Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 208.
401
Donnerstag den 26 Oktober.
( Nachdruck berboten.
Vor dem Sturt).
D.
Roman von M. E. delle Grazie.
Als der ruhige Denker, der er war, sagte er sich jedoch zuletzt, daß er auch in diesem Falle nicht seinen Gerechtigkeitsfinn verleugnen dürfe und so und so viele Indizien" so wenig ein Beweis seien, als seine traurigen Erfahrungen im Beicht stuhl ihn berechtigten, gerade in dieser Angelegenheit irgendein Präjudiz zu fassen. Und wär es auch nur vor Gott .
So wußten nur zwei, warum die Annaliese ins Wasser gegangen, ihr Verführer und der alte Zuchthäusler. Dieser aber ließ die Sache absichtlich noch eine Weile so hingeh'n. Er haßte den Grafen, haßte aber auch Jürh und war mit sich noch immer nicht im reinen, welchem von den beiden er das Schlimmere antat, wenn er die Wahrheit endlich an den Tag brächte. Nicht zuletzt aber betrachtete er dieses Wissen als eine Art Wechsel, den ihm dieser oder jerer einmal einlösen mußte. Der Graf fonnte natürlich mehr bezahlen. Doch, ob er auch bezahlen würde? Das war's! Er hatte die Macht, und wenn es ihm gefiel, fonnte er ihn vom Schloßhof prügeln lassen oder noch einmal ins Zuchthaus bringen. Jürn aber mußte um jeden Preis die Ehre seines toten Kindes schützen; diese Annaliese, der der Pfarrer eine so schöne Leichenrede gehalten! Er würde also nicht viel, aber doch immer wieder geben und dabei vielleicht auch nach der anderen Seite der Haß des alten Zuchthäuslers befriedigen. Den Bauer traf er bis ins Innerste mit der Schande seiner Tochter, und wie er Jürn fannte, hette er damit auch dem Verführer einen unversöhnlichen Feind auf den Hals. Er ober fonnte aus der Ferne lachend zujeh'n genau wie damals beim Fall der Annaliese.
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Das sagte er sich so vor in seinen nüchternen Stunden und fam doch nie zu einem rechten Entschluß. Wer weiß, vielleicht hatte er's doch nötig, fich gerade dazu einen tüchtigen Rausch anzutrinfen. Nur frauen sollten sie ihm nicht! Ihm nicht irgendwie über den Weg laufen zu irgendeiner unrechten Stunde weder der eine noch der andere! Noch gab es Augenblicke, in denen die ganze blutrote Wut des unseligen Tages, der sein Leben für immer vernichtet, seinen Blick verdunkelte. Und dann fonnte er auch sich selbst nicht trauen.
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Jüry ging unterdes wie ein Schlafwandler umher. Der Gedanke, daß seine Annaliese doch eigentlich seinetwegen den Tod gefunden, lastete wie ein Alp auf seiner Seele. Die Leute taten, als ob es bloß ein Zufall gewesen. Er glaubte es besser zu wissen. Gott hatte ihn gestraft, ihn und seinen Hochmut, der es versucht, das Joch abzuschütteln, das Gott ihm auferlegt. Nun hatte er seinen Willen, hatte der Herrschaft getrott, fich's am Kirchtag gut gescheh'n lassen zwischen den Seinen. Aber unser Herrgott war von der anderen Seite gefommen, wie er immer fam, und jetzt lag fein Kind dort droben auf dem Bauernfriedhof, um seine Schuld!
So lang die tägliche Arbeit in Haus und Feld seine Gegenwart notwendig machte, ließ er es an nichts fehlen, half die Kartoffeln ausgraben, das letzte Grummet einbringen, war überall mit und doch nirgends dabei. Nun war auch die farge Weinernte vorüber, die letzte Scholle umgepflügt, die Wintersaat ausgestreutes wurde tot und still auch für den Bauer. Für Jüry aber war die sonst mit Sehnsucht erwartete Ruhe, dieser Abendfriede der Erde, jetzt noch einmal jo schlimm.
Mit seiner Real fonnte er schon fast gar nicht mehr reden. Jedes zweite, dritte Wort gab einen Streit. Seine Alte hatte ja stets zu den Reichers" gehört und die Ruhe im Hause war nie ihr Verdienst gewesen. Nun aber hatte auch ihn die Geduld verlassen. Das gab ein schlimmes Hausen.
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Die weiten Buchenwälder um Schönbach und Lorowit beganner: sich zu färben, langjam zu entblöttern. Ernst und dunkel sah zwischen ihrem kahler Geäst der Schwarzföhrerstrich der„ Dedung Petrowiß" hervor. Von den morgens beeisten Schollen flatterten Raben und Krähen auf mit hungrigem Gefrächz. Aus den Wäldern schollen die einförmiger Rufe der Treiber. Der gnädige Herr hielt seine großen Jagden. Im Dorfe aber rüstete man zur stillen Feier der Toten.
Allerseelen...
1911
Resl hatte unter einem Strom von Tränen und Worten die letzten Astern aus dem Garten herbeigetragen und wand fie mit Immergrün und Efeu zu einem Kranz für Annaliesens Hügel. Jüry stand dabei, und wenn er an den Kranz dachte, den er voll Waterglück schon in den goldenen Flechten seiner bräutlichen Tochter gesehen, wollte ihm schier das Herz zerspringer. Aber er machte sich's mit keinem Worte leichter. Nur eines hatte er sich ausbedungen: den Kranz wollte er seiner Annaliese aufs Grab legen, er allein. Und niemand follte ihn dabei begleiten.
,, Monn," schrie Resl auf ,, Du wirst D'r am End' do nig ontoan woll'n?"
,, Doß mi der Teufel glei gonz holt?" lachte er düster. Na. So weit san m'r no nit. Soweit hätt'st höchstens Du mi' brocht!"
"? Grod i," eiferte Rest.
Ober Muida, beim Kronzflecht'n!" warf Rosala dazwischen. So kam es wenigstens diesmal zu feinem Streit, Jürg aber nahm den Kranz und schritt sinnierend dem. Friedhof zu. Wie es jetzt um ihn stand, war das just der rechte Weg. Denn er hatte ja nicht bloß sein Kind begraben. Noch manches andere hatte seine Annaliese mit sich hinabgenommen, was ihm heilig war und teuer, ihm als unantastbar gegolten hatte und wofür ihm nun weder ein Ersatz zurückfam noch eine Antwort... so wenig als aus dem Grab der Annaliese. Wenn er aber nicht bloß in sich hinein, sondern auch ein bißchen um sich sah, bemerkte er doch, daß es auch in der Welt ganz langjam anders zu werden begann. Die Blatt'in und Schrift'n", die der Sohn des alten Hilmer aus Wien schickte
in seiner schmutzigen Wäsche verborgen redeten in einer Sprache, die Süry noch vor einem Jahre als große Sünde empfunden hätte, als einen Aufruhr wider alles, was der Mensch nach seiner Meinung„ nit onrühr'n" sollte. Jetzt aber begann er diese. Sprache allmählich zu versteh'n, und was der alte Hilmer sich beim Predal" nicht laut vorzulejen traute, das holte sich zury nach dem Tagwerk in sein Haus hinüber und las und las, bis ihm die Augen übergingen. Aber sie gingen ihm auch auf dabei, und was ihm der frische Anhauch der Ferne nicht zutrug, rannte ihm die Nähe ins Ohr die Schwere seines täglichen Lebens und all das, was er bisher so stumm und geduldig ertragen, stumm und geduldig, so lang' er geglaubt, daß es immer so bleiben müsse, weil es immer so gewesen.
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Der Friedhof lag auf einem Hügel, zu dem man zwischen frisch gepflügten Aeckern jacht und beschaulich emporstieg. Blieb man auf dem langsam emborklimmenden Pfade stehen, fonnte man die ganze Ebene überschauen, weit, weit bis an die Polauer Berge. Nikolsburg grüßte im Sonnenuntergang mit blißenden Türmen herüber, breit und gemächlich zog die Straße nach Mühlfraun und Znaim zwischen den schlanken Pappeln hin.
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Unten im Dorf ging ein Werfelmann von Haus zu Haus, spielte Ländler und eintönige Volksweisen, deren Klänge in der reinen Herbstluft bis zu dem Einsamen emporfanden. Die lange nicht gehörte Musik riß seine Gedanken wieder zu jenem Kirchtag zurück. Auch damals hatte es so durchs Dorf getlungen, über Hecken und Zäune hinweg. Gottes Sonne war flar und goldig am Himmel gestanden. Jeder, den man traf, hatte gelächelt und seine Annaliese hatte noch gelebt! Ein dumpfes Geschluchze stieg ihm plößlich in die Kehle." Dös bob i nit toan soll'n; dös hob i nit toan soll'n. Wonn i dös nit ton hätt', lebet f' no heunt!" Seine Gestalt, sonst noch so männlich und aufrecht, froch plötzlich in sich zusammen. Da war ja niemand, der ihn sah; niemand, vor dem er sein Schuldgefühl verbergen mußte. Und doch und doch so heiß es auch in ihm wühlte, so tief es ihn zu Boden drückte, auch die Stimme der inneren Empörung war noch immer da wurde auch jest wieder laut.
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,, Bos hob' i Dir' son, daß D' m'r dös a no onton host?" Sier schluchzte er es zu seinem( Sott empor- allein mit ihm, allein mit sich.
Etn feiner Ton flang ihm entgegen. Es war der Wind, der über die Schollen lief, vom Freitho" herablief, wo er