ZlnterHaltmigsblatt des Horwärts Nr. 196. Dienstag, den 10. Oktober. 1911 (Nachdruck McBotett.T 28] Vor dem Sturm. Roman von M. E. L e l l e Grazie- lieber ihr kreiste ein Bussard, stand eine Weile still, hoch, hoch mitten in dieser zitternden Bläue des Mittags. Nun stürzte er förmlich herab, in das Schilf hinein, wo es am dich- testen war. Als er wieder emporstieß, trug er etwas Zappeln- des zwischen den Fängen und ein schriller Todcsschrei gellte über die Heide hin. So kommt es, so kommt es!" dachte die Annaliese. O, wie sie den Vogel haßte, der dort die zuckende Beute davon- trug. Den Vogel? Sie blieb steh'n, krampfte die Fäuste zusammen, sah mit einem Blick stierer Verzweiflung in die blaue Leere um sich. Warum sie nur bei allem an die Schweighütte denken inußte und an ihn!? Aber, freilich: auch er war so niedergestoßen auf sie. Wenn es nur sonst niemand weiß." tröstete sie sich und lief noch rascher dahin. Wieder sauste der Heidcwind an ihr vorüber, gespenstisch, leise, wie wesenhaft. Nichts und nie- mand war zu sehen, wohin sie auch blicken mochte und doch! Sie wurde sie nicht los, die wahnsinnige Angst, daß noch jemand mit ihr zugleich jetzt auf der Oedung seil Ganz unheimlich wurde ihr zu Mute. Wenn sie schon nichts sah, nichts hörte? Aber es war ja ein verfluchter Ort:Oedung Petrowitz !" Schon einmal waren hier Wehr- lose überfallen worden und Mädchen geschändet. Der Sün- derin ging die Sünde nach. Nein," besam? sie sich wieder.Ich klaub' nichts mehr ein! Nur die Schwinge hol' ich mir noch und dann lauf ich, lauf ich.... Und wenn ich den Wald hinter mir Hab'...." Das Blut in ihren Ohren begann zu sausen, der Schweiß stand in bellen Tropfen auf ihrer Stirn und perlte kribbelnd an den blassen Wangen nieder, nichts sehen, nichts hören! Und doch... immer wieder war ihr. als höre sie die Atem- ziige eines anderen wie sie kamen und gingen, mährend er da irgendwo saß und sie belauerte:Seht, die Annaliese!" Endlich stand sie am Ufer. Der Kahn lag ruhig am Pflock. Ein paar Schritte weiter hatte sie ihre Schwinge niedcrgestellt. Da, gleich rechts. Mit einem leisen Gewispel schlug das Schilf um sie zusammen.Schweighütte Schweighüttc", schien es wieder hinter ihr her zu raunen. Ach, was! Plötzlich stutzte sie.... Hatte sie das Rohr hier so zusammengetreten? Aber sie war ja bloß darin gestanden. und hier...» Mit einem Schrei fuhr sie zurück und schloß die Augen. Mitten aus dem Schilf und dicht neben ihrer Schwinge erhob sich eine zottige Gestalt, reckte den Stopf nach ihr, grinste sie an. mit einem Nicken..... No, Liesl... i hob' schon g'moant. i miiaßt' dir dein Körbl in die Sckchieiahütt'n nochitrag'n." Und der Unhold lachte auf. Nur ein paar dumpfe, gurgelnde Laute waren es. der Gefallenen aber schien es, als rolle ein Donner über die Heide hin. Der Birron. Hätte sich der Teufel selbst aus dem zottigen Schafpelz herausgeschält, ihr Entsetzen wäre nicht so groß gewesen. Dieser Mitwisser aber.... Und plötzlich wußte sie alles, alles, was sie getan hatte und was zu tun ihr noch übrig blieb. Denn das war ein Zeuge, der nie schweigen würde... nie, nie! Dazu war der Haß zu groß, den er gegen ihren Vater hegte: hegen mußte, wenn das Wahrheit war, was der Vater ihr so oft erzählt. Wieder schlug das dumpfe Lachen des Vagabunden an ihr Ohr. Diesmal fast ein Geröchel. Endlich guoll seine Schadenfreude wieder in Worte zusammen. Was half es, daß sie da stand noch immer mit geschlossenen Augen, wie jemand, der um keinen Preis sehen will? Ihre Ohren mußten hören, und was die hörten, sah sie, ob sie wollte oder nicht. Schau, schau... dös hätt' i mir nit trama loss'n.... Dozumol, wia dein' Dada Ortsrichtcr g'wcst is und wia s' mi. bei Enk einig'steckt hob'n; dozumol, wia i den Grofen sein Mensch d'rschoss'n hob'. Do hätt's dein Voda in d'r Hond g'hobt, mi ausz'loss'n. Grad nur a Weilerl hätt' er die Tür nit gar so fest zuariegeln soll'n, eh mi der herrschaftliche Drab og'holt Hot.... G'rod nur a Weilerl! Draußt wär' i q'west und in die Lokva eini, die domols nit weniger G'strüpp g'hobt Hot und Bam und die Bagaschi hätt' mi hint' uma hcb'n könna! So ober..." Sie fühlte, daß er näher herankam. Sein Branntwein« atem strich plötzlich heiß und fuselig über ihr Gesicht hin.... Woaßt, wos's hoaßt, im Zuchthaus g'wcst sein? Zeit- lebens zoag'n s' mit'n Fingern auf di! Von Ort zu Ort Hetzen s' di, wia a wild's Tier, dos si verkriacht, wo's g'rod an Unterschlupf sind't. Und wos hob' i denn gor so Schlecht's ton? Doß dein Voda so g'schwind bei der Hond g'west is, mit'n zuahelf'n? Dem Grof'n sein Mensch d'rschossen! Dem gnädig'n Herrn sein's der dein' Voda g'rod so g'schund'n Hot, wia d' ondern. Heunt wer woaß, ob i heunt nit a ehrlicher Kerl war', wann i dösmal auskämma war'. Ober nan, fest cing'riegelt Hot er mi. So fest, ols er könna Hot, dein Voda . Domit'n Recht jo koan Unrecht g'schiacht...." Birron!" flehte die Annaliese. Sic wagte es noch immer nicht, ihm ins Gesicht zu sehen. Aber ihre Hände falteten sich und hoben sich ihm entgegen. Ihr junger Leib erzitterte wie das Schilf hinter ihr. Jo," lachte er brutal auf.Und die Lieserl, die Hot dösmal a dabei sein müass'n! Obwohl s' erst a kloans, rotzig's Menscherl g'wcst is. Und Hot mi ong'schcangelt wia a wild's Tier. Woaßt no, wia schön i bitt' hob': Loß mi außa, du Kloane? Ober nan, mit van Schroa bist davon- g'rennt. Dösmal Host wohl g'inoant.'s war' weit und broat koan schlechterer Mensch auf dera Welt, ols der Birron? Und heunt?" Seine Stimme überschlug sich förmlich in dem wiehernden Hohngclächtcr, das ihm plötzlich aus der Kehle brach..... ,Wos moanst, wos i mir heunt' von Dir denk', no?" Birron?" Mit einem Schrei brach sie vor ihm ins Knie. Und während sich ihre Nngen weit öffneten, um mit einem einzigen, angststarren Blick d>icse ganze, grausame Wirklichkeit in sich auszunehmen, forschte sie händeringend: Wos wollt's toan, Birron?" Ein Blick hämischer Genugtuung ging über die Gc- brochene hin.Jo, wos moanst, daß i toan wir?" kollerte es wieder aus dem zottigen Fell hervor. Nix sog'n, nix sog'n... um God's will'n nit!" jagte sich Wort um Wort von ihren Lippen. ./Schau," lachte er aus sie herab. Und dann mit einem Blick voll grausiger Gemütlichkeit:No woaßt... wos i toan wir' oder nit toan wir' dös brauchst Du und sunst a neam'd z'wiss'n. Dös mocht jo enk d' Höll so hoaß, doß's nia wisi'n könnt's, tvo-Z unseroaner tuat oder nit tuat. Und dös bisserl Höll' hobt's um mi verdeant. Du und Dein Voda...." Birron!" flehte sie noch einmal, ihr Leib wand sich förmlich vor ihm. No woaßt," meckerte er nach einer Weile,wonn's m'r einfallet, kunnt' i irtzt a wos verlonga von Dir. Mit oan bist ja schon in der Schweighütt'n g'west. Und domols wia heunt wär' a Gavlicr mein Vorgänga g'tvest. Ober siag'st." Er spuckte über sie hin...G'rod' deß'twcg'n bist mir z'schlecht. Sogar mir! Na niochst Plötz?" Mit schweren Schritten stampfte er an ihr vorüber, aus dem Schilf hinaus. Birron!" verhallte es hinter ihm. Aber er sah nicht einmal mehr zurück. Schweighütt'n Schweighütt'n Schweighütt'n" ging's wieder lispelnd durch's Rohr. Wenn ich heimkomm', wissen's alle!" dachte die Anna- liefe.Alle!" Und dann würde es so hinter ihr hcrwispcln, wie jetzt im Schilf wo sie ging oder stand. Immer, immer ein ganzes Lctcn lang! Zuchthaus gab es keines dafür. Dafür nicht. Aber hatten die Menschen nicht Strafen auch für die. die frei herumgingen? Worte, die wie Peitschen drcinhieben und jeden Tag aufs neue ihr zuckendes Opfer trafen.Schweighütt'n Schweighütt'n Schweig- hiitt'n...."