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sehr gut, ist aber nicht imftande, fie auszusprechen; wohl aber ver­mag er die Gegenstände auf andere Weise, etwa durch Hindeuten, zu bezeichnen, da er den Inhalt der Worte sehr gut versteht. Das Wortverständnis ist ihm also nicht verloren gegangen, sondern lediglich das Sprach- oder besser das Sprechvermögen.

Die Kenntnis der Worte, das Wortverständnis, ist die zweite Bedingung für das Zustandekommen der Sprache. Wir müssen den Inhalt der Worte kennen, ihre Bedeutung im Gedächtnis haben, wenn wir sie zu Säßen zusammenfügen wollen. Diese Fähigkeit ist das Wortgedächtnis oder Sprachverständnis, das wir vorher er­wähnten. Es ist vom Sprachvermögen vollkommen unabhängig und an anderer Stelle im Gehirn lokalisiert, wie Wernice nach weisen konnte. Es befindet sich ebenfalls auf der linken Gehirn hemisphäre in der obersten Windung des Schläfenlappens, dicht bei dem allgemeinen Hörzentrum, von dem es einen besonderen Ab­schnitt bildet. Dem motorischen Sprachzentrum ist es gewisser­maßen übergeordnet, da es den Inhalt der Sprache umfaßt, wäh- zelnen rend ersteres nur die Sprachausübung leitet. Wenn diese Stelle der Hirnrinde von einem krankhaften Prozeß zerstört ist, so hören die Kranken die zu ihnen gesprochenen Worte, ohne sie zu ver­stehen. Das Zentrum für die Wahrnehmung der akustischen Sinnes­eindrücke braucht nicht zerstört zu sein, sondern nur das Zentrum der akustischen Erinnerungsbilder; eine Unterabteilung deffen ist, wie wir fahen, der Sitz des Sprachverständnisses. Wenn es zerstört ist, so ruft das gesprochene Wort feine Vorstellung, kein Erinnerungsbild hervor, das Wortgedächtnis ist verloren gegangen. Die Muttersprache klingt dem Kranten so, wie etwa dem Gesunden eine fremde Sprache, das heißt, wie ein unentwirrbares Stimm­gefüge, dem er keinen Inhalt entnehmen kann. Wenn das Ben­trum des Wortverständnisses, das dem motorischen Sprachzentrum gegenüber als sensorisches Sprachzentrum bezeichnet wird, allein zerstört ist ohne gleichzeitige Beteiligung des motori­schen Zentrums, dann vermag der Kranke Worte nachzusprechen, da seine Sprechmuskulatur nicht gehemmt ist. Er sagt die Worte mechanisch nach, ohne ihren Inhalt zu verstehen, gerade wie wir Worte einer fremden Sprache nachzusprechen vermögen, ohne ihren Inhalt zu kennen.

Teure Zeiten.

Die Teuerung, die jetzt auch im Reichstag Gegenstand der Debatten geworden ist, lenkt den Blick zurück auf die Notstands­zeiten des Mittelalters, von denen die zeitgenössischen Geschichts­schreiber so viel Trauriges zu erzählen wissen und die bei den in jenen Zeiten noch unvollkommen organisierten Verkehrsmitteln fast immer den Charakter einer ausgesprochenen Hungersnot annahmen. Auch in jenen fernen Zeiten, boni 8. bis 13 Jahrhundert, waren vor allem die ärmeren, arbeitenden Bevölkerungsschichten die Opfer der Teuerung; aber außer ihnen hatten auch zahlreiche Klöster, die die Hungernden nach Kräften unterstüßten, später oft selbst die bitterste Not zu leiden. Toch am furchtbarsten wurde immer das arme Volk in Stadt und Land betroffen. Es ist kein Wunder, daß hier schließlich die sittliche Widerstandskraft erlahmte und in ein­Landesteilen die Verzweiflung zur Menschen­fresserei trieb. Diese furchtbarste" Begleiterscheinung der Hungersnot, ein Rückfall in die Kulturlosigkeit grauester Ürzeit, ist geschichtlich einwandfrei beglaubigt. In Deutschland und Frank­ reich wird Menschenfresserei bis ins 12. Jahrhundert hinein be­zeugt; wir haben Nachrichten darüber aus den Jahren 793, 868, 869, 896, 1005, 1032 und 1146. Jm letteren Falle scheint es sich übrigens nicht mehr um eine weiter verbreitete Sitte, sondern um ein einzeln dastehendes Verbrechen zu handeln: es wird uns be­richtet, daß in Köln ein Mann das Fleisch ermordeter Menschen gekocht auf dem Markte zu verkaufen suchte. Um die Mitte des 12. Jahrhunderts, da die glänzendste Macht­entfaltung der Staufenkaiser begann, führt Otto von Freising , der Geschichtsschreiber der ersten Jahre Friedrich Barbarossas, Menschenfresserei in Notstandszeiten als ein besonderes Zeichen der Barbarei bei den slawischen Bewohnern der Ostküste an. Die grauenhafte Sitte wird später noch erwähnt 1233 in Libland, 1241 und 1242 in Ungarn während der Hungersnot, die auf die Einfälle der Mongolenborden folgte, 1277 in Steiermark und Kärnten , 1280-82 in Böhmen , 1315 in Livland und 1317 in Polen und Schlesien . Die darbenden Massen griffen natürlich zu allem, was eßbar erschien, um das nackte Leben zu fristen, und die zeitgenössi= schen Schriftsteller verweilen mit einer gewissen Vorliebe bei all dem Widerlichen, was da gegessen wurde.

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Bei geringen Graden von Warttaubheit, wie man den Zustand, der durch Verlust des Wortverständnisses eintritt, zweck­mäßig genannt hat, ist nur die Vorstellung, das Gedächtnis für ge­tvisse Worte verloren gegangen. So ist es vorgekommen, daß Kranke Die furchtbare Begleiterscheinung der Teuerung und Hungers­nur die Fähigkeit verloren haben, sich in einer bestimmten Sprache not waren länderentvölkernde Seuchen. Ueber die Art dieser auszudrücken, während sie das Sprachverständnis für eine andere Krankheiten lassen sich freilich keine näheren Angaben machen; die Sprache behielten und sich hierin auszudrücken vermochten. Andere Quellen sprechen nur allgemein von bibigem Fieber" und einem berloren die Kenntnis der Zahlen, das Verständnis für die Monats rätselhaften heiligen" oder auch höllischen Feuer", das als Fled­namen und dergleichen; man muß annehmen, daß solchen Sprach- oder Hungertyphus gedeutet wird. Ungeheuer ist die Zahl der störungen ein Hirnprozeß zugrunde liegt, der nicht das ganze Zen- Toten. Ueberall wurden Massengräber angelegt, z. B. in Prag trum des Sprachverständnisses umfaßt, sondern nur einen gewissen 1282 acht Gruben, jede zehn Ellen im Quadrat, angeblich mit einem Teil, in dem jene Vorstellungen als Erinnerungsbilder aufge- Fassungsraum für je 1000 Leichen. Wenn weiter berichtet wird, speichert waren. Auch bei Störungen des motorischen Sprach daß während der großen Hungersnot von 1316 in Erfurt 8100 zentrums braucht keine vollständige Aufhebung des Sprechvermögens Menschen in den Massengräbern bei dem Dorfe Neuschmidstädt be­einzutreten; die Kranken machen dann Fehler beim Aussprechen, stattet worden seien oder ganze Dörfer entwölfert wurden, so wird fie stolpern über einzelne Silben, berwechseln die Konsonanten, man solche Zahlen nicht mit allzu großer Skepsis abtun: ungeheuer weil sie ihren Sprachapparat, ihre Muskulatur nicht völlig in der schwoll in solchen Notzeiten die Bevölkerung der Städte durch den Gewalt haben. Soviel ist jedenfalls gewiß, daß die beiden Sprach- Zuzug von Flüchtlingen aus dem ganzen Lande an. Wenn dann gentren, die an bestimmten, uns jetzt ziemlich genau bekannten eine Seuche ausbrach, wurden die Menschen gleich legionenweise Stellen des Großhirns ihren Sitz haben, ganz verschiedene Funk- dabingerafft. Charakteristisch für die Notzeiten sind die mañen­tionen haben, daß das Zentrum des Sprachverständnisses mit dem haften Auswanderungen aus den Hungergebieten, eine Erschei­der Sprachausübung keine Gemeinschaft hat. nung, die schon Karl der Große in einer seiner Verfügungen er­mähnt. In den furchtbaren Teuerungsjahren 1280-82, die be­fonders über Böhmen hereinbrachen, zeigten sich von dort geflohene Scharen in Thüringen , Meißen und anderen Teilen Deutschlands ; 1317 kommen Leute aus Westdeutschland bettelnd bis nach Lübeck und in die Ostseeländer. Und in dieser Hinsicht haben die Hungers­nöte auch eine weltgeschichtliche Bedeutung: sie haben die Koloni­sation des deutschen Oftens und die Kreuzzüge mächtig gefördert. Im Gegensatz zu so manchen tumultuarischen Vorgängen der neuesten Zeit in Frankreich und Oesterreich hört man aus dem frühen Mittelalter fast gar nichts von Gewaltaften und Teuerungs­frawallen; eine dumbfe, hoffnungslose Gleichgültigkeit erscheint überall als die Grundstimmung der Maffen. Eine Ausnahme ist etwa folgender Vorgang, der von dem Jahre 1035 aus der Ge­schichte Triers berichtet wird. Bischof Poppo reitet eines Tages und verlangt Siffe. Geld, das der Bischof verteilen laffen will, mit großem Gefolge zur Kirche; ein hungriger Hanfe umringt ihn berschmähen die Armen; für Geld ist in diefen teuren Reiten wenig Bischof und einige feiner Begleiter müssen fich entschließen abzu­für sie zu kaufen; aber sein fettes Pferd verlangen fie. Und der steigen und ihnen die Tiere zu überlassen. Sofort hat der hungrige Saufe die Pferde zerrissen und verzehrt sie vor den Augen des Bischofs. In Straßburg fam ca 1294 fonor wirklich zum Aufs ftande, bei dem das hungernde Volt die Bäckerläden erbrach; die Maffen berubiaten sich erst, als die Bürgerschaft fofort torn ber­teilen ließ. Aehnliche Kleine Rutsche, die aber stets schnell unter­drückt wurden, werden aus Magdeburg ( im Jahre 1316), Fürsten­ feld ( 1271) und Prag ( 1282) berichtet.

Das Sprachverständnis führt uns zu den höheren Gehirn­funktionen, zum eigentlichen Intellekt und seinen Bestandteilen, Urteil, Kombinierfähigkeit, Gedächtnis, deren Lokalisation im Ge­hirn großen Schwierigkeiten begegnet. Wir sind heute noch absolut nicht imstande, irgendeine genauere Lokalisation dieser Gehirn­und Sinneszentren, wir haben aber doch mancherlei Gründe, auch und Sineszentren, wir haben aber doch mancherlei Gründe, auch für sie einen bestimmten, mehr oder weniger umschriebenen Siz im Gehirn anzunehmen und uns damit den freilich willkürlichen Spekulationen Galls auf naturwissenschaftlichem Boden wieder zu mähern. Wir kennen Psychosen( Geisteskrankheiten), bei denen in auffallender Weise das Gedächtnis verloren geht, während Urteil und Kombinationsgabe in hohem Maße erhalten sind; wir kennen andere Gehirnerkrankungen, die namentlich durch einen Stom­binationsdefekt ausgezeichnet sind, während umgekehrt das Gedächt­nis noch einigermaßen erhalten ist. Daraus müssen wir immerhin den Schluß ziehen, daß diese Funktionen einen anatomisch ge= trennten Sitz im Gehirn haben. Durch die genaue Bestimmung des Zentrums für das Sprachverständnis ist in der Lokalisation dieser Gehirnfunktionen ein wichtiger Schritt getan worden. Das Sprachverständnis, die Worterinnerung ist ein Teil des allgemeinen Gedächtnisses und damit gewiß den höheren Funktionen, dem In­tellekt anzugliedern. Jemand, dem das Sprachverständnis durch irgendeinen pathologischen Gehirnprozeß verloren gegangen ist, hat unzweifelhaft einen Intelligenzdefekt, wohingegen die Zerstörung des motorischen Sprachzentrums teinen derartigen Defekt bedeutet. Ein solcher Mensch kann sehr wohl imstande sein, Romane oder philosophische Abhandlungen zu schreiben, vorausgesetzt, daß seine Sonstigen Fähigkeiten dazu ausreichen, ebenso wie der sinnentaube Beethoven die erhabensten Klangtombinationen zusammenstellen

Tonnie.

Berantw. Redakteur: Richard Barth , Berlin .

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