Nnterhaltungsblatt des vorwärts Nr. 194. Mittwoch, den 5. Oktober. 1910 <Nachdrue perdote» 641 Der entglelfte. Von Wilhelm H o I z a m e r. Der Kellner betrachtete sie etwas von der Seite. Sie sahen nicht allzu vertrauenerweckend aus. Philipp erwischte den Blick und sah an sich hinab. Nun hatte er es also schon an sich, das gewisse Etwas, das einen ein paar Stufen tiefer stellt im Leben. Wie bei den Zigarren es sind kleine, für das ungeübte Auge kaum merkliche Fehler an ihnen, aber sie kommen zum Ausschutz. Er war A u s s ch u tz geworden. Wie das rasch gegangen war! Es war beständig dieser eine Blick des Kellners, der auf ihm lag, und er lag als etwas Furchtbares auf ihm. Die Algörienne hatte bereits mit dem Kellner ver- handelt. Sie hatte ihn an den Direktor des Ch�telet ver- wiesen. Ich binCalacalla"," sagte sie. Der Oberkellner kam und brachte eine Anweisung zur Unterschrift. Sie kritzelteCalacalla" darunter. Ter Kellner verschwand, eine höfliche Verbeugung, ein ldiskreter Blick auf Philipp lautlos ging er hinaus. Nach einer Weile kam er wieder und brachte die zwei Gedecke. Kein Wort mehr nur wieder einen leise lächeln» den, sehr zuvorkommenden, sehr diskreten Seitenblick auf Philipp. Es lag ein Verständnis in diesem Blick, überlegen und teilnahmsvoll, und das war Philipp noch furchtbarer als dev herabsetzende Zweifel, der sich zuerst in des Kellners Augen ausgesprochen hatte. Sie speisten sehr fein und tranken Champagner, aber Philipp konnte nicht froh werden. Wir mieten eins andere Wohnung, wir leben nun fein, mein Kleiner," sagte die Algsrienne. Wie ihm das widerlich war! Ich bleibe in meiner Wohnung," antwortete er ihr. Du mutzt freilich eine feinere haben." Sie umfaßte den Griff ihres Messers. Du willst mich verlassen? Gut, ich tanze nicht. Mutz ich tanzen? Ich tanze nicht! Du hast mich hierhergebracht. um mich zu verlassen? Ick) werde Dich töten, wenn Du mich verlassen willst." Da ging er auf alle ihre Vorschläge ein, baute Luft» schlösser mit ihr: eine feine Wohnung, nahe beim Parc Monceau , ein Automobil, Diener, schöne Kostüme von Paquin oder Doucet, schöne Möbel von Waring und Gillow, und was sie ganz besonders wünschte: ein Löwenfell, ein Tigerfell und ein Pantherfell. Und einen Betthimmel aus blauer Seide, und Dolche und Flinten und Krummsäbel an den Wänden. Und ein großes Näucherbecken. Vor allem aber ein Kleid aus knallroter Seide und einen Hut mit großen Strautzfedern. Sie stand auf und schritt durch den Saal, als trage sie schon das rote Seidenkleid und den großen Hut mit den wallenden Strautzfedern. Und als sie zurückkam, brannten ihre Augen, und ihre Lippen waren leuchtend rot und konnten die weißen Raub- tierzäh ne nicht mehr decken. Ich könnte Dich morden," flüsterte sie mit ihrer heiseren grausamen Stimme. Ihm war alles so unsagbar überdrüssig, daß er ihr aus Ueberzeugung entgegnete: Tu es, bitte, tu es!" Sie preßte ihm heimlich die Hand, dann lachte sie. Den Rest des Tages verbrachten sie in einem Caf6 der großen Boulevards, wo eine Zigeunerkapelle spielte. Ob sie beide müde waren? Sie sapen aneinander vorbei und blickten teilnahmslos in das wechselnde Leben, das sich an ihnen vorbeiwälzte. Schließlich sagte die Algöricnne: Du langweilst mich.. Komm, gehen wir nach Hause. Ich werde also nicht tanzen, wenn Du mich langweilst." Sie stiegen den Montmartre hinauf. Die Algckrienne summte eine Melodie vor sich hin, eintönig, gezogene Klängl und Mitzklänge. Philipp blieb stumm. Wollen wir noch in denCyriano" gehen?" fragte dl« Algßrienne, als sie auf dem Place Blanche standen. Nein," sagte Philipp bestimmt. Nein?" fragte sie.Wie nein? Ich will!" Ich will nicht!" Du mutzt, wenn ich will!" Ich will nicht!" Damit ging er seines Weges weiter, nach dem Hippodrotfl zu. Sie ging nach demCyrano". Er drehte sich nicht um« er ging seinen gewohnten Gang weiter. Vor Aufregung riß er sich den Bart. Plötzlich fühlte er sich umschlungen und dann einen schmerzenden Biß in der rechten Wange. Er zuckte nicht, er sah sie nur groß und hart an. Sio krümmte sich ein wenig unter seinem Blick, dann ging sie willig neben ihm her wie ein Hündlein. Er sah nicht zu ihr hin, er sah nur mit hartem, schwerem, finsterem Blick gerade- aus. Das Blut ließ er von der Wange rinnen, ohne es ab- zutupfen. Auf der Brücke über den Montmartre-Friedhof begegnet« ihnen der große Heinrich Willibald. Doktor, wie sehen Sie denn aus? Gelt, die Katzett hatten Sie am Schlafittchen? Das ganze Gesicht verschamme- riert. Steht Ihnen gut." Stünde auch Ihnen gut," entgegnete Philipp.Lasse« Sie mich in Ruhe!" Er ging weiter. Der große Heinrich Willibald blieb auf der Brücke stehen und lachte, daß es schallte. So ein Bauer," sagte er,kommt nach Paris , um sich das Gesicht verkratzen zu lassen, so ein Esel!" Dann stolperte er weiter und knurrte vor sich hin. Philipp und die Algckrienne sprachen an diesem Abend nichts mehr miteinander. Die Algckrienne war geduckt, aber Philipp war auf seiner Hut, es konnte nach Katzenart zum Sprung sein. 11. An allen Plakatsäulen war das Bild der Algckrienne, wie sie ihren Nationaltanz tanzte.Angdle Beya, genannt Calacalla, die eigenartigste Tänzerin, die größte Tänzerin der Gegenwart ein neues Tanzgenie eine Tänzerin aus Tausend und eine Nacht" und in diesen und ähnlichen Ausdrücken ergingen sich die Zeitungen, brachten ganze Feuilletons, Interviews, seitcngroße Annoncen, illustrierte Extrablätter, die die Direktion des Chcktelet auf den Straßen verteilen ließ. Hier betrieb man eifrigst amerikanische Reklame, und die Pariser Journalisten ließen sich gerne und gut bezahlen. Es wurde ihnen diesmal leichter als gewöhn- lich, Lobeshymnen zu singen, denn Angöle Beya, die wunder- bare Algckrienne, war tvirklich ein Wunder für sie. Die ganze Lcbewelt von Paris lag ihr zu Füßen. Allabendlich sichelte ihr das Publikum zu. Agenten umlagerten sie für die Ambassadeurs, den Alcazar, für Marigny sollte sie Sommer- verträge eingehen. Sie schlug alles aus.Ich hasse Verträge," sagte sie. Man wollte ihr alle Freiheiten lassen, alle Konzessionen machen, die sie nur fordern würde. Sie schlug es aus. Für sie blieb das Auftreten im Chcktclet eine Zufälligkeit, eine Laune, eine Episode, ein Amüsement, je nachdem sie selbst in der Stimmung war, aber kein Beruf, vor allem keine Pflicht. Sie verachtete die Menschen, sie verachtete das Publikum, daS ihr zujubelte. Nur manchmal stieg ihr etwas in der Brust zum Herzen: ein Behagen, ein wildes Wohlsein, em Machtgefühl und sie zog ihren breiten Mund zum Lächeln, und die weißen Zähne fletschten zwischen den roten Lippen hervor. Dann gab es einige im Publikum, die in rasendes Entzücken ausbrachen, andere, die stille wurden, weil ihnen bangte. Es gibt Männer, die dem Weibe gegenüber die Tierbändiger- natur in sich lebendig fühlen es gibt solche, die spüren, daß sie Opfer werden würden, eine sichere Beute. Es liegt in beidem eine Wollust die eine tobt, die andere schweigt. In diese beiden Lager war stillschweigend die Lebemännerwelt gespalten, die allabendlich der Beya zuliebe das Chlltelet be- suchte. Vor dein Portal hielten die Wagen und Automobile'