicht beträgt nicht weniger als 23 Tonnen. Die Angabe dieses Gewichts stammt schon aus dem Jahre 1470, jedoch wurde die Glocke dreizehn Jahre später noch einmal umgegossen und erhielt erst dann ihren jetzigen Namen, nachdem sie zuvor„die große Französin" ge- nannt gewesen war. Es ist übrigens, wie sich begreifen läßt, gar nicht selten vorgekommen, daß die ersten Güsse so großer Glocken mißlangen. Die große Glocke von Amiens beispielsweise mußte dreimal gegossen werden, ehe sie gelang. Das mittlere Gewicht von an- sehnlichen Kirchenglocken schwankt zwischen 0 und S Tonnen; alles was darüber ist, ist zu dem Geschlecht der großen Glocken zu rechnen. Gesundheitspflege. Die Wirkung des Wasserstoffsuperoxyds. Mehr und mehr tritt an die Spitze derjenigen Medikamente, mittels derer durch Gurgeln Mundhöhlen und Rachen von schädlichen Keimen
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27 (10.9.1910) 177
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