mit geschlossenen Augen. Ein Klebriges sasz ihm um den Mund,und er wischte mit dem Handrücken drüber weg.Sein Atem ging fliegend, und seine Schläfen hämmerten wieSchlagwerke. Irgend etwas in der Brust stach ihn, daß er zusammen-zuckte wie unter einem Messer.Er stierte blöde auf seine Hände, und sie waren mit Blutbedeckt.Er wollte nachdenken und konnte keinen Gedanken mehr fest-halten. Vor seinen Augen flimmerte eS, er glaubte zu stürzen. Vonseinen Fügen stieg es aus wie ein Glühstrom, ein Eisgürtel schnürtefeine Brust zusammen, der Angstschiveitz drang aus allen Poren,eine Blutwelle schien über seinem Haupte zusannnenzuschlagen, ergriff in die Luft, taumelte... wankte... und stürzte mit demGesicht vornüber auf den Fahrdanrm.Als Passanten die Uebersührung des Schwerkranke» in eineKlinik bewerkstelligt hatten, lebte er dort noch dreimal vieruudzwanzigStunden. Hochgradige Lungenschwindsucht und Unterernährungstellten die Aerzte als Todesursache fest.Kein Mensch hatte sich nach ihm erkundigt. Die Polizei brachteschließlich heraus, daß er vor einem halben Jahre aus dem Ge-fängnis entlassen worden und wahrscheinlich all die Zeit stellungs-und obdachlos gewesen war.Sein Leichnam wurde der Anatomie überwiesen und seine Lungein Spiritus gesetzt. Sie ist nach dein einstimmigen Urteil aller Sach-verständigen ein Prachtexemplar, das alle erdenklichen Krankheits-erscheinungen in selten schöner Ausbildung zeigt.Drei Doktorarbeiren sind bereits darüber geschrieben, siebenstehen noch aus und ein zwar junger, ober sehr ehrgeiziger Gelehrterrechnet gar einen Umschwung der Heilkunde von diesem unbezahlbarenLungenpräparal an.Man gedent, den ehemaligen Besitzer dieser Lunge wegen seinerVerdienste um die Menschheit noch nachträglich zu rehabilitieren._ A. Chr. Graf.'Cbeobalda Großvater.i.Der Absolutismus des heute herrschenden Kaisertums hebt dasbißchen deutsche Verfassung auch darin auf, daß er dem einzigenformell verantwortlichen Beamten des Reiches nicht gestattet, einePersönlichkeit zu sein. Deutschland wird gegenwärtig von einemReichskanzler regiert, von dessen Vergangenheit, Gegenwart undZukunft man nicht das mindeste weiß. Weil man den sogar demKonversationslexikon erst seit den Supplement-Bänden von 191l>bekannt gewordenen Herrn v. Bethmann Hollweg ebensowenigkennt wie die Philosophie, hält man ihn selbst für einenPhilosophen; und weil er unfähig ist, sich im Wogenprall derOeffentlichkeit zu behaupten, wird er für vornehm erklärt. Diekaiserliche Persönlichkeit heischt, allein zu reden und zu wirken;deshalb muß sein Kanzler schtveigen und sich jeden menschlichenWesens entleeren. So ist der deutsche Reichskanzler schon vor derMitwelt ein wesenloser Mythus, und wem daran liegt, zu er-forschen, was für ein Kern in der Hülle stecken möge, der mußschon den Umweg geschichtlicher Forschung wählen.Ter heutige Bethmann gibt kein Material zu seiner Er-gründung. Erst das biologische Gesetz der Vererbung läßt von demToten auf den Lebenden schließen. Für die Vererbung des Wesensvom Großvater auf den Enkel bietet der heutige Bethmann einprächtiges Beispiel: Der unfaßbare, verschwimmende Enkel wirdkörperlich, wenn man seinen Großvater studiert. Der KanzlerWilhelms II. ist ein Beispiel zugleich der Vererbung und der Er-schöpfung großväterlicher Eigenschaften. Inhalt und Form ist ge-blieben, aber was bei dem Vorfahren nocn eine gewisse Kraft undFrische, Zielwillen und Festigkeit besaß, ist bei dem kümmerlichenNachkommen schattenhaft, ängstlich, verblaßt und zur Karikatureiner Karikatur geworden.Aus den Unbestimmtheiten des heutigen Kanzlers setzt sichschnell der einzige bestimmte Eindruck zusammen: kein Staats-mann und auch kein Mensch, sondern nur ein„Professor desKönigs"! Aber ein Professor des Königs ohne Wissenschaft, selbstohne Gelehrsamkeit. Bethmann Hollweg. der Enkel, schillert nur,was sein Großvater war; er ist nur ein altgewordener Privat-dozent des Königs, den man wegen seiner Mittel und wegen seinerFamilie zugelassen hat, dagegen war sein Großvater ein wirklicherProfessor; zwar von jener verstockten, dumpfen, stickigen Art despreußischen Hofgelehrten, ein übler Scholastiker der besondernpreußischen Dialektik, doch immerhin ein Gelehrter von Wissenund Kaliber und ein Politiker von einem gewissen pedantischenEigensinn, der dem Oberflächlichen fast wie ein Charakter er-scheinen konnte. Im übrigen ist es ein nicht unlustiges Spiel, inden verwischten Zügen des Enkels eine fast lächerliche Ähnlichkeitmit jenem Moritz August v. Bethmann Hollwcg aufzuspüren, derin der Zeit der preußischen Gegenrevolution die Fahne der„ge-sundcn Reaktion" schwang; der sich umsonst bemühte, das König-tum Wilhelms IV. vor der feudalen Wut der Gcrlach-Kamarillazu retten; und der vielleicht seinen Enkel gerade dadurch demGroßneffen seines Königs empfahl, daß er ein Gegner Bismarcksgewesen und als letzte politische Kundgebung im Juli 13L6 Wil-heim I. schrieb, er müsse zur Gewinnung ösfentlichen VertrauensKtSmcuck entlasse«ir.Moritz August v. Bethmann war als Schüler Savignh» einLehrer jener„historischen Rechtsschule", die in ihrer gelehrten An»dacht vor der Rechtsschöpfungskraft der Vergangenheit und derLeugnung zeitgenössischer Jurisprudenz von allen afierwissenschaft-lichea Formeln losgelöst, nichts weiter bedeutet, wie die dogmatischverkleidete Gegenrevolution, die jede Aenderung des Bestehenden»von elendem Flickwerk abgesehen, bekämpft. Als die Stürme desJahres 1848 über seinen historisch denkenden Kopf fegten, ergab ersich„liberaler" Frömmelei im Geiste seines Freundes, des preußi-schen Kultusministers Eichhorn, der nach den Märztagcn den Trost-spruch niederschrieb:„Es wird ein anderer Geist kommen....nicht menschlichen, sondern göttlichsten Ursprungs, wird er die iwSelbstsucht Versunkenen wieder aufrichten, die Gedanken desEwigen loiedcr in ihnen erwecken und im segnenden Walten neuesLeben zur Blüte und Frucht fördern. Ich kann sagen, daß ichimitten im Brausen der Gegenwart das Wehen dieses Geistes schonfühle."— Das Wehen dieses Geistes hieß— Wrangel!Bethmann tröstete sich 1840 durch Einberufung einer Kirchen»Bethmann tröstetet sich 1350 durch Einberufung einer Kirchen-Versammlung nach Wittenberg und durch Einrichtung der„innerenMission". In der Ersten Kannner stand er anfangs auf denäußersten Rechten, nächst Stahl, dem Philosophie- und System-juden des preußischen Junkertums. Dann kam es zum Bruch mitden Männern der„Kreuzzeitung", mit den Gerlach, Bismarck,Westfalen(dem Schwager von Karl Marx). Er wurde in disZweite Kammer gewählt, als Führer der neuen Partei BethmanrrHollwcg, deren Organ das„Preußische Wochenblatt" war. 1855verlor er sein Mandat und verschwand aus dem politischen Leben;gerade in dieser Zeit fand sein Sohn den Mut, Theobald zu zeugen,der im Herbst 1856 auf die Welt kam. Erst mit der RegentschaftWilhelm I. taucht er wieder auf. Im November 1858 wird erKultusminister und bleibt es bis zum Ministerium Bismarck 1862.Er war der Minister der„neuen Aera", die darum ewig neu war,weil sie wieder einmal alle liberalen Illusionen zerstörte. AlsMinister strebte er nach„Befestigung des christliche Charakters derVollsschulc". Sein einziger fruchtbarer Versuch eines Fortschritts,die Einführung der fakultativen Zivilehe, scheiterte am Widerstanddes Herrenhauses. Seine politische Bedeutung aber beruht aus-schließlich in den früheren Kämpfen mit der FeudatkaimrrillaFriedrich Wilhelms IV., deren Geschichte unlängst in einem mitdoktoralen �Gebärden Aeußerungcn zerfaserndem BuchDr. Walter Schmidt geschrieben hat t„Die Partei Bethmann Holl-weg und die Reaktion in Preußen 1856 bis 1858." Berlin 1916.Alexander Duncker Verlag.)III.Schon im Jahre 1845 wurde Bethmann Hollweg als Nach-folger Eichhorns im Kultusministerium genannt:„Auch ein Ser-viler, ein Frömmler, ein Duckmäuser", schrieb bei dieser RachrichdVarnhagen v. Ense. Zu der Wittenberger Tagung, im Herbst 1848,bemerkte derselbe Varnhagen, daß diese protestantischen Fanatikerund Jesuiten in jetziger Zeit weniger gefährlich seien,„doch mußman auf Schelmenstreiche gefaßt sein und die Burschen im Augebehalten". In der Reaktionszeit warb Bethmann mit heißem Be-mühen um das Vertrauen des Königs, das immer wieder von derKamarilla unterwühlt wurde. Aber er bewährte schon in dieserZeit die Fähigkeit, ein preußisches Mimstergeschlecht zu erzeugen,durch die Geduld, sich stumm vor Potentaten anschreien zu lassen.Von dieser Kunst erzählt Varnhagen unter dem 36. Noveinber 1851:„Der König hat am Freitag die sämtlichen Kammermitglieder zurWirtstafel eingeladen; er schrie wütend den Herrn v. BethmannHollweg an, sprach von seiner Gnade, die man erwerben solle, vonseiner Ungnade, die man verdiene. Bethmann Hollweg sah denKönig an und erwiderte nichts." Ein paar Tage darauf, heißt eSin den Tagebüchern VarnhagenS:„Bethmann Hollweg und seineGenossen haben dem König ihre Unterwürfigkeit, ihre guten Ge-sinnungen dargelegt; er hat sie zu Gnaden angenommen; wenn esso gemeint sei, so habe er nichts wider sie, sie möchten nur fort-fahren, gute Untertanen zu sein." Bisweilen tauchen bei Varn-Hägen für den Kämpfer gegen die Kamarilla leise Sympathien ausiaber er sieht doch immer wieder auf den Grund seines Charakters.u einer Kammerredc bemerkt er am 27. April 1854:„Bethmannollweg geht jämmerlich zurück und glaubt gegen die Scheußlichkeitdes Straßennnfugs im Jahre 1848 zu Berlin reden zu müssen."Und ein Jahr später findet er die glänzend charakterisierende Wen»dung, die so gut auf den Enkel paßt:„Ein schüchterner Intrigant!"Ein ihm tvohlwollender Franzose Adolphe de Circourt, der in«Jahre 1848 im Auftrage der französischen Regierung Deutschland!bereiste— seine Auszeichnungen sind im vorigen Jahre veröffent-licht worden—, fällt das Urteil:„In der Politik stießen die Nei-gnngen Bethmann Hollwegs, die weniger vernünftig waren als seineMeinungen, ihn von der Erbaristokratie zurück, und hielten ihn inunermeßlichem Abstand von der kämpfenden Demcgogie." Er habefür den preußischen Staat etwas ähnliches wie die englische Per»sassung erreichen wollen. Niemals habe er einen so grundsätzlichenGegner des römisch-katholischen Systems gesehen:„Er betrachtetedie Päpste vom achten bis zum achtzehnten Jahrhundert als dieVerkörperung des schlechten Geistes Deutschlands." Das ist dieEntwickelung vom Großvater zum Enkel: mit seinem gespreiztenTiefsinn, seiner gelehrten Tünche, seinem Widerwillen gegen die�Demagogie" hqt der schüchterne Intrigant von heute, her sicher