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Grau der Vorzeit noch abhebenden historischen Ueberlieferung liegen gar an die zehntausend Jahre zurüd. Denn weiter als sieben bis achttausend Jahre vor Christi vermochte bisher der Blid der geschichtlichen Forschung nicht rückwärts zu dringen, und ob es ihr überhaupt jemals gelingen wird, eine noch ältere Vergangen­heit zu entschleiern, das bleibt vorläufig eine ungelöste Frage. Aber der Menschengeist hat andere Wege gefunden, die ihn zurückleiten in die ferne Vorzeit; er hat die Verborgenheiten des Schoßes der Erde zum Licht der Sonne getragen und er hat ver­standen, die steinernen, fossilen und zu Staub gewordenen Zeichen ferner Epochen entwidelungsgeschichtlich zu deuten. Wilhelm Bölsche   hat in einem dieser Tage zu Berlin   gehaltenen Vortrag darauf hingewiesen, daß die Zeit, aus der wir auf geologischem Wege untrügliche Beweise einer frühen, menschlichen Kultur er­langt haben, wohl sicherlich um das dreifache weiter zurüdliegt, als die Zeit der fernsten historischen Ueberlieferung, daß wir die Spuren einer schon geradezu künstlerischen Kultur von Menschen gefunden haben, die vor dreißigtausend Jahren die Erde bewohnten. Es war jene Epoche, die die Wissenschaft als Diluvium bezeichnet, die Zeit, die der letzten Vereifung Mittel­ europas   folgte, die aber noch nicht der heutigen Ilimatischen Ge­ftaltung unserer Zone entsprach. Wohl waren die gewaltigen Gletschermassen schon wieder nach Norden zurückgewichen; aber auf den Grönland  - Typus unseres Klimas tvar erst die Steppenstaffage gefolgt, und gewaltige Sandstürme, ähnlich denen, wie sie noch heute fern im Osten in der Wüste Gobi   wüten, brausten über die Ein­öden Mitteleuropas  . Aber in diesen Steppen lebte bereits der Mensch, und es scheint, als ob damals zwei voneinander wesentlich verschiedene Rassen um die Herrschaft gekämpft haben. Die primi­tivere von ihnen war die Neandertalrasse; sie besaß den mehr tierischen Ausdruck der Physiognomie, die gewaltigen Augenwülste, das zurüdspringende Schädeldach und den schnauzenartigen Mund. Mit dem Neandertaler verglichen, stellt die Rasse, deren Vertreter man vornehmlich im Südwesten Frankreichs  , in der Dordogne  , fand, und die man nach den Hauptfundstätten gewöhnlich als Aurignacenser bezeichnet, die höhere Stufe der Entwickelung dar, denn diese Menschen besaßen schon einen schönen Schädel und ein gut entwideltes Kinn. Der ganze Körperbau ähnelte bereits durchaus dem des heutigen Menschen. Diese Aurignacenser gehören fulturell der älteren Steinzeit an. Die Metallbearbeitung war ihnen noch fremd; sie kannten auch die Töpferkunst nicht, und sie trieben weder Ackerbau noch hielten sie Haustiere. Mit untrüglicher Gewißheit geht das hervor aus den Hunden, die man im joge­nannten Magdalénien und im Solutréen gemacht hat, aus jenen prähistorischen Müllstätten, wenn man so sagen darf, die jene Menschen hinterlassen haben, und die uns der Schoß der Erde  Jahrzehntausende hindurch aufbewahrt hat. Die Aurignacenser lebten in Höhlen, aber sie fannten auch schon Zelte, und was das Verblüffendste ist: fie verfügten über eine fünstlerische Fertig­keit, die geradezu staunenerregend ist. 1895 grub man in der Dor­ dogne  , und zwar im Vézèrestal, das man wegen seiner schier un­erschöpflichen Ergiebigkeit geradezu ein prähistorisches Pompeji  nennen tann, enge, röhrenartige Schächte aus, die sich vielfach Hunderte von Metern weit in den Berg erstreckten, und die dereinst die Wohnstätten prähistorischer Menschen gewesen sein müssen. Denn diese Schächte und Höhlen ivaren zweifellos feit unvordent­ichen Zeiten verschüttet und verschlossen, und es ist nach dem ganzen Befunde auch ausgeschlossen, daß die kulturellen Ueberreste bon Menschen aus geschichtlicher Zeit stammen können. Man fand die Felswände diefer Höhlen mit bildnerischem Schmuck versehen, mit eingegrabenen Darstellungen von Tieren, namentlich von Wild­pferden, von Mammuts und Renntieren, die in historischer Zeit in jenen Gegenden erweislich nicht mehr vorgekommen sind, die aber im Diluvium Mitteleuropa   bevölkert haben. Staunenswert ist die geradezu naturalistische Auffassung und die fünstlerische Vollendung in der Wiedergabe der charakteristischen Linien der Tierkörper. Mit wenigen Strichen ist darin die Eigenart der Bewegungen der Tiere zum Ausdrud gebracht; auch die Kunst der Ornamentik und Stilisierung war diesen alten Bildnern schon nicht mehr fremd, tras nicht nur in den Figuren auf den Wänden, sondern auch in den aufgefundenen Gerätschaften zum Ausdrud kommt. So ent­deckte man Dolchgriffe aus Renntierhorn, die mit meisterhaft stili­fierten Tierfiguren in Schnitarbeit bedeckt waren.

Noch bewunderungswürdiger als diese Funde sind jedoch die Höhlenmalereien von Altamira, mit deren Entdeckung es eine eigene Bewandtnis hat. Schon im Jahre 1878 entdeckte Don Mar­zellino de Santuola in der Nähe seines Besizes in Nordspanien die Malereien in dieser Höhle, und da er kurz vorher auf der Pariser Weltausstellung prähistorische Funde gesehen hatte, so brachte er feinen Beobachtungen ernstes wissenschaftliches Interesse entgegen und machte die gelehrte Welt darauf aufmerksam. Aber mehr als zwanzig Jahre hindurch wurde Santuola nicht ernst genommen; er fonnte es nicht einmal erreichen, daß ein Anthropologe oder Geologe die Höhle in Augenschein nahm, und er starb, ohne daß die Wissenschaft von seiner Entdeckung Notiz nahm. Erst um 1900, als die wenige Jahre vorher im Vézèrestal gemachten Funde an der Tatsache, daß die Menschen der älteren Steingeit bereits über eine fünstlerische Kultur verfügt hatten, feinen Zweifel mehr zu­ließen, untersuchten zwei bedeutende Forscher, Abbé Breuil   und Emil Carteilhac die Höhle von Altamira, und was sie dort ent­deckten, übertraf alles, was man von jener fernen Epoche auch nur geahnt hatte. Sie fanden einen Felsjaal, der vierzig Meter lang

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und zehn bis vierzehn Meter breit war, desfeit Höhe aber ftellefte weise so gering wurde, daß ein erwachsener Mensch nicht aufrechs darin zu stehen vermochte, denn einzelne Stellen der Höhle find nur einen Meter hoch. In mühseliger Arbeit kopierten die beiden Gelehrten nun die außerordentlich kunstvollen Bilder, die von den Höhlenbewohnern dereinst auf die Felsdede gemalt und gemeißel worden waren. Diese Aurignacenser müssen maßlos geschickt gea wesen sein, finden sich doch Bildwerke gerade an jenen Stellen, die kaum höher als einen Meter sind und die nur hergestellt sein können, wenn der Künstler auf dem Rüden lag. Denn nach dem Befunde ist es ausgeschlossen, daß die Höhle vielleicht früher gea räumiger gewesen sein fönnte. Nur dem Umstande, daß sie schon in prähistorischer Zeit verschüttet und erst in unseren Tagen durch einen neuerlichen Einsturz wieder offen gelegt wurde, berdanken wir den unschätzbaren Fund. So aber haben sich selbst die Farben der Deckenbilder ausgezeichnet erhalten, und man staunt geradezu über die Meisterschaft, mit der jene primitiven Menschen springende Hirsche, galoppierende Eber, im Todeskampf liegende Moschuss ochfen wiederzugeben wußten. Alles an diesen Bildern ist meisters haft, dabei von der größten Knappheit in der Ausdrucksweise, die nur mit der naturalistischen Darstellungskunst verglichen werden kann, die die Menschheit der Kulturepochen meisterte. Fast noch bewunderungswürdiger als die Kunst selbst ers scheint die Schaffung der Möglichkeiten zu ihrer Betätigung. Denn es liegt auf der Hand, daß in der dunklen Höhle kein offenes Holzfeuer gebrannt haben kann, weil dann dem Künstler das Werk unter der Hand verrußt wäre. Aber man hat eine primitive Lampe gefunden, die aus einem ausgehöhlten Stein bestand, und in der noch Fettreste entdeckt wurden. Man fand auch kleine Büchsen, die aus Renntierknochen verfertigt und an beiden Seiten zu schließen waren. Es waren die Farbentuben der prähistorischen Maler, die, wie andere Funde zeugen, mif Oder und ähnlichen farbhaltigen Stoffen schon umzugehen wußten. Auch Pinselspuren konnten nachgewiesen werden furz, es fehlte diesen Künstlern vor dreißigtausend Jahren nichts Wesentliches von dem, was unsere modernen Freskenmaler zur Ausübung ihrer Kunst bedürfen.

Ueber den Zwed dieser Höhlenmalereien fönnen wir nur Vers mutungen äußern. Vielleicht bildeten die Höhlen einstmals Be­gräbnisstätten, die auf diese Weise ausgeschmückt wurden. Steht es doch fest, daß in der Vorzeit Wohnstätten von nachfolgenden Generationen zur Bestattung ihrer Toten verwandt, oder aber, daß Begräbnisstätten späterhin wieder von Lebenden bewohne wurden. Vielleicht dienten die Höhlen auch religiösem Kult, wofür es Analogien beispielsweise in den historischen Mysterien des Mithras   gibt, die gleichfalls in unterirdischen Höhlen abs gehalten wurden. Mag uns der Zwed jener fernen Kunst aber auch verborgen bleiben, wir wissen jedenfalls jebt, daß schon die vor 3Zehntausenden von Jahren versunkenen Geschlechter über eine Kunstfertigkeit verfügten, die turmhoch über den primitiven Leistungen der heute lebenden niedrigen Menschenrassen steht, und daß der Mensch der Eiszeit kein halbwildes Tier, sondern ein geistig hochentwideltes Wesen war, das im Kampf um seine Existenz auch schon künstlerischen Zielen nachstrebte.

Kleines feuilleton.

Literarisches.

Die Wahrheit über Erdmann Chatrian. Unter den zahlreichen zusammenarbeitenden Schriftstellerpaaren, die die Weltliteratur fennt, hat man als Musterbeispiel der siamesischen Zwillinge der Dichtung" neben den Brüdern Goncourt am häufigsten Erdmann- Chatrian angeführt, die beiden elsässischen Schriftsteller, deren meisterhafte Schilderungen der deutsch  - französischen Grenzlande, deren realistische Kriegsromane eine glückliche Vereinigung von deutschem Gemüt und gallischer Lebendigkeit des Sehens darstellen. Ueber die Art der gemeinsamen Arbeit der beiden war aber nichts weiter bekannt geworden, und man mochte wohl annehmen, daß sie etwa so gearbeitet haben, wie es uns von den Goncourts überliefert ist, nämlich daß jeder von beiden ein bestimmtes, vorher durch gesprochenes Kapitel felbständig ausarbeitete und dann eine Ver­schmelzung dieser beiden Niederschriften vorgenommen wurde. Dem ist aber nicht so. Wie Emile Hinzelin   in einem Die Wahrheit über Erdmann- Chatrian" betitelten Aufsatz der Revue ausführt, haben wir in dem Schaffen Erdmann- Chatrians gar nicht das Bei­spiel einer gemeinschaftlichen dichterischen Arbeit vor uns, wie es etwa die Brüder Goncourt oder die Brüder Rosny darstellen, sondern der eigentliche Verfasser all dieser innigen und schlichten Darstellungen des Lebens ist allein Erdmann. Hinzelin hatte Gelegenheit, mit Emile Erdmann, dem Poeten von Pfalzburg  ", ber 1898 gestorben ist, zu verkehren, und hat so einen tiefen Einblic in seine Arbeitsweise und die Art seines Schaffens gewonnen. Ueber die Entstehung seiner Romane, unter denen das von Mascagni   vertonte elsässische Idyll Freund Friz" und die prächtige Trilogie der Napoleonzeit die Geschichte eines Ausgehobenen von 1818", die Belagerung von Pfalzburg  " und" Waterloo" die bekanntesten sind, erzählte Erdmann selbst: Sobald ich mir einen Stoff gewählt hatte, ließ ich mir von meinem Pariser Buchhändler alle Werke nach Pfalzburg   schicken, die

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