Mnterhallungsblatl des Horwärls Nr. 195. Donnerstag, den 6. Oktober. 1910 (Nachdruck tzerbolen.1 6S1 Der Entgleiste. ' Von Wilhelm Holzamee. Zieh Du allern in eine feine Wohnung, kaufe Dir Möbel, richte Dich ein! Es ist nun notwendig für Dich, Du bist eine Pariser Größe geworden." Es bohrte und bohrte. Du möchtest wohl hier verhungern?" fragte sie. Wieso?,, Nun, ich habe doch Ueberfluß Du willst wohl meinen Ueberfluß nicht?" Er sah sie lange und scharf an. Aber ihre Augen blieben klar, es war ein einfacher und naiver Gedanke von ihr ge- Wesen. Er drückte jedoch deutlich seine Lage aus. Und er rang nach einer Erwiderung, einem Selbständigkeitswort, wie ein Afthmaleidender nach Luft. Er meinte, er müsse sie hassen. Aber es lag noch ein Locken in ihr, es klang noch ein Si-ngen von ihr zu ihm. Die Tage behielten ihren Stachel. Philipp trug einen Stachel gegen sich selbst in sich und er richtete ihn nicht selten gegen die Algörienne. Sie stritten miteinander. Sie stritten und versöhnten sich. Du hast mich doch dahin gebracht ich verabscheue das und ich verabscheue Dich dafür." Du kannst nun Deiner Kunst leben!" Sie lachte hell auf. Meiner Kunst! Was ist das? Ich habe keine Kunst. Ich will keine haben!" Du brauchst nicht mehr in denCyrano" zu gehen," sagte er hart. Und wenn ich doch hingehen will?" So werde ich Dich zurückhalten." Sie stürzte auf ihn zu wie ein Raichtier. Ich würde Dich töten, wenn Du mich zurückhalten wolltest. Ich tue, was ich will. Heut abend gehe in in den Cyrano", damit Du's weißt. Heut abend und da werd ich tanzen. So wie ich will und wann ich will. Nicht wie ein Herr Regisseur will." Aber ich will es nicht. Ich verbiete es Dir!" Du verbietest es mir! Ich gehe hinunter auf die Straße und tanze nackt. Das verbietest Du mir. Ich stürze mich zum Fenster hinaus, wenn Du mir etwas verbieten willst." Du hast aber doch nun Deine Kunst!" lenkte er ein. Dumm!" platzte sie heraus. Und dann ganz unver- mittelt:Aber wenn Du eine andere nimmst, so kratze ich Dir die Augen aus. Und die andere die wird keine Nacht mit Dir verleben." Da blieb er ganz still und fühlte sich weit fern und wußte, daß er in einer fremden Welt sei bei einem fremden Menschen. Du gehst zuCyrano" heute abend?" fragte er nach einem schweren Stillesein. Sie fiel ihm an die Brust und küßte ihn und stammelte: Wenn Du's nicht willst nein ich geh nicht hin!" Und sie koste und schmeichelte und verfiel in ihre eigene Sprache dabei, in der alles so heiß und wild klang. Und schließlich bat sie:Nicht wahr, ich gehe doch in denCyrano"? Es ist Dir recht? Einmal, noch einmal nur, und nur, weil ich will!" Da gab er nach und gestattete es ihr, und sie vergrub seinen 'Kopf in ihre Arme und ihre Brüste und schluchzte vor Fieber und Gier. Ihn fröstelte. Langsam wand er sich ans ihren Armen. Dann sagte er:Kleine AlgSrienne, ich muß in mein Heimat­land zurückkehren. Aber ich werde wiederkommen. Und ich werde Dich wiedersehen. Du wirst in Glanz und Reichtum leben, wirst berühmt und gefeiert sein und eines Tages kommst Du über die Grenze und entzückst alle, die Dich sehen, und unser Volk wird Dir Triumphe be- reiten, wie sie die Pariser Dir bereiten, und Du wirst wie eine Königin sein und ich werde ein Bettler sein, so reich und glücklich, und ich werde fühlen, daß Du mich lieb behalten hast in all Deinen Erfölgen und Triumphen."__ Der starre Ausdruck ihres Blickes war allmählich von ihr gewichen. Ihre Mandelaugen strahlten: Ich werde eine Königin sein, und ich werde Dich holen und immer bei mir behalten." Er lächelte. Sie brach in Tränen aus.Aber nein, aber nein! Du gehst nicht, Du darfst nicht gehen und Du mußt inicht gehen." Sie brach stumm vor ihm zusammen. Ich höre in der Wüste die Schakale heulen. Das ist nicht gut, wenn ich die höre. Dann gibt's ein Unglück."- Sie schluchzte. Unsinn!" Sie sprang auf, verfiel in eine tolle Laune und tanzte. Ich brauche Dich nicht, ich will Dich nicht geh in Dein Heimatland. Ich tanze und lebe. Und ich verachte Dich. und verachte alle. Und heute abend gehe ich in denCyrano". Du gehst nicht mit? So gehe ich allein hin. Du langweilst mich." Dann streckte sie sich faul hin, bis sie's an der Zeit fand, aufzubrechen und ins Theater zu fahren. Philipp stand allein oben auf Montmartre  . Moulin de la Galette war beleuchtet, die Lichter der Avenue de l'Opsra zogen ihre helle Linie unten in der Stadt, die von hier oben aus dunkel lag. Sie war so laut, die Weltstadt, darum erschien es ihm hier so still. Ein Schutzmann besah ihn sich genau. Philipp lächelte. Er hätte ihn ruhig mitnehmen können es war ihm ganz gleich. Er stand dem Leben mit einer großen, kalten Gleich- gültigkeit gegenüber. Und er stand vor einem Entschluß. Das lag inimer auf ihm wie eine Zentnerlast. Am liebsten wäre er dem ausgewichen. Wenn etwas von außen käme, das ihm den Entschluß abnähme.... Aber es kam nichts. Und er maß noch einmal den Bogen seines Lebens ab. Er verlief ins Leere, er sank ins Leere zurück.» Und er hatte ge- wünscht und gewollt, daß er hoch aufsteigen möge. Was war's, das mangelte? Kraft? Mittel? Anlage? Oder war es dies Weib gewesen, das ihn gefesselt hatte und das ihn weiter fesseln würde? Von dem er sich frei rang, um sich nur fester an sie zu ketten. Vielleicht war's diese Leidenschaft gewesen, die ihn herunterzwang. Aber nun war er unten einerlei, was für Ursachen das hatte. Nun lagen die Ursachen hinter ihm, und er mußte rmten seinen Weg weiter gehen. Nun war er wieder ganz aus der Zieglergasse, ganz wie damals, da er ein Bub gewesen war: aber nun war er noch tiefer und geringer, weil er kein Bub mehr, sondern ein Mann war. Wenn nur der Entschluß nicht wäre! Aber er mußte sein. Er mußte sich nun frei machen von der Alg6ricnne, er mußte sie frei machen von sich. Sie bedrückte ihn, sie erdrückte ihn. Dazu hatte er aber keine Anlage. Wenn er zu allem Niederen und Geringen Anlage hatte, dazu hatte er keine. Und sie selbst sie war ihm nur noch Schale. Es fehlte ihr der Kern. Und er hatte doch nach dem Kerne in ihr gesucht, Sie hatte noch Verlockendes genug, war noch schön, wie am ersten Tage, hatte noch allen Zauber, wie bei der ersten Be- gcgnung. Er hat das Weib in ihr erlebt, die Leidenschaft des Weibes und die Wildheit ihrer Rasse: er war ihr dank- bar. Er hatte Schönheit in ihr erlebt und den gebenden Reich- tum der Leidenschaft: er war ihr dankbar. Aber er tonnte nun sich nicht in ihr erleben, er konnte sich nur verlieren an sie, nicht finden in ihr. Do war ihre Leere. Und da mußte für sie eine Leere einmal in ihr werden. Aber das wollte er nicht, er wollte nicht das Verdämmern und Verblassen. für sich nicht und für sie nicht. Ja, ihr Bild ihr Bild wurde er nicht los. Aber gerade darum. Warum sollte er es los werden wolle,? Es sollte seine glühenden Farben bellten, es sollte das Bild eines lebendigen Menschen bleiben und nicht das Bild'einer Puppe. Er belauschte sich selbst. War ein Egoist war er ein Sophist? Vielleicht beides. Aber vielleicht sind die Menschan immer beides. Und wenn er ganz ehrlich war: Er hatte nur nicht Mut genug zu seinem Entschluß, nur nicht Mut genug. zu tun, was er tun mußte, weil er sich fürchtete, es klar und unbedingt zu tun.