Nnterhaltmgsblatt des vorwärts Nr. 193. Diensteid den 4. Oktober. 1910 lSwchdruik verboten.! 63] Der Entgleiste. Won Wilhelm Holzamer . 9. Mirim hatte eine Karte geschrieben:Im Thsatre dhätelet Tänzerin, Statisten und Claqueure nötig! Stellen Sie sich vor. Zur Claque brauchen Sie große Hände, zum Statisten Dummheit, und die Tänzerin muß tanzen, aber auch nackt sein können. Letzteres unbedingt. Ihr Mirim." Seine Adresse hatte der schlaue Mirim nicht gegeben. Philipp war im Zweifel, was er tun sollte. Ihm war, er könne die Algärienne nun wirklich tanzen lassen. Mer sie würde sich ja nicVt fügen. Es würde doch zu nichts führen. Er sprach mit ihr, erklärte ihr, daß hier ihre Kunst eine Zukunft haben, daß sie ein Stern am Pariser Theaterhimmel eine gefeierte Tänzerin werden könne. Ich will frei sein." erwiderte sie ihm auf alle seine Vor- stellungen. Aber er ruhte nicht. .Du hast kein Geld mehr?" fragte sie. Nein wir sind sehr abgebrannt." Und wenn wir vor Hunger sterben, ich tanze da nicht. Wenn ich tanze, will ich tanzen, was ich will. Ganz allein, was ich will. Was bekomm ich für ein Kostüm an?" Du wirst schön sein, blinken, glänzen eine orienta­lische Prinzessin Samt und Seide Königin der Feen Du wirst die Herrlichste von allen sein eine Königin eine wahrhafte Königin" Sie sah ihn mit einem lauernden Blick an. Du willst mich los sein?" Er verteidigte sich. Du wirst mich nicht los werden," sagte sie.Eber töte ich Dich. Ich werde Dich mit meinen Zähnen zerreißen mit meinen Händen ich werde Dir einen Dolch ins Herz stoßen." Sie suchte in ihren Sachen und holte einen kleinen scharfen Dolch hervor. Der ist vergiftet." zeigte sie ihm.Ich habe ihn von einem Araber im Bazar zu Algier gekauft. Man braucht nur die Haut zu ritzen, so wirkt das Gift. Und Dir stoße ich ihn mitten ins Herz hinein!" Tu das, bitte!" erwiderte er ruhig und gelassen. Da warf sie den Dolch von sich und fiel ihm um den Hals. Nie nie, daß ich das tue! Wenn ich Dich töten will, töte ich Dich mit meinen Zähnen. Mit meinen Fingern" und sie griff ihm an die Kehle.Dann trinke ich Dir daS Blut aus dem Munde, aus den Adern so töte ich Dich. Aber Du willst mich nicht los werden!" Sie küßte ihn und sang ein Liedchen aus ihrer Heimat, das eine säMeiumitige, eintönige Melodie und einen schleppen- den traurigen Rhythmus hatte. Plötzlich sprang sie auf, knallte mit den Fingern, schlug in die Hände und sang einen anderen Rhythmus, aufregend und drängend, und sie tanzte dazu. Sie tanzte einen unmöglichen, barbarischen Tanz aber als sie den Gesang fallen ließ, wurden ihre Bewegungen ruhiger und gemessener, und sie wand sich in weichen, schlan- genglatten Windungen, geschmeidig wie eine Katze und leicht wie eine Feder, bald auf der Stelle, bald im Kreise, ent- zückend und verzückt. Sie hielt inne und sagte: Komm, wir wollen ins Chlltelet gehen, ich will denen zeigen, was ich kann." So fuhren sie zum Chbtelet hin. In Taormina war ein Brief von Werk angekommen: Doktor Kaisers Ehe ist nun geschieden. Er hat den Ehe- bruch mit seinem Zusammenleben mit einer algerischen Tön- zerin in Paris begründet und auf dem Konsulat ein ent- sprechendes Protokoll aufnehmen lassen. Er wollte wohl alle Brücken hinter sich abbrechen. Näheres weiß ich von ihm nicht, er schweigt. Manchmal steh ich auf der Burg oben und grüße nach Frankreich zu und meine auch, ich müßte es den Wolken sagen können, daß sie ihn grüßen, und daß er doch wieder ein Lebenszeichen ion sich geben möchte. Ich bin sehr bange um ihn. Ob er die algerische Tänzerin nur vorgeschoben hat, oder ob er ihr wirklich verfallen ist? Ob Sie nicht nach Paris reisen sollten?! Vielleicht hätte er Ihre Hand nötig. Ich bange sehr um ihn. Hier wird es von ihm still. Ein paar Kläffer, die noch gegen ihn bellen. Professor Winter, der Direktor der psychia- trischen Klinik, soll noch an ihm festgehalten haben. Aber nun! hat sich eine Kamarilla in Darmstadt gebildet, die jede Ver. Wendung im hessischen Staatsdienste früher oder später verhüten will. Sogar der sonst so vorurteilslose Großherzog soll schon gegen ihn gewonnen sein. Professor Winter ist sehr aufgebracht. Tie kleinen Menschen, die die Fürsten be» raten! Es ist gut, daß das Pulver schon erfunden ist. Mir geht's diesen Herbst nicht gut. Da ich ja aber s» wieso nichts als ein Kadaver bin, so hat das nickst viel auf sich. Der Wald hat etwas Seltsames dieses Jahr: er will nicht sterben! Nicht nur die Eichen, auch die Buchen haben noch das braune Laub. Nur die Birken sind kahl. Aber daS Feld ist ganz weit und leer. Und manchmal mauern es die Nebel zu. Ich, grüße auch nach Italien , zu Unen hinunter, un8 e, das hoffe, daß es Ihnen gut geht." Melanie mußte sich erst wieder zu sich selbst finden, nach» dem sie diesen Brief gelesen hatte. Und das dauerte Tage« Gewiß war auch ihr Gefühl, nach Paris zu reisen und nach dem Rechten zu sehen. Sie wollte ihm gerne die Hand reichen« wenn er sie nötig hatte. Und Weik hatte recht, vielleicht hatte er sie nötig. Aber übte sie damit nicht einen Zwang auf ihm aus? Verpflichtete sie ihn damit nicht? Und dann auch; im Grunde war doch seine Ehe ihretwegen geschieden worden« war es nicht unfein, jetzt gleich zu ihm zu gehen? Mußte sie damit nicht den Schein der Schuld auf sich laden? Sie fürchtete Schuld nicht, aber andererseits wollte sie auch denen nickst recht geben, die Steine auf sie geivorfen hatten. Und ein gewisses Zartgefühl sagte ihr, daß sie seiner geschiedenen Frau wegen nun nicht zu ihm kommen könnte. Ueberdies wußte sie ja nickst, ob er sie wünschte. Viele Briefe waren ihr von Paris aus zugekommen, von ihm war keiner dabei gewesen. Vielleicht hatte er, da er sich ins Leben gewagt, ein anderes Boot gewählt, in die Weite zu segeln. Sie war ihm doch vielleicht zu gering und gebrechlich er» schienen, sie hatte vielleicht nicht nachhaltig genug auf ihn ge, wirkt. Er hattp vielleicht gefunden, was er brauchte, ein« zwingende, heiße Gewalt. Der Gedanke tat ihr doch weh und fast fühlte sie etwaS wie Eifersucht sich regen. Aber nein, es war nur Schmerz« der Schmerz, der nur noch bitterer war in ihrem Gesunden« das ihr das Leben voller und freier auftat. Nun ging es ihr ein wenig wie Mignon Götterbilder standen um sie Götterbilder des Lebens und schauten sie an:Was hat nmn Dir, Du armes Kind, getan?" Sie beherrschte sich. Nur manchmal weinte ihre Geige. Denn sie hatte nun angefangen, sie wieder zu spielen. Ihre Kräfte reichten nun schon zu längeren Uebungen. Sollte ihr in ihm die Erfüllung des Lebens bestimmt sein, so wollte sie warten und harren, aber auch leiden und dulden« opfern und ihm verzeihen. Und müßte sie verzichten, wollte sie nicht verzagen, sie wollte ein Gedenken in der Seele be- halten von einem Knospentraum, der verschwiegen und uner- schlössen»var, gehüllt in die w«ick)e Wonne eines unbewußten Erstrebens, erfüllt von dem seligen Trieb einer verstehenden Zusammengehörigkeit. Sollte das ihre Wunde werden müssen fürs Leben, sie wollte sie zu der Kraft einer Ucberwindung wandeln, aus der Verklärung strömt, zu einer geheimen Macht. die an die Herzen rührt und an die verstecktesten Riegel, sitz zu rücken. Aber wenn ihr das Leben geschenkt wäre durch ihltz und mit ihm? Nein, als ein Geschenk wollte sie es nickst, sie wollte es verdient haben. Sie müßten einander errungen haben, um sich besitzen zu können, um einander wert behalten zu können. Er auf feiste Art, sie auf ihre Art, er in den Gefahren des Großstadtlebens, sie in der Stille nick» Zurückgezogenheit. Nein, es wäre falsch und verfrüht, jetzt hinzugehen und ihm die Hand zu reichen, es wäre gewaltsam. Es würde ihn wieder unfrei machen, Sie war sich klar, wie ihr Herz zu