Unterhaltungsölatt des Nr. 192. Sonnabend, den 1. Oktober. 1910 62] (Nachdruck e erdeten.) Der Entgleiste. Von Wilhelm Holzamer  . 8. L6pine. der Polizeipräfekt herrschte über Paris  . Cr stürmte die Arbeiterbörse. Die Schutzleute, den Parisern so- wieso schon verhaßt, benahmen sich so brutal, wie es nur unter den duldenden Augen eines solchen Chefs möglich ist. Die Alg6rienne war wütend. Man müßte sich an die Spitze der Arbeiter stellen, beißen, kratzen, töten," sagte sie.Die Männer anfeuern, sich hin» geben für einen Dolchstoß! Ah wie es in mir zittert! Töten könnt ich ihn, diesen Tyrannen!" Philipp war es ein Genuß, sie so zu sehen: sie war ganz Bestie. Sie bog und krümmte sich, sie fletschte die Zähne, und das Weiße ihrer Augen wurde rot unterlaufen. Er hätte sie gar zu gerne noch weiter gereizt, aber er wußte nicht, wie anfangen. Plötzlich sagte sie:Wir gehen hin!" Im ersten Augenblick erschrak er. Du hast Furcht?" fragte sie höhnisch. Sie gingen die Rue St. Denis hinunter und gingen die Boulevards entlang bis zum Place de la Nation. Hier war alles mit Schutzleuten besetzt, alle Aus- und Zugänge, die Straßenübergänge und der Bürgersteig. Man konnte keine zehn Schritte gehen, ohne daß man von den Polizisten einen Stoß erhalten hatte. Beständig schrieen sie einem das Weitergehen! Weitergehen!" in die Ohren, ohne daß man stehen geblieben wäre. Philipp hatte seine liebe Not, daß die Algärienne keinem an die Gurgel fuhr. Sie sagte beständig: Wenn ich einen Dolch hätte! Zu Hause bei uns" Ter kleine Herr Läpine dirigierte seine Banden. Die Offiziere machten sich geschäftig. Aus der Börse kanten Arbeiter. Sofort fielen Polizisten über sie her, engten sie ein und trieben einige zurück, andere vor sich her. Herr Läpine schmunzelte. Man führte Arretierte in die Kaserne am Place de la Nation. Die Angestellten des roten Kreuzes sprangen herbei und halfen Vernnmdete transportieren, Mitglieder der Heils- armee traten in Tätigkeit. Militär rückte an, berittene Schutz- leute lösten einander ab. Passanten liefen eilig nach den Seitenstraßen und flohen in die Häusereingänge. Die Poli- giften ihnen nach,Fäuste und Füße voraus", wie der Pariser  treffend karrikierend sagt. Der erste, der mich anrühren wird!" sagte die AI- ß6rienne. Philipp hatte nun keine Angst mehr, die Sensation, der er sich hingab, war zu stark.. Sie waren in einen Knäuel eingeschlossen, der von Schutz- leuten umringt War. Der erste" zischte beständig die Algerien   ne. Da hörte Philipp deutsch reden neben sich. Mirim nahm ihn am Arm. Kommen Sie, Doktörchen," sagte er,es hat keinen Zweck. Und Sie sind bestimmt nicht angemeldet. Kommen Sie! Und das ist die Meine? Wo haben Sie denn diese wilde Katze aufgegabelt? Kreuz, Gewitter, ist das ein Raub- tier!" Er zeigte den Schutzleuten seine Karte und konnte passieren. Als sie in Sicherheit waren, fauchte die Algsrienne: Warum sind wir nicht drin geblieben? Ich hätte einem Schutzmann mit meiner Hutnadel die Kehle durchgestochen. Dem ersten, der mich angerührt hätte!" Es wäre nicht klug gewesen von Ihnen, Madame," sagte Mirim. Sic maß ihn von oben bis unten. Feigling!" zischte sie.Komm," sagte sie zu Philipp, gehen wir!" Philipp wollte sich bei Mirim entschuldigen. Aber gehen Sie, Döktörchen, ich kenne das. Das ist Temperament. Und diese scheint eine Algierin zu sein. Böse Rasse. Die reinsten Bestien. Geben Sie Acht, die beißt Ihnen die Gurgel ab, als wär's ein Butterbrot. Ich freue mich nur, Sie in Sicherheit zu wissen." Mirim ging nach dem nächsten Telegraphenamt. Die Algärienne stand vor einem Ladenspiegel und ordnete ihr Haar. Du bist auch ein Feigling," empfing sie Philipp.So heulen bei uns die Schakale, wie der gesprochen hat. Ist das eine Sprache? Das ist Geheul. Oh, meine Ohren." Es ist meine Muttersprache," verwies sie Philipp streng. Deine Muttersprache! Du brauchst nicht stolz auf sie zu sein. Sprecht Ihr sie auch, wenn Ihr liebt?" Aber natürlich und sie ist schön in der Liebe!" Oh, meine Ohren, oh, meine Ohren!" rief sie, hielt sich die Ohren zu und lief ein paar Schritte davon. Ein paar Leute, die sie sahen, lachten. Sie war ganz Kind und Philipp freute sich und lachte ebenfalls. Zu Hause überlegte sich Philipp die Vorgänge der letzten Tage. Der Polizeipräfekt hatte heute zum zweiten Male seine bestialischen Horden stürmen lassen. Blut war in der Ar- beiterbörse geflossen. Die Abendblätter werden ausgerufen. Sie enthalten detaillierte Erzählungen. Sie enthalten in Sperrdruck die Mitteilung, daß die Polizisten das Blut, das sie auf der Treppe der Arbeiterbörse vergossen, selbst abgewaschen haben. Sie enthalten Läpines Erklärungsschreiben an den Minister, tausend Entschuldigungen, und alles eine Anklage. Der erste Versuch war Philipp nicht gelungen, man hatte ihm seine Berichte zurückgeschickt. Aber jetzt ist er nickst ent- mutigt. Er hat das Gefühl, einen großen Moment miterlebt zu haben, einen historischen Moment, in dem der Puls der Entwicklung deutlicher geschlagen und die Psychologie des Werdens sichtbar geworden. Die Algärienne versteht davon nichts sie liest die Skandalgeschichten in der Zeitung. Dann entkleidet sie sich und tanzt. Sie tanzt wunderbar. Aber Philipp sieht ihr ruhig zu, ohne hingerissen zu werden. Es ist etwas anderes stärker in ihnr Er nimmt Feder und Papier und schreibt:Die Polizeischlacht". Die Algörienne tanzt. Er läßt sich nicht von seiner Arbeit abbringen. Schließlich fällt sie über ihn her, kratzt und beißt. Er rauft mit ihr. Sie zischt und röchelt. Er packt sie und zwingt sie auf das Bett nieder. Er hält sie fest ihre Augenlider gehen hoch, und ein Leuchten liegt auf ihrem Antlitz, in dem sich alle Wildheit und alle Instinkte zu einem Ausdruck sammeln: zu einem furchtbaren, gellenden, verzerrten Lachen. Sie umschlingt ihn wie eine Schlange, sie beißt ihm in die Lippen, sie kratzt ihm in die Wangen   und sie lacht dabei ein grausames, jubeln- des Lachen, wie ein Geierschrei, wie ein Schakalgeheul, wie ein heiseres, gieriges Brüllen. Aber dann nimmt er sie mit einem festen Griff und löst sie von sich und bettet ihren nackten Körper sanft und leise in die Kissen. Sie ist matt und folg- sam wie ein 5bind. Dann setzt er sich hin und schreibt se�p Bericht weiter: Es gehen Geister um, die Geister der Toten, die immer lebendig sind, die Polizisten haben in der Arbeiterbörse das Blut abgewaschen, das sie da vergossen haben, aber Blut läßt sich nicht abwaschen. Es ist ein dumpfes Murmeln, das von unten tönt manchmal nur wird es lauter und klingt herauf als alter Freiheitssang, als die Internationale, als Schwur der Rache und des Hasses, als Forderung des Rechtes und der Gesang, wie oft man ihn bei anderen Gelegenheiten auch gehört haben mag, heute schneidet er schärfer durch die Lust, heute ist ein anderes in ihm, das ist dumpf bald und unter- drückt, bald kreischend und ohnmächtig knirschend, bald ist es wahnwitziger Schrei.Direkte Aktion  " ruft es und eine leise, leise Stimme der Mäßigung schwebt darüber, leise, leise. Wehe, wenn sie nicht mehr gehört wird'Pfui, L6pine!" ruft es, undMörder, Mörder!" und es ist eine ver­zweifelte Ohnmacht darin, die sich schon zur Macht auswachscn